Marco Civil da Internet: Brasilien erarbeitet Grundrechtekatalog für das Internet

Brasilien gibt sich gerade einen Grundrechtekatalog für das Internet. Wie in herkömmlichen Verfassungen sollen zunächst digitale Grundrechte definiert werden, bevor andere Gesetze diese einschränken können. Der Marco Civil wurde in einer öffentlichen und kollaborativen Debatte formuliert, die Chancen auf eine baldige Verabschiedung stehen gut.

In ihrem Text Die Netzpolitik der Regierung ist ein Desaster fordern Bernd Holznagel und Pascal Schumacher „Digitale Grundwerte“:

Die technischen, sozialen und kulturellen Spezifika des Netzes erfordern, die Grundwerte, wie sie in nationalen Verfassungen und internationalen Menschenrechtserklärungen enthalten sind, mit Blick auf die technischen und sozialen Veränderungen zu reformulieren. Gesucht wird eine zeitgemäße Interpretation, eine Ordnung digitaler Grundrechte.

Brasilien tut genau das mit dem Marco Civil da Internet. Der brasilianische Justizminister bezeichnet das Gesetz als „Internet-Verfassung“, Professor Pablo Ortellado als „das beste Internet-Gesetz der Welt“.

Was steht drin?

Der Marco Civil da Internet wird derzeit noch überarbeitet, die Arbeitssprache ist portugiesisch. Eine englische Version existiert nur mit dem Stand September 2011. Die einleitenden Absätze dieser Fassung in deutscher Übersetzung:

Artikel 1. Dieses Gesetz etabliert Grundsätze, Garantien, Rechte und Pflichten bezüglich der Nutzung des Internets in Brasilien und gibt Leitlinien zu diesem Thema für die Rechtsordnungen von Bund, Staaten, Städten und dem Bundesdistrikt von Brasilien.

Artikel 2. Internet-Gesetzgebung in Brasilien soll basieren auf:

  1. der Anerkennung des internationalen Charakters des Internets
  2. Menschenrechten und der Wahrnehmung der Bürgerrechte im digitalen Umfeld
  3. den Werten der Pluralität und Vielfalt
  4. Offenheit und Zusammenarbeit
  5. freier Marktwirtschaft, freiem Wettbewerb und Verbraucherschutz.

Artikel 3. Internet-Gesetzgebung in Brasilien hat die folgenden Grundsätze:

  1. Sicherung der Redefreiheit, der Kommunikationsfreiheit und der Freiheit des Denkens, in den Bestimmungen der Verfassung
  2. Schutz der Privatsphäre
  3. Schutz der persönlichen Daten, gemäß dem Gesetz
  4. Erhaltung und Sicherung der Netzneutralität, in Übereinstimmung mit weiterer Gesetzgebung
  5. Erhaltung von Stabilität, Sicherheit und Funktionalität des Internets, durch technische Praktiken kompatibel mit internationalen Standards, sowie Anreizen für die Nutzung von Best Practices
  6. Haftung von Akteuren entsprechend ihrer Aktivitäten, in Übereinstimmung mit dem Gesetz
  7. Erhalt des partizipativen Charakters des Internets.

Die Grundsätze, die durch dieses Gesetz definiert werden, schließen andere nicht aus, die durch die nationale Rechtsordnung oder internationale Verträgen entfaltet werden.

Artikel 4. Internet-Gesetzgebung in Brasilien hat folgende Ziele:

  1. Förderung des Rechts auf den Zugang Internet für alle Bürger
  2. Förderung des Zugangs zu Informationen und Wissen sowie die Teilnahme am kulturellen Leben und öffentlichen Angelegenheiten
  3. Förderung von Innovation und der Verbreitung von neuen Technologien und Modellen für Nutzung und Zugang
  4. Förderung der Einhaltung der offenen technischen Standards, die Kommunikation, Erreichbarkeit und Interoperabilität zwischen Anwendungen und Datenbanken erlauben.

In fünf Kapiteln werden zunächst individuelle und kollektive Rechte definiert, darunter das Recht auf einen Internet-Zugang, das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf Redefreiheit und aussagekräftige Internet-Verträge. Das Kapitel zu Providern und Inhalte-Anbietern setzt klare Prinzipien der Netzneutralität, verbietet Überwachung, Filterung oder Analyse von Internet-Verkehr (außer, wenn andere Gesetze das vorschreiben) und stärkt das Haftungsprivileg von Inhalte-Vermittlern. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit staatlichen Behörden und verankert transparente und partizipative Entscheidungsprozesse, Interoperabilität, offene Technologien, Standards und Formate, Bildungsprogramme und die Förderung von Kultur und Gesellschaft.

Leider steht auch eine Vorratsdatenspeicherung von Anschlussinhabern hinter IP-Adressen drin, auch wenn der größere Teil sich auf die Sicherheit und Zugriffshürden dieser Daten bezieht. Warum das drin ist, wird weiter unten erläutert.

Wenn der Marco Civil so verabschiedet wird, ist er ein brasilianisches Bundesgesetz, dass für private und öffentliche Einrichtungen sowie Einzelpersonen anwendbar ist. Die Inhalte wären rechtlich bindend vor Gericht einklagbar.

Vorgeschichte

Der Marco Civil entstand aus der Widerstandsbewegung zu einem sehr restriktiven Gesetz zur Computerkriminalität. Dieses 2008 vom Senat verabschiede Gesetz wollte File-Sharing, Peer-To-Peer-Systeme und Privatkopien kriminalisieren und Seiten wie Wikipedia, YouTube und Flickr für die Inhalte ihrer Nutzerinnen haftbar machen.

Dagegen formierte sich ein breiter zivilgesellschaftlicher Widerstand, darunter das Zentrum für Technologie und Gesellschaft der Getúlio Vargas Stiftung sowie Mega Não!, ein Zusammenschluss von Digital Rights Aktivistinnen und Wissenschaftlern, die sich für ein offenes Internet und Datenschutz einsetzen.

Mega Não! organisierte eine Petition gegen das Cybercrime-Gesetz, die über 165.000 mal unterzeichnet wurde. Nach öffentlichen Anhörungen machte die Regierung einen Rückzieher, das Gesetz trat nie in Kraft. Auch der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sprach sich auf dem International Free Software Forum im Juni 2009 gegen das Gesetz aus.

Gleichzeitig nahm er die Forderung der Zivilgesellschaft auf, dass man vor der Einschränkung von Rechten im Internet erst einmal Internet-Grundrechte definieren müsse. Dafür wurde ein öffentlicher und kollaborativer Prozess gestartet.

Werdegang

Die Idee für einen Marco Civil äußerte Professor Ronaldo Lemos, den wir vor zwei Jahren auch auf der re:publica als Speaker hatten, bereits 2007 in einem Artikel.

Im September 2009 startete dann das brasilianische Justizministerium gemeinsam mit Lemos „Zentrum für Technologie und Gesellschaft“ eine Online-Plattform, auf der die Öffentlichkeit über grundsätzliche Prinzipien eines Marco Civil diskutieren konnte. Bis Dezember 2009 gingen 800 Beiträge ein, darunter Kommentare auf der Seite, aber auch externe Postings in Blogs und auf Twitter, Artikel in klassischen Medien und Stellungnahmen von Gruppen und Einzelpersonen via E-Mail. All diese Beiträge dienten als Basis für einen ersten Entwurf des Textes.

Dieser Entwurf wurde Anfang April 2010 vorgestellt und konnte erneut auf der Seite bis Ende Mai kommentiert und debattiert werden.

Im September 2010 waren dann bundesweite Wahlen und der Präsident Luiz Inácio Lula da Silva wurde von Dilma Rousseff abgelöst, die beide in der Arbeiterpartei sind. Einschneidender für Netzpolitik war jedoch der Wechsel des Kulturministeriums von Gilberto Gil, der sich sehr für freie Software, freie Kultur und freie Lizenzen einsetzte, zu Ana de Hollanda, der Nähe zur Copyright-Industrie nachgesagt wird und die viele von Gils Projekten stoppte.

Anfang August letzten Jahres war dann auch das verhinderte Gesetz gegen Computerkriminalität wieder da. Das rückte aber auch den Marco Civil wieder in den Fokus, der Ende August in die Abgeordnetenkammer eingebracht wurde.

Dort steckt er aktuell immer noch. Wichtige Aktivisten der Debatte hoffen jedoch, den Marco Civil noch diese oder nächste Woche in der Abgeordnetenkammer verabschieden zu können. Sonst würde der Prozess erneut durch die anstehenden Wahlen im Oktober unterbrochen.

Danach muss das Gesetz noch durch die zweite Kammer des Nationalkongresses, den Senat.

Akteure

Verantwortlich für den legislativen Prozess des Gesetzes ist das Justizministerium, dessen Minister José Eduardo Cardozo von zivilgesellschaftlichen Akteuren als „sehr progressiv“ eingeschätzt wird.

Eine wichtige Rolle in dem Prozess spielen vor allem Banken und Polizeien. Banken waren auch treibende Kraft hinter dem Gesetz zur Computerkriminalität und setzen sich für eine Vorratsdatenspeicherung ein, mit diesen Mitteln wollen sie Betrug beim Online-Banking bekämpfen. Sie haben viel Geld und Ressourcen für Lobby-Arbeit. Auch die in Brasilien zahlreichen Polizei-Behörden pochen auf eine Vorratsdatenspeicherung.

Beteiligt sind außerdem Internet-Provider, die mal mehr, mal weniger progressiv auftreten. Die Copyright-Lobby ist ebenfalls aktiv, ihre Forderungen konnten bisher allerdings weitgehend erfolgreich aus dem Marco Civil herausgehalten werden.

Auf zivilgesellschaftlicher Ebene ist neben Einzelpersonen vor allem Mega Não! aktiv. Gewichtiger sind jedoch akademische Gruppen, die Hintergrund-Papiere verfassen und Lobby-Arbeit machen. Hier sind vor allem das Zentrum für Technologie und Gesellschaft von Ronaldo Lemos und das Institut für Kulturwissenschaft von Pablo Ortellado zu nennen.

Fazit

Die beteiligten Aktivisten bezeichnen den Marco Civil als ein sehr gutes Gesetz. Es hat kleinere Probleme, wie die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen, die man noch von einem auf ein halbes Jahr drücken möchte. Die gesellschaftlichen Realitäten in Brasilien geben aber anscheinend nicht mehr her.

Anscheinend sind die weitgehenden Datenschutz-Richtlinien schon ein Erfolg. Brasilianische Aktivisten sagen, dass es in der brasilianischen Öffentlichkeit eigentlich nur drei Gruppen von Menschen gibt, die ihre Privatsphäre schützen wollen: korrupte Politiker, Ehebrecher und Prominente.

Die Verfassung von Brasilien untersagt im Absatz zur Gedankenfreiheit gleichzeitig die Anonymität. Die Aktivistinnen wollen diese aber durch die Hintertür einbringen.

Alles in allem ist es ein progressives Gesetz, das vor allem komplett Bottom-up erstellt wurde. Wir wünschen unseren brasilianischen Freunden viel Erfolg für die Verabschiedung. Vielleicht dient es ja auch hierzulande als positives Beispiel, dass man Freiheiten auch mal definieren kann, statt immer nur einzuschränken.

6 Ergänzungen

  1. An sich eine schöne Idee und ein guter Ansatz, aber warum wird denn der Kapitalismus dort festgeschrieben?

  2. Bei mir hier in Aracati Majorlandia Praia Ceara Brasil sind die Brasilianer noch viel weit davon entfernt. Ich stehe unter ständiger Kontrolle und kann bei aktuellen Geschehnissen nur noch anonym schreiben.
    Neben mir Haus des Bürgermeisters, fast tägliche Diskussion. Thema wie: Der Deutsche muss in Portugiesisch schreiben, Internet ist Ceara. Andere Seite meines Hauses: der wird nicht auf der Strasse ermordet, aber wenn er zum Strand geht. Aber der hat zwei deutsche Schäferhunde – ah die werden gleich mit erledigt.
    Was ist der Grund? Ich vergleiche die Bundesländer Parana und Ceara, ich schreibe über die Kriminalität und Verhältnisse des Ortes.
    Dies alles will man mir verbieten, mit Hilfe örtlicher Politik, mit Hilfe einer gehirnwaschenden Sekte – neu bei der Kommunal Wahl Propaganda.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.