Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre frühere Chefin, Kanzlerin Angela Merkel, gelten als enge Vertraute. Dass sie nahezu täglich in SMS-Kontakt stehen, wie die Süddeutschen Zeitung vor einigen Tagen berichtet, erscheint plausibel: Immerhin ist Merkel für ihre SMS-Diplomatie bekannt. Zu besprechen haben die beiden mächtigsten Frauen Europas wohl einiges, von Europas Impfstrategie und Milliardenhilfen für die Wirtschaft über Klimapolitik bis hin zum Chaos in Washington.
Was Merkel und von der Leyen einander wirklich schreiben, wissen wir jedoch nicht und werden es vielleicht auch nie erfahren. Denn SMS und WhatsApp-Nachrichten gelten bislang in Berlin und Brüssel nicht als offizielle Dokumente, die zu den Akten gelegt werden und bei Informationsfreiheitsanfragen mit herausgegeben werden müssen. Daran änderte auch die alte Berliner Affäre um von der Leyens gelöschte SMS nichts, für die sich inzwischen die Justiz interessiert.
Informationsfreiheit nur für E-Mails?
Anders ist das bei E-Mails von Behörden und Amtsträger:innen. Die müssen grundsätzlich aufgehoben werden. Tausende Dokumente kommen so jedes Jahr ins Archiv, einige gelangen von dort an die Öffentlichkeit. Denn das deutsche Informationsfreiheitsgesetz und die EU-Auskunftsverordnung machen es im Prinzip allen Menschen möglich, amtliche Dokumente anzufragen und zu veröffentlichen. Das geht aber nur bei Dingen, die überhaupt im amtlichen Aktenarchiv landen.
In Brüssel laufen interne Abstimmungsprozesse unter Diplomaten längst über WhatsApp und andere Messenger. Was vor fünf Jahren bei einer griechischen Bailout-Entscheidung noch für Schlagzeilen über einen „Deal per SMS“ sorgte, ist inzwischen der Normalfall: Entscheidungsfindung in EU-Institutionen läuft über SMS und Messenger-Apps. Aus Sicherheitsgründen empfehle die Kommission ihren Beschäftigten für vertrauliche Inhalte inzwischen die sichere App Signal, heißt es von der Kommission.
Selbiges gilt auch für hochrangige Lobby-Interventionen. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Konzernchef von Ericsson die schwedische Außenministerin per SMS drangsalierte, Huawei Zugang zum schwedischen Markt zu gewähren. Der Fall macht deutlich: Für die Kontrolle von Lobbying ist es wichtig, zu SMS den gleichen Zugang zu bekommen wie zu E-Mails.
Bislang speichern die EU-Behörden überhaupt keine Kurznachrichten. Im Jahr 2019 landeten 14.796 Dokumente im Archiv der Kommission, davon keine einzige SMS und keine WhatsApp-Nachricht. Sogar wenn es solche Nachrichten geben würde, die abzulegen wären, fehlt es der Kommission nach eigenen Angaben an den technischen Möglichkeiten. Die „Software, die das Dokumentenregister verwaltet, müsste umprogrammiert werden“, antwortet die Kommission auf eine Anfrage von netzpolitik.org.
Ombudsfrau: Schlupfloch schließen
Die EU-Institutionen müssten das Schlupfloch bei SMS und Messenger-Nachrichten schließen, fordert nun die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly. Auch Kurznachrichten seien vom geltenden Recht klar abgedeckt und müssten aufbewahrt werden, antwortete O’Reilly auf eine Beschwerde von FragdenStaat.de. Das EU-Auskunftsgesetz gelte für „Inhalte unabhängig von der Form des Datenträgers“.
Auf Transparenz pocht auch der grüne EU-Abgeordnete Daniel Freund. Bürger:innen müssten Entscheidungen der EU-Politik nachvollziehen können, sagte Freund zu netzpolitik.org. „Die Bürgerbeauftragte hat recht: Wenn die Kanzlerin und EU-Kommissare per SMS regieren, sind das genauso Dokumente wie Papier und pdf. Um mit dem Vertrauen von 450 Millionen EU-Bürger*innen zu regieren, muss die EU den Mitgliedstaaten ein Vorbild an Transparenz sein.“
Auch in Deutschland streitet FragdenStaat.de vor Gericht für mehr Transparenz. Voraussichtlich dieses Jahr soll das Bundesverwaltungsgericht entscheiden, ob das Bundesinnenministerium seine Twitter-Direktnachrichten offenlegen muss. Die Transparenzorganisation hat in der Sache bereits vor dem Verwaltungsgericht Berlin Recht bekommen.
Die EU-Kommission antwortete zunächst nicht auf unsere Frage, ob und wann sie mit der Veraktung von SMS beginnen wird. Doch juristischer Druck könnte sie und die deutsche Bundesregierung auf kurz oder lang dazu bewegen. Als Probe aufs Exempel hat netzpolitik.org in Berlin und in Brüssel Anfragen nach dem SMS-Wechsel zwischen Merkel und von der Leyen gestellt. Bislang haben wir erstmal nur zwei blaue Häkchen erhalten.
Ich frage mich, ob es überhaupt machbar und sinnvoll ist, komplexe Regierungsprozesse samt Positionen in x mal 160 Zeichen zu packen. Die meisten kennen es doch aus dem Privaten: In einer SMS ist es nur schwer machbar, etwas näher auszuführen, zu erklären oder zu begründen.
Da sind Mail, Blätter und Co. imho weitaus geeigneter. Abgesehen davon gehören politische Vorgänge in Parlamente und Ausschüsse, wo sie jedermann und -frau nachvollziehen kann.
Abgesehen davon könnte man netzpolitische Widersprüche erkennen: Einerseits ist man dagegen, SMS und Telefonate zu speichern, andererseits soll das für Politiker gelten zwecks Transparenzerhaltung der Vorgänge.
Und wieder andererseits nehmen Politiker in Anspruch, über SMS Vorgänge zu entscheiden, die so nicht nachvollzogen werden können, der Bürger dagegen soll mit Hilfe etlicher Überwachungsgesetze durchsichtig sein wie Glas.
Wobei hier klar zu differenzieren ist. Es sollen ja nicht die privaten SMS/Telefonate/etc. der Politiker gespeichert bzw. eingesehen werden können sondern wohl nur dienstliche, wohingegen Überwachungsgesetze oft gerade auf private Kommunikation abzielen.
„Abgesehen davon könnte man netzpolitische Widersprüche erkennen: Einerseits ist man dagegen, SMS und Telefonate zu speichern, andererseits soll das für Politiker gelten zwecks Transparenzerhaltung der Vorgänge.“
das ist kein Widerspruch: die Devise lautet doch: *private Daten schützen, öffentliche Daten nutzen*. Was Regierungs- und EU-Kommissionsmitglieder („public servants“) im Rahmen ihrer Funktion SMSen und Whatsappen sind öffentliche Daten, die (ggf nach Ablauf entsprechener Schutzfristen) zugänglich zu machen sind.
Smn/Anonymous: Das ist zwar richtig, aber wie will man das trennen? Wer garantiert, dass „dienstliche“ SMS oder solche, die öffentliches Interesse generieren, nicht mit dem privaten Handy geführt werden? Dann müsste man das auch technisch trennen. Und es ist imho schwer zu bestimmen, wann eine Kommunikation von öffentlichem Interesse ist oder nicht. Ich vergleiche das mit einem Bundespresseball. Da trifft sich die Creme de la Creme der Politik. Ich möchte nicht wissen, welche Absprachen dort abseits vom Parlament getroffen werden – und die Öffentlichkeit wird vom eigentlich notwendigen Diskussionsprozess ausgeklammert.
Es ist schon erstaunlich, dass sowohl unser Innenministerium als auch die Geheimdienste schon seit langem digitale Nachrichten aller Art sammeln.
Bestimmt nicht, weil da total unwichtige Dinge darin stehen.
Wenn Parlamente, Journalisten oder wir Bürger die Regierenden kontrollieren wollen, kann es für diesen Personenkreis keine Ausnahme geben.
Sonst sollte diese Art der Kommunikation für die Regierenden und Parlamentarier verboten werden.
Man kann über dieses Verständnis von Amt und Öffentlichkeit nur noch mit dem Kopf schütteln. Und das sind dieselben Leuten, die den Bürger komplett überwachen und Zensur privatisieren.
Hier läuft etwas grundlegend schief. Regierungs- und Behördenhandeln müssen grundsätzlich transparent, Bürgerhandeln grundsätzlich geschützt sein. Nur in begründeten Ausnahmefällen darf ein gut eingerichteter Staat von diesem Prinzip abweichen.
Muss also jeder Amtsträger auf den Kern seiner Persönlichkeitsrechte verzichten, sobald er das Amt angenommen hat? Welche Persönlichkeitsstruktur muss dann wohl jemand haben, der ein Amt übernimmt? Ich würde einen solchen nicht wählen wollen!
Zum Kern des Persönlichkeitsrecht gehört das vertraulich gesprochene Wort, also die Kommunikation mit der Assistentin ebenso wie mit dem Chef wie mit dem Partner. Mit welchem Recht beansprucht jemand diese Kommunikationsinhalte? Auch die Kommunikation von Amtsträgern ist solange persönlich, als sie nicht vom Sprecher selbst öffentlich gemacht wird. Die Differenzierung zwischen private und dienstliche Kommunikation ist nicht sachdienlich, sie bleibt persönlich und unterliegt dem Persönlichkeitsrecht
Anonymous: Das ist grundsätzlich richtig. Das Individuum muss die Entscheidungsfreiheit darüber haben, was es einer anderen Person auf welchem Wege mitteilt oder nicht. Man muss aber unterscheiden zwischen komplexen, für den politischen Prozess relevanten Themen und solchen, die es nicht sind. Eine Mitteilung, die in einer SMS gesendet wird, dürfte in den allerwenigsten Fällen für die Öffentlichkeit interessant sein, selbst wenn sie von einem Politiker geschickt wird. Dagegen sind alle Wege, die zum Gelingen des demokratischen Prozesses beitragen – also in erster Linie politische Absichten, Diskussionen und Beschlüsse jeglicher Art, allein schon aus der Vorbildfunktion und Verantwortung für die demokratische Willensbildung seitens der Politiker äußerungsrelevant. Dabei spielt – vgl. mein Post oben – die SMS wohl eine untergeordnete Rolle.
Trotzdem wird von vielen Politikern seit über zehn Jahren zunehmend eine kommunikative Abschottungspraxis gegenüber der Öffentlichkeit betrieben – Beispiele: das im wesentlichen im Geheimen verhandelte TTIP-Abkommen; die in Windeseile fast ohne Diskussion beschlossenen Anti-Terror- und Überwachungsgesetze u. a.
Das ist nicht nur äußerst schädlich für die Demokratie, sondern auch hinsichtlich des hier diskutierten Artikels sehr unglaubwürdig.
Persönlichkeitsrecht ja, aber dann muss das auch für die Bürger gelten. Anstatt zu überwachen und Grundrechte einzuschränken, sollten Politiker als Vorbild echte demokratische Transparenz praktizieren – dann sind die paar SMS Nebensache.
@ Jedi Ritter
Ich verstehe Deine Zielrichtung, halte sie aber dennoch teilweise für falsch:
Eine „Vorbildfunktion“ gibt es nicht! Dahinter verbirgt sich eine unzulässige Grundrechtseinschränkung. Denn nur weil Du von jemandem ein Vorbild verlangst, soll er sie nicht ausüben dürfen? Abwegig.
Gerade die intrinsische Willensbildung muss der Öffentlichkeit verweigert werden. Erst mal muss sich der Amtsträger doch selbst eine Meinung gemacht haben, bevor er daran gebunden wird. Also muss ich Fragen, Thesen aufstellen und verwerfen, Antworten ausprobieren. Das ist Vorstufe der politischen Willensbildung und höchstpersönlich. Das darf nicht veröffentlicht werden!
Warum wohl betreiben Politiker „kommunikative Abschottungspraxis“? Weil jede Meinungsäusserung von den Medien sofort zum Skandal aufgepeitscht wird. Unsere Parlamente haben die Fähigkeit zum Handeln schon längst verloren, weil jede Absicht in der Öffentlichkeit sofort zerrissen wird. Erst wenn wir wieder faire Medien haben, kann der politische Willensbildungsprozess wieder anlaufen.
Persönlichkeitsrechte gelten für alle, auch für den Bürger. Eingriffe (Überwachungsmassnahmen) sind bei entsprechender Rechtsgrundlage zulässig. Das wird aber in den Diskussionen hier und anderorts gerne unterschlagen, und Du bist dem Irrtum unterlegen. Die Diskussion sollte nicht sei, ob ein Eingriff zulässig sit, sondern wann und wie.
Anonymous: Du verstehst nicht genau, was ich meine. Natürlich muss ein Politiker Fragen, Thesen etc. aufstellen und verwerfen, aber eben nicht losgelöst von der Öffentlichkeit. Damit meine ich primär nicht, dass jede kleine Äußerung (gleich) veröffentlicht werden muss. Warum haben denn Bürger in vielen Fällen das Gefühl, Politik schotte sich ab und sei intransparent? Weil die Gründe für Entscheidungen nicht genügend kommuniziert werden und Bürger es so wahrnehmen, als werde über sie und nicht mit ihnen im Dialog entschieden. Dass Medien oftmals nicht fair handeln, stimmt zwar; es ist aber auch und gerade ihre Aufgabe, Ansätze und Vorhaben der Politik kritisch zu hinterfragen und so als Mittler der Politik zur Öffentlichkeit zu fungieren. Mit einer „Grundrechtseinschränkung“ gegenüber den Politikern hat das nichts zu tun – das Politik transparent sein muss, ist Kern jeder Demokratie und eben der damit verbundenen politischen Willensbildung, die erst durch Rückmeldung seitens der Öffentlichkeit in einer Wechselbeziehung zustandekommt. Passiert das nicht, liefert das imho ausserdem den Nährboden für Verschwörungstheorien („die geheimen Zirkel entscheiden und wir sind ohnmächtig“). Nebenbei: Was verstehst du unter „intrinsischer“ Willensbildung? Der Satz „Denn nur weil Du von jemandem ein Vorbild verlangst, soll er sie nicht ausüben dürfen? “ ist vom Sinn nicht verständlich – meinst du, die eben beschriebene Vorbildfunktion hätte eine Grundrechtseinschränkung für Politiker selbst zur Folge? Wenn ja, dem ist nicht so.
Ja eben – Persönlichkeitsrechte gelten für alle. Die beschlossenen Gesetze der Vergangenheit lassen aber keinen Zweifel daran, dass das gewisse Politiker eben nicht so sehen. Da werden trotz fehlender Bestätigung der Wirksamkeit grundrechtseinschränkende Maßnahmen beschlossen samt „Rechtsgrundlagen“, die regelmäßig am BVfG oder dem EUGH scheitern. Ich wüsste nicht, worin ich da einem „Irrtum“ aufgesessen sein soll.