Staatstrojaner Pegasus in UngarnJustizministerin nennt EU-Untersuchung eine Farce

EU-Abgeordnete konnten bei einer Reise nach Budapest keine Vertreter:innen der ungarischen Regierung treffen. Die Justizministerin postete, sie werde die „von Soros finanzierte Aufführung der europäischen Linken nicht unterstützen“. Der Ausschussvorsitzende nennt die Situation in Ungarn „eine der schlimmsten in der EU“.

Eine Frau mit langen braunen Haaren und grauem Blazer, links hinter ihr eine Ungarnflagge und ein Gemälde
Judit Varga darf als ungarische Justizministerin die Überwachung in Fällen der nationalen Sicherheit abnicken. – Alle Rechte vorbehalten Imago / PAULO SPRANGER / Global Imagens

Die ungarische Justizministerin Judit Varga hat sich geweigert, EU-Abgeordnete zu treffen, die Anfang dieser Woche nach Budapest gereist sind. Die zehn Parlamentarier:innen arbeiten in einem Untersuchungsausschuss und wollten Hintergründe zum Missbrauch der Spionagesoftware Pegasus erfahren. Aus Ungarn ist bekannt, dass Journalist:innen, Politiker:innen und politische Aktivist:innen mit Pegasus ins Visier genommen wurden.

Doch Varga, deren Justizministerium die Überwachung abgesegnet hat, erteilte der Delegation eine harsche Abfuhr. Während die Abgeordneten am Montagmorgen in Budapest ankamen, ließ sie per Facebook-Post wissen, dass sie die Einladung nicht annehmen wird. „Der Montag beginnt mit einer Brüsseler Farce!“, schrieb sie. Der Ausschuss diene den Zielen der europäischen Linken und überschreite die Zuständigkeiten der EU. Daher sei die ungarische Regierung nicht zu einer Zusammenarbeit bereit. „Wir wollen die von Soros finanzierte Aufführung der ungarischen und europäischen Linken nicht unterstützen“, beendete sie ihren Post. Noch eine Ungarnflagge und ein Victoryzeichen, Ende.

Varga düpierte damit nicht nur öffentlich die Abgeordneten. Sie bedient auch eine in Ungarn seit langem etablierte Verschwörungserzählung. Der aus Ungarn stammende Milliardär George Soros wird von der ungarischen Regierung als Staatsfeind stilisiert. Er sei Strippenzieher einer Verschwörung, um die Regierung zu stürzen und Europa mit Migrant:innen zu fluten. Regierungskritische NGOs, aber auch die Europäische Union selbst sind laut dieser Erzählung „Agenten“ von Soros.

Zuvor hatte der Ausschuss-Vorsitzende Jeroen Lenaers (EPP) noch auf Twitter versucht, Varga zu einem Treffen zu bewegen. Er sei sicher, die Justizministerin sei „erfreut, uns zu treffen, ich habe aber noch keine Antwort oder Bestätigung erhalten“. Es klingt betont freundlich, so als habe Varga in ihrem vollen Terminkalender sicher bloß vergessen, den Parlamentarier:innen zu antworten. Dabei dürfte auch Lenaers klar gewesen sein, dass ein Treffen mit Varga unwahrscheinlich wird. Das EU-Parlament befindet sich derzeit auf Konfrontationskurs mit der ungarischen Regierung.

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Lenaers: „Eine lächerliche Aussage“

Auf der abschließenden Pressekonferenz am Dienstagnachmittag in einem Budapester Hotel hatte auch Lenaers keine warmen Worte mehr für Varga übrig. Auf die Frage eines ungarischen Journalisten nach Vargas Post erwiderte er: „Ich halte dies für eine lächerliche Aussage, eine verschwörungstheoretische Aussage, die für eine Regierungsbeamtin beschämend ist.“ Varga hätte nicht mal die Courage gehabt, ihm persönlich abzusagen, sondern habe stattdessen nur öffentlich gepostet.

Darüber dass Varga den konservativen Politiker als Teil einer linken Mission bezeichnete, konnten Lenaers und die ihn flankierende liberale Berichterstatterin aus dem Ausschuss Sophie in ‚t Veld sich noch kurz amüsieren. „So eine Anschuldigung kann ich nicht auf mir sitzen lassen“, lachte Lenaers, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Eine Regierung, die, anstatt sich auf demokratische Dialoge einzulassen, mit Verschwörungstheorien demokratisch gewählte EU-Vertreter angreift, das sagt eine Menge über diese Regierung aus. Das sind Regierungen, die kein Interesse an Kontrolle, an demokratischem Dialog haben. Das ist eine sehr bedauerliche Schlussfolgerung über den Zustand der Demokratie im heutigen Ungarn.“

Situation in Ungarn gehört zu „schlimmsten in der EU“

Über die vergangenen zwei Tage sagte Lenaers nur, sie seien dennoch aufschlussreich gewesen. Man habe zwar keine Vertreter der Regierung von Viktor Orbán treffen können. Dafür traf die Delegation den Vorsitzenden der ungarischen Datenschutzaufsicht, Attila Péterfalvi, der den Skandal im vergangenen Jahr untersucht hat, sowie einige Mitglieder der Parlaments und einen der betroffenen Journalisten, Szabolcs Panyi. Der Investigativjournalist von Direkt36 war Teil des Teams, das den Pegasus-Skandal im Sommer 2021 aufgedeckt hat. Laut Programm traf die Delegation auch Vertreter:innen der Menschenrechts-NGO Hungarian Civil Liberties Union, die Klagen von Betroffenen in Ungarn koordiniert.

Die Erklärung der Verantwortlichen, die Überwachung sei legal geschehen und eine Frage der nationalen Sicherheit, bezeichnete Lenaers als absolut unglaubwürdig. „Alles deutet darauf hin, dass Spionageprogramme in Ungarn in grober Weise missbraucht wurden, und ich finde die Erklärung der Behörden, die sich auf die nationale Sicherheit berufen, sehr wenig überzeugend. Vieles deutet darauf hin, dass die Menschen mit dem Ziel ausspioniert wurden, noch mehr politische und finanzielle Kontrolle über den öffentlichen Raum und den Medienmarkt zu erlangen.“ Er sei überzeugt, dass die Rechtsstaatlichkeit und die grundlegenden demokratischen Standards in Ungarn ernsthaft verletzt worden seien. Die Situation in Ungarn gehöre zu den schlimmsten in der EU.

Der Ausschuss arbeitet derzeit an einem Abschlussbericht, der im April vorgestellt werden soll. Darin wird er auch Empfehlungen aussprechen, wie die EU-Kommission Staatstrojaner wie Pegasus in Zukunft regulieren soll und unter welchen strikten Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit sie überhaupt eingesetzt werden dürfen. In einem vorläufigen Entwurf für den Bericht, den die Berichterstatterin Sophie in ‚t Veld bereits vergangenes Jahr vorgestellt hat, steht außerdem die Forderung nach einem Moratorium: So lange EU-Staaten wie Ungarn oder Polen bestimmte Voraussetzungen wie eine unabhängige Aufsicht und rechtlichen Widerspruch nicht etabliert hätten, sollen sie gar keine Staatstrojaner einsetzen dürfen.

Betroffene rätseln bis heute zu ihrer Überwachung

In Vorbereitung auf die Reise hatte der Ausschuss bereits am vergangenen Donnerstag zwei der Opfer der Spionageskandals angehört: den ungarischen Journalisten Dávid Dercsényi und den belgischen Studenten Adrien Beauduin. Beauduin hatte im Jahr 2018 als Doktorand im Fach Gender Studies an der damals in Budapest ansässigen Central European University studiert und war auf einer Demonstration gegen die Repressionen der ungarischen Regierung festgenommen worden.

Dercsényi arbeitete zum Zeitpunkt seiner Überwachung als Journalist beim Nachrichtenportal HVG, einem der wenigen unabhängigen Medien. In seinem Fall standen gleich drei Nummern auf der Überwachungsliste: sein privates Gerät, sein Arbeitshandy sowie das Telefon seiner Ex-Frau. Beide haben erst durch die Recherchen des ungarischen Journalisten Panyi im Jahr 2021 erfahren, dass sie mit Pegasus überwacht wurden.

„Nicht überraschend, aber dennoch beschämend“

Auffällig ist, wie wenig die Betroffenen bis heute wissen. Beide sagten, sie können bis heute nur vermuten, warum sie abgehört wurden, und zeigten sich erstaunt, dass die ungarischen Behörden überhaupt so viel Geld investierten und Aufwand betrieben haben, um sie zu überwachen. Dercsényi betont, er sei nicht mal Investigativjournalist, habe nicht zu Korruption oder anderen Vergehen der Regierung recherchiert. „Ich bin nicht so ein Journalist, was auch die Paranoia des Systems zeigt.“ Er vermutet, er sei wegen der Übersetzung eines Artikels über einen syrischen Terrorverdächtigen ins Visier geraten. Der Fall habe die ungarischen Behörden damals schlecht aussehen lassen. Doch mehr als vermuten kann er bis heute nicht. Niemand habe sich mit ihm in Verbindung gesetzt, es habe auch keine Entschuldigung gegeben.

Ungarn im Fokus des weltweiten Skandals

Der Staatstrojaner Pegasus kann aus der Ferne und unbemerkt auf Smartphones installiert werden. Ist das Gerät einmal infiziert, kann der Überwachende alles mitverfolgen, was darauf passiert, von Anrufen und verschlüsselten Nachrichten über Kalendereinträge, Videos oder Fotos.

Die Software wird vom israelischen Hersteller NSO Group laut eigener Aussage nur an staatliche Behörden verkauft und soll dazu dienen, schwere Verbrechen aufzudecken. Doch im Juli 2021 veröffentlichte Amnesty International gemeinsam mit internationalen Medien eine Reihe von Recherchen, die das Ausmaß des Missbrauchs zeigten, den Regierungen mit dem Staatstrojaner Pegasus betreiben. Schon in den Jahren zuvor hatten die Recherchen von Sicherheitsforscher:innen immer wieder gezeigt: In Staaten wie Mexiko, Indien, Saudi-Arabien oder Marokko stehen auf den Überwachungslisten oft politische Aktivist:innen, Oppositionelle und kritische Presseleute.

Ungarn war damals 2021 das erste Land in der EU, aus dem solch eine Überwachung der eigenen Bevölkerung bekannt wurde. Auf einer Liste mit rund 50.000 Telefonnummern, die mit dem Staatstrojaner ins Visier genommen werden sollten, standen mehr als 300 Nummern aus Ungarn – plötzlich stand eine vermeintliche Demokratie mitten in Europa in einer Reihe mit autokratischen Staaten. Inzwischen ist klar, dass auch die Regierungen in Polen, Spanien und Griechenland Staatstrojaner für weit mehr als Terrorabwehr eingesetzt haben. Jedes der Länder bekommt im vorläufigen Bericht der Untersuchungsausschusses ein eigenes Kapitel gewidmet.

Einige der ungarischen Nummern gehörten politischen Aktivist:innen, Unternehmern und Anwälten, die bei Orbán in Ungnade gefallen sind. Sogar der ehemalige Staatspräsident János Áder war über die Telefone zweier seiner Leibwächter indirekt unter den mutmaßlichen Opfern. Einige der Spähangriffe sind forensisch dokumentiert. In anderen Fällen konnte Amnesty International nicht mehr bestätigen, ob und wann die Telefone tatsächlich überwacht wurden, etwa weil Geräte in der Zwischenzeit weggeworfen wurden. Der Umstand, dass eine Nummer auf der Liste steht, heißt noch nicht, dass das Gerät tatsächlich mit Pegasus ausgespäht wurde, nur dass es als potenzielles Ziel galt.

Überwachung war legal

Die ungarische Datenschutzaufsicht hat die durch die Presse bekannt gewordenen Fälle im Jahr 2021 monatelang untersucht, kam aber lediglich zu dem Schluss, dass die Überwachung in allen Fällen rechtmäßig war. Es sei dabei um Fälle der nationalen Sicherheit gegangen. Der Pegasus-Ausschuss geht in seinem vorläufigen Abschlussbericht auf die Untersuchung ein: Eine unabhängige Aufsicht der Überwachung sei das nicht, da der Chef der Datenschutzaufsicht direkt von der Regierung eingesetzt wird. Auch auf der gestrigen Pressekonferenz betonte Jaroen Lenaers, es gebe einen Unterschied zwischen legal und legitim oder angemessen. „Legal bedeutet, dass es ein Gesetz gibt, das es abdeckt. Bedeutet das, dass es legitim ist? Ich glaube nicht.“

Auf Drängen der Opposition hat die regierende Fidesz-Partei außerdem zwei Anhörungen im Parlament abgehalten, unter anderem im Verteidigungsausschuss. Deren Vorsitzender Lajos Kosa hatte im November 2021 gegenüber Journalist:innen bestätigt, dass das Innenministerium Pegasus im Jahr 2017 vom Hersteller NSO Group gekauft hatte – es war die erste Bestätigung von Seiten der Regierung. Den Inhalt der Sitzung selbst hält die Regierung noch bis zum Jahr 2050 unter Verschluss.

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5 Ergänzungen

  1. Ich denke es ist dabei auch immer wichtig erwähnen, dass die Verschörungstheorien über George Soros massiv antisemitsch unterfüttert ist.

  2. Die Sache mit dem Pegasus-Trojaner wird zur Nagelprobe für die EU: schafft man es die Mitgliedsstaaten in die Schranken zu weisen und den Einsatz von solcher Überwachungstechnologie effektiv zu regulieren und kontrollieren, oder kommen doch die Grundrechte unter die Räder, damit das undurchsichtige „System Brüssel“ weiter so funktioniert wie bisher?

  3. Zitat: ‚Ungarn war damals 2021 das erste Land in der EU, aus dem solch eine Überwachung der eigenen Bevölkerung bekannt wurde.‘
    Das entspricht nicht der Wahrheit. Pegasus wurde schon im Jahr 2016 entdeckt und als Staatstrojaner identifiziert – inkl. den entsprechenden Medienberichten.
    Also wer dies erst 2021 mitbekommen hat, dass es so etwas wie einen Staatstrojaner gibt und auch noch glaubt, dass Regierungen diesen bis dato nicht eingesetzt haben, bei dem fehlen mir die Worte.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.