Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat heute ihre jährliche Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten. Darin setzt sie traditionell Schwerpunkte für die Politik des kommenden Jahres. Für von der Leyen ist es die letzte dieser Reden – zumindest, wenn sie ihren Posten nicht für weitere fünf Jahre übernimmt. Sie sprach eine lange Liste an digitalen Projekten der EU an, das geplante Gesetz zur Chatkontrolle (CSA-Regulierung) erwähnte sie aber nicht.
„Die viel kritisierte CSA-Regulierung ist in der Rede verdächtig abwesend“, sagte dazu Ella Jakubowska von der europäischen Digitalrechte-Gruppe EDRi zu netzpolitik.org. „Könnte das ein Beweis sein, dass die Europäische Kommission endlich auf die juristischen Einschätzungen mehrerer EU-Institutionen gehört hat, dass das Vorhaben nach EU-Recht illegal wäre?“ Zivilgesellschaftliche Organisationen hätten wiederholt darauf hingewiesen, dass das Gesetz auf einem fundamentalen Missverständnis von Technologie fuße.
Dem schließt sich auch Konstantin Macher von Digitalcourage an. Die beiden Organisationen haben heute, zusammen mit dutzenden anderen, einen offenen Brief zum Thema an die Kommission geschickt. „Von der Leyen hat über die Lage der Europäischen Union gesprochen, aber verschließt die Augen vor der Realität“, sagte Macher nun zur Rede von der Leyens.
„Die Lage ist ernst: Mit der Chatkontrolle gefährdet die EU-Kommission die Sicherheit von Millionen Menschen in der EU“, so Macher weiter. „Jetzt müssen die EU-Mitgliedstaaten die Reißleine ziehen und ihr Überwachungspaket stoppen.“ Die EU-Kommission antwortete nicht auf eine Anfrage von netzpolitik.org, ob das Fehlen des Vorschlags in der Rede eine besondere Bedeutung hatte.
Vorreiter für Online-Rechte, mehr Befugnisse für Frontex
Von der Leyen konzentrierte sich stattdessen auf die zwei großen Plattformgesetze der Kommission, den Digital Services Act und den Digital Markets Act. Diese würden Fairness gewährleisten und einen sicheren digitalen Raum schaffen. „Das ist eine historische Errungenschaft, und wir sollten stolz auf sie sein“, sagte die Kommissionspräsidentin in Straßburg. „Wir haben den Weg für den digitalen Wandel geebnet und sind weltweit Vorreiter bei den Online-Rechten.“
Gleichzeitig forderte sie für den Migrationsbereich neue Rechtsvorschriften und eine neue Führungsstruktur. „Wir brauchen eine strengere Anwendung des Gesetzes, strafrechtliche Verfolgung und mehr Befugnisse für unsere Agenturen – Europol, Eurojust und Frontex.“
KI-Gesetz noch nicht abgeschlossen
Zum Thema des Jahres, der Künstlichen Intelligenz (KI), zitierte von der Leyen einen Aufruf, den unter anderem OpenAI-Chef Sam Altman und Ex-Microsoft-Chef Bill Gates unterzeichnet haben: „Die Verringerung des Risikos, dass die KI zum Aussterben des Menschen führt, sollte neben anderen gesellschaftlichen Risiken wie Pandemien und Atomkriegen eine globale Priorität darstellen.“ Es gebe immer weniger Möglichkeiten, KI in verantwortungsvolle Bahnen zu lenken.
Die EU arbeitet dafür gerade an ihrem AI Act. Momentan befinden sich Kommission, Rat und Parlament in den Trilog-Verhandlungen, in denen die drei Institutionen ihre verschiedenen Entwürfe auf einen gemeinsamen Nenner bringen müssen. Dabei gibt es Befürchtungen, dass die Entwürfe von Parlament und Rat KI-Unternehmen ein Schlupfloch bieten könnten, die Bestimmungen für Hochrisiko-Systeme zu umgehen. Der AI Act wird aber, abgesehen von China, das international erste große KI-Gesetz sein – die USA sind bei der Regulierung ihrer Digitalindustrie weiterhin politisch gelähmt.
Von der Leyen sieht hier eine ähnliche Vorbildfunktion wie mit der Datenschutz-Grundverordnung, die weltweit als Blaupause für Datenschutzgesetze diente. Das sei der AI Act auch bereits, sagte sie. Er müsse nun so schnell wie möglich fertig werden.
EU muss sich verteidigen, andere bitte nicht
Nicht ganz eindeutig äußerte sich die Kommissionspräsidentin zum Handel. Hier kündigte sie einerseits an, eine Untersuchung chinesischer E-Autos starten zu wollen, weil diese gegen den fairen Handel verstoßen würden. Das könnte dazu führen, dass die EU Strafzölle auf die Autos erhebt. Sie habe auch nicht vergessen, wie chinesische Konkurrenten die europäische Solarindustrie vom Markt verdrängten. Europa müsse sich gegen unfaire Praktiken wehren.
Andererseits setzt sich die EU im Rahmen der E-Commerce-Verhandlungen, die seit Jahren bei der Welthandelsorganisation laufen, für ein dauerhaftes Verbot auf digitale Zölle ein. Viele ärmere Länder wehren sich gegen dieses mögliche Verbot, weil sie ihre wachsenden Digitalindustrien gegen die gewaltige Übermacht US-amerikanischer und chinesischer Tech-Riesen schützen wollen. „Schlauer Handel schafft gute Arbeitsplätze und Wohlstand“, wie von der Leyen heute sagte. Die WTO-Verhandlungen zu E-Commerce erwähnte sie ebenfalls nicht.
„Könnte das ein Beweis sein, dass die Europäische Kommission endlich auf die juristischen Einschätzungen mehrerer EU-Institutionen gehört hat, dass das Vorhaben nach EU-Recht illegal wäre?“
Wohl kaum. Es handelt sich um eben jene EU Kommission, die meinte, mit einer denkfaulen Umbenennng von Safe Harbour in Privacy Shield ohne relevante inhaltliche Änderungen durchzukommen. Die EU Kommision, die es unreflektiert ein drittes mal – erneut ohne die grundlegenden Probleme zu adressieren – versucht. Das offensichtliche Kalkül: Bis zu Schrems-III werden erneut ein paar Jahre vergehen. Dann gibt frau sich erstaunt und blickt verständnislos auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH).
Das Thema Chatkontrolle wäre bei dieser Rede von Frau von der Leyen deplaziert gewesen. Die Sache ist eigentlich ein totes Pferd.
Ungarn und Polen wurden aus gutem Grund nicht erwähnt, weil eine weitere EU-Erweiterung im Balkan ansteht, die nicht ohne Reform der EU-Verträge verwirklicht werden kann. Ganz zu Recht hat Frau von der Leyen dabei auf geopolitische Erfordernisse hingewiesen. Bei dieser anstehenden Reform wird wohl das Einstimmigkeitsprinzip fallen. Damit dürften Probleme mit Polen und Ungarn geringer werden. Die Rede muss als eine Art von Bewerbungsrede gewertet werden, die an die Regierungschefs der Mitgliedstaaten gerichtet ist.
Wer sich erinnert, mit welche Quärelen Frau von der Leyen ins Amt kam, der dürfte verstehen, wie der Hase läuft. Es dürfte ähnlich schwer werden, sich auf jemanden anderen zu einigen, und deshalb wird Frau von der Leyen eine bevorzugte Kandidatin sein, auf die gerne zurückgegriffen werden wird.
Sicherlich hätte das eine oder andere besser laufen können, aber in einer kritischen Gesamtbetrachtung war die Amtszeit, auch angesichts bewältigter Krisen, durchaus erfolgreich.
Was ist Erfolg?
– Irgendwer überlebt es?
– Es hätte schlimmer kommen können?
– Unter Übergehen von Differenzierung auf irgendwas was geklappt hat fokussieren?
– Unter Nichtberücksichtigung der Frage, was sie schlimmstenfalls hätte kaputtmachen können, Loorbeeren verteilen?
– Auslassen, was schief lief?
– Auslassen, was böse ist?
So manche besungenen „Errungenschaften“, von wem oder was auch immer, sind nichts wert, wenn man betrachtet, was tatsächlich getan wurde. Oder anders gefragt: welchen Anteil hat „eine Amtszeit“ an dem, was „irgendwie ganz erfolgreich“ verlaufen sein soll.