Ein Haus in Meck-Pomm
Da ist dieser riesige, rote, bewohnbare LKW, der schon Sibirien, Patagonien und Iran durchquerte. Im Mai rollt er einen betonierten Feldweg in Mecklenburg-Vorpommern entlang. Der nächste Supermarkt ist 10 Kilometer entfernt. Im Fahrerhaus sitzen drei Redakteure von netzpolitik.org, und noch einer sitzt im Wohnbereich. Wir mussten den Standort per GPS-Koordinaten an das Team senden. Das Ziel ist ein Haus in einer Straße ohne Nummern. Ein sehr schönes Haus sogar. Die Treppe hinauf geht es zu sehr eigenwillig eingerichteten Zimmern. Keines gleicht dem anderen. Das ist der Ort unserer Klausurtagung. Er passt perfekt zu uns.
Hier sehen wir uns endlich alle wieder. Zwei Jahre nach dem letzten Transparenzbericht über eine Klausurtagung, die nicht stattfand, schweifen wir in die Ferne, um uns nahezukommen. Diese Klausurtagung ist noch aus einem anderen Grund etwas Besonderes. Daniel Leisegang traf uns alle zusammen zum ersten Mal außerhalb eines Bildschirms. Ab August bildet er zusammen mit Anna Biselli unsere neue Chefredaktion. Ein intensiveres Kennenlernen ist wohl kaum möglich. Er hat den Arbeitsvertrag dennoch unterschrieben.
Das Team „Einkaufen und Logistik“ trudelte zuerst ein. Alles verstauen. Feststellen, dass der Kühlschrank viel zu klein ist. Noch schnell in den Getränkemarkt. Passt die Verpflegung – drei Tage, fünfzehn Personen – in einen Ford Fiesta? Im Auto sind bereits drei Flipcharts, drei Menschen und ihr Gepäck. Schweißperlen. „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Man muss Rückspiegel nur für überflüssig halten.
Unter Freund:innen
Wenige Stunden später waren alle da. Zum Start gab es Impulsvorträge über unsere Position in der Welt. Wir besprachen, wer um uns herum in ähnlichen Gefilden aktiv ist und ähnliche Themen bearbeitet. Sowohl das journalistische als auch das NGO-Umfeld von netzpolitik.org hat sich in den letzten Jahren stark erweitert.
Wir sehen das nicht als Wettbewerb, sondern überlegen uns, wer Verbündeter sein kann, wo Kooperationen möglich sind. Erst einmal ist keine NGO eine Konkurrenz, sondern eine Bereicherung in einem gemeinsamen Feld mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Perspektiven.
Was hat netzpolitik.org bisher ausgezeichnet und wo soll die Reise hingehen? Wir jonglierten mit nautischen Metaphern. Vom Kanonenboot übers Radar bis hin zum Tanker war alles dabei. Daraus ergaben sich grundsätzliche Fragen: Wie viel Berufung und gemeinsame Werte brauchen wir, um den Kurs festzulegen und ihn zu halten?
Beruf oder Berufung
Für viele im Team ist der Job eine Berufung. Bei mir ist das etwas anders. Ich glaube, dass man auch dann einen sehr guten Job machen kann, wenn man diesen Job nicht für das Wichtigste im Leben hält. Mir ist es wichtig, meinen Job so gut zu machen, wie es mir möglich ist. Das könnte für Netzpolitik sein oder auch für einen anderen gemeinnützigen Zweck. Wenn allen im Team der eigene Job über alle Maßen wichtig ist, kann es explosiv werden, denn dann sind Kompromisse schwierig.
Auch ich bin manchmal nicht zu Kompromissen bereit. Zum Beispiel bin ich völlig kompromisslos, wenn jedes dahergekommene Reisgericht „Risotto“ genannt wird. Da steigt der Puls. Oder wenn jemand die Zutaten einer Salat-Vinaigrette direkt in den Salat schüttet. Das macht es den Zutaten unmöglich, sich gleichmäßig zu verteilen, geschweige denn zu emulgieren.
Wie findet unser Team Kompromisse? Das haben wir uns Mecklenburg-Vorpommern gefragt. Bei netzpolitik.org führt uns die gemeinsame Leidenschaft für eine Sache immer wieder zusammen. In dem Haus in Mecklenburg-Vorpommern haben wir im Mai noch eine andere, gemeinsame Basis gefunden. Es war der Vorraum einer Sauna.
Päckchen loswerden
Es ergab sich am Abend des zweiten Tages, das mit den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet wurde, was seit viel zu langer Zeit auf der Seele brennt. Es gab mal eine schöne Szene bei Grey’s Anatomy. In der Krankenhausserie haben sich ständig alle bei einer Person über etwas beschwert, bloß nie dort, wo man auch etwas hätte ändern können. Die Person, die sich all das anhörte, entschied dann, dass sich alle zehn Sekunden lang auskotzen dürfen – aber danach müssen sie das Thema dort ansprechen, wo es hingehört. So ähnlich haben wir das gemacht, im Vorraum der Sauna in Mecklenburg-Vorpommern. Nur ohne Zehn-Sekunden-Grenze.
Räume möglich machen, auch dafür gibt es Klausurtagungen. So wie moderne Stadtarchitektur das kostenfreie Verweilen im Öffentlichen häufig erschwert, so erschwert der Büroalltag, einfach mal alle aufgestauten Irritationen, Konflikte, Missverständnisse und Visionen anzusprechen. Dabei kann es so leicht sein. An diesem Abend im Sauna-Vorraum wurde viel gelacht, aufgelöst, zusammengedacht. Dafür brauchte es einen Ort, der gedanklich unbesetzt war.
So einen Ort haben wir uns nach der Klausurtagung auch in Berlin geschaffen. Und nein, wir haben uns keine Sauna in die Redaktion gebaut. Mittlerweile machen wir alle drei Wochen eine Retrospektive, in der wir ohne Kommentierung erzählen, was gut lief, was nicht so gut lief, was geeignete Mittel für eine Lösung sind. Und das klappt ziemlich gut. Päckchen loswerden, die man mit sich herumträgt, das haben wir mitgenommen aus dem Haus irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Denn eines ist klar: Wir machen hier etwas Einzigartiges und Wichtiges. Und alles, was da stört, muss schnell aus der Welt. Das macht es leichter, unsere volle Kraft für die Verteidigung von digitalen Grund- und Freiheitsrechten aufzuwenden. Denn diese Straße hat keine Hausnummern und kein Ende.
Die harten Zahlen
Letztes Jahr im Mai wurde es ernst. Wir hatten die IT und die Finanzen ausgebaut. Wie wir heute wissen, war das eine sehr gute Entscheidung. Jocca und Tina machen einen großartigen Job und bereichern netzpolitik.org auf so vielen Ebenen. Jocca ist ein Mediations- und Moderationstalent und bringt unsere Meetings auf ein neues Level. Tina brennt für netzpolitik.org und kann nicht nur Zahlen, sondern auch Texte. Sie hat für uns auch die Kunstauktion im Dezember an Land gezogen, die knapp 30.000 Euro einbrachte.
netzpolitik.org lebt von den Menschen, die hier sind. Dieses Team zu halten ist unser großes Anliegen für 2022. Aber es liegt noch ein ordentlicher Weg vor uns. Im Mai 2022 gab es einen kleinen Dämpfer: Wir erhielten 47.000 Euro Spenden. Das sind zwölf Prozent weniger als im Vorjahresmai. Die Zahl liegt unter dem monatlichen Durchschnitt. Dennoch: Unterm Strich haben wir in diesem Jahr bislang 5.000 Euro mehr Spenden erhalten als im selben Zeitraum ein Jahr davor. Das zeigt, wie wichtig die vielen kleinen Spenden von vielen Einzelpersonen sind, denn sie federn vieles ab.
Auf der Ausgabenseite gibt es nicht viel Neues. Wir sind in den letzten Zügen der Organisationsentwicklung (5.104 Euro). Diese Kosten werden mittelfristig also wegfallen oder deutlich geringer. Zudem konnten wir uns von der externen Finanzbuchhaltung nun vollständig lösen. Tina hat alles zu uns überführt, und über unsere funktionierende Softwarelösung sind wir sehr glücklich. Nicht viel ändern lässt sich an den fixen Ausgaben für Personal (66.572 Euro), Miete (4.337 Euro) und Server/Infrastruktur (1.623 Euro).
Am Ende des Monats gab es Ausgaben in Höhe von 84.598 Euro, sie standen Einnahmen in Höhe von 47.378 Euro gegenüber. Wir müssen diese Lücke mittelfristig wieder schließen und haben uns dafür einiges überlegt. Natürlich hoffen wir, dass unsere Artikel und Recherchen das stärkste Argument für Spender:innen sind. Nach wie vor spenden durchschnittlich 4.000 Leute pro Monat, während uns schätzungsweise 80.000 Menschen täglich Paywall-, werbe- und trackingfrei lesen. Und es soll auch so sein, dass alle unsere Inhalte für alle Menschen zugänglich sind.
Wenn euch ein Artikel in diesem Monat besonders bewegt oder interessiert hat, freuen wir uns über jede Unterstützung. Vielleicht hat euch ja ein Link zu uns geführt. Denn – und das freut uns sehr – wir werden immer wieder bei anderen Nachrichtenmedien zitiert.
Wir bei anderen im Mai 2022
- Welcher Zweck welche Mittel heiligt, das ist ein ewiges netzpolitisches Thema. Besonders akut wird die Frage seit Monaten im Rahmen der sogenannten Chatkontrolle gestellt. Es ist das Vorhaben der EU, das dazu führen könnte, dass Anbieter auf Anordnung private Chats durchleuchten. Nach einer exklusiven Recherche von Alexander Fanta berichteten unter anderem auch der Stern und der Standard, wie in Brüssel ein Hollywoodstar zum Lobbyisten für die Chatkontrolle wurde.
- Rund um die Chatkontrolle kursieren viele Missverständnisse. Beispielsweise landen auch Fälle von Sexting unter Teenager:innen bei der Polizei. Was heißt das, wenn hinter dem Verdacht auf sexualisierte Gewalt eigentlich Jugendliche stecken, die einvernehmlich intime Fotos tauschen? Das Interview von Andre Meister zu dem Thema wurde bei Golem aufgegriffen.
- Auch Funk, das junge Angebot von ARD und ZDF, hat im Mai über Chatkontrolle berichtet. Sebastian Meineck war in dem YouTube-Format "Die Da Oben" zu Gast und hat die Risiken des Vorhabens erklärt.
Danke für Eure Unterstützung!
Wenn ihr uns unterstützen wollt, findet ihr hier alle Möglichkeiten. Am besten ist ein Dauerauftrag. Er ermöglicht uns, langfristig zu planen:
Inhaber: netzpolitik.org e. V.
IBAN: DE62430609671149278400
BIC: GENODEM1GLS
Zweck: Spende netzpolitik.org
Wir freuen uns auch über Spenden via Paypal.
Wir sind glücklich, die besten Unterstützerinnen und Unterstützer zu haben.
Unseren Transparenzbericht aus dem April findet ihr hier.
Vielen Dank an euch alle!
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