Eine belarussische Sicherheitsbehörde hat am Freitag einen Mitarbeiter der russischen Wikipedia festgenommen. Das hat die Behörde auf einem inzwischen gelöschten Telegram-Kanal gemeldet.
Ein russischer Telegram-Kanal, der dem Kreml nahestehen soll, hatte zuvor persönliche Informationen über den Mitarbeiter auf der Messenger-Plattform gepostet. Der Grund war seine Mitwirkung am Artikel der russischen Wikipedia zur Invasion Russlands in der Ukraine.
Die russische Regierung hat seit dem Beginn ihres Angriffskriegs die Zensur massiv hochgefahren. Viele unabhängige Online-Medien sind in Russland nicht mehr erreichbar. Facebook und Twitter wurden komplett gesperrt, auch Instagram fiel gestern der Zensur zum Opfer. Bei den beiden Plattformen des Meta-Konzerns war das eine Reaktion auf eine Regel, nach der Aufrufe zum Mord an russischen Soldat*innen und an Wladimir Putin als Antwort auf die Invasion erlaubt sind.
Wikipedia nennt die Invasion eine Invasion
Am 3. März hatte die russische Regierung auch Wikipedia mit der Sperrung gedroht. Das ist an sich kein neues Phänomen, in den letzten Jahren gab es bereits über fünfzig solcher Drohungen. Neu war der Anlass: der Artikel in der russischen Wikipedia, der den Titel „Russlands Invasion in der Ukraine (2022)“ trägt.
Ein neues russisches Mediengesetz verbietet es, die Invasion als solche oder als Krieg zu bezeichnen. Stattdessen sollen Medien von einer „Sonderoperation“ sprechen, sonst drohen bis zu fünfzehn Jahre Haft. Dass der Artikel der russischen Wikipedia das nicht tut, haben deren freiwillige Bearbeiter*innen bereits am Tag der Invasion entschieden. Auf der Diskussionsseite des Artikels heißt es:
Dieser Artikel wurde am 24. Februar 2022 zur Umbenennung in „Spezielle militärische Operation in der Ukraine (2022)“ vorgeschlagen.
Als Ergebnis der Diskussion wurde beschlossen, den Titel „Russlands Invasion in der Ukraine (2022)“ unverändert zu lassen.
Um einen Artikel erneut für eine Umbenennung einzureichen, bräuchte es einen guten Grund. Das hält aber anscheinend viele Leute trotzdem nicht davon ab, den Titel als falsch zu melden. In einem großen, rot umrahmten Hinweis auf der Seite heißt es:
Bitte melde NICHT…
- den Fakt, dass der Titel des Artikels „Russische Invasion in der Ukraine (2022)“ „falsch“ ist – eine Umbenennung wurde diskutiert und der aktuelle Titel bestätigt;
- dass „der ganze Artikel falsch ist“ – bezieh dich auf einen spezifischen Fakt und eine spezifische Quelle
„Gott, schenke uns allen Geduld und Klugheit“
Diesen Standpunkt vertreten einige Bearbeiter*innen ebenfalls: Warum eine Sperrung der gesamten, viel größeren Wikipedia und anderer Projekte wie Wikimedia Commons für einen Artikel riskieren? „Liebe Wikipedianerinnen und Wikipedianer, bitte schreiben Sie sorgfältiger und aus neutraler Sichtweise. Wegen eines einzigen Artikels können Sie wichtigeres Material zerstören – Physik, Mathematik, Architektur, usw.“, schreibt eine Person in der Telegram-Gruppe der russischen Wikipedia.
„Für eine neutrale Sichtweise verurteilen sie einen jetzt zu 15 Jahren Gefängnis. Und Sie müssen die Verantwortung für inkompetentes und brutales Handeln der Behörden nicht auf die Wikipedia-Nutzer*innen abschieben“, antwortet darauf Anatoly (Name von der Redaktion geändert). Er ist ein erfahrener Bearbeiter der russischen Wikipedia.
„Auf der einen Seite verstehe ich Leute, die so denken. Aber auf der anderen Seite denke ich, dass das genau das Verhalten ist, dass Russland in die aktuelle Lage gebracht hat“, so Anatoly zu netzpolitik.org. Er meint, Russ*innen bekämen beigebracht, Politik nur Politiker*innen zu überlassen.
Kreml-naher Kanal doxxt Bearbeiter*innen
Außerhalb der Wikipedia-Community wollte wohl jemand diese Einigung darauf, die Invasion eine Invasion zu nennen, nicht annehmen. Anatoly erzählt, dass letzte Woche ein russischer Telegram-Kanal persönliche Informationen von mindestens fünf Wikipedia-Bearbeiter*innen veröffentlichte, die am Invasionsartikel beteiligt waren. Wikipedia-Bearbeiter*innen arbeiten meistens unter Pseudonymen, das Erkennbarmachen durch persönliche Informationen wird auch als Doxxing bezeichnet.
Kollegen! Wir haben beschlossen, uns mit den Machthabern von Wikipedia anzulegen, genauer gesagt, mit der skandalösen Artikelserie über Russlands Militäroperation in der Ukraine. Um das Material im Wiki ist ein ganzer Kampf entbrannt, bei dem viele Änderungen vorgenommen und unklare Quellen zitiert wurden. Mehr als 50 Mitwirkende haben jeweils 300 bis 400 solcher Bearbeitungen vorgenommen, die alle unter das neue Fake-News-Gesetz fallen. Eigentlich war Wikipedia als offene, unabhängige und unpolitische Enzyklopädie gedacht, aber jetzt wird sie als Waffe der Informationskriegsführung und der ukrainischen Propaganda eingesetzt. Hier ist die erste Person, die die Artikel persönlich bearbeitet hat:
[Persönliche Informationen von Redaktion entfernt]
Laut einem Artikel der russischen Nachrichtenseite Daily Storm steht der Gründer des Kanals, der die persönlichen Informationen der Wikipedia-Bearbeiter*innen veröffentlichte, der berühmten St. Petersburger „Trollarmee“ nahe.
Sicherheitsbehörde filmt Festnahme
Am Nachmittag des 11. März, einen Tag nach der Veröffentlichung seiner persönlichen Informationen, wurde ein Wikipedianer in Belarus festgenommen. Das berichtete die belarussische Nachrichtenseite Zerkalo und beruft sich dabei auf ein Video der Festnahme, das der belarussische Sicherheitsdienst GUBOPiK auf seinem Telegram-Kanal hochgeladen hatte. Einen Tag später meldete eine Menschenrechtsgruppe, dass der Mann zu fünfzehn Tagen Haft verurteilt wurde.
Telegram hat inzwischen den Kanal, der die persönlichen Informationen der Bearbeiter*innen veröffentlicht hatte, und den GUBOPiK-Kanal entfernt. Auf eine Nachfrage von netzpolitik.org, ob die Entfernungen als Reaktion auf das Doxxing erfolgt wären, antwortete das Unternehmen nicht sofort.
Bearbeiter*innen diskutieren Reaktion
So ernst sei das Vorgehen der russischen Regierung gegenüber Wikipedia noch nie gewesen, so Anatoly im Gespräch mit netzpolitik.org. Drohungen und eine kurze Sperre habe es schon gegeben, „aber es war nicht so ernst, wie es jetzt ist“. Festnahmen seien neu.
Ich weiß, dass Polizist*innen schon zu einigen Bearbeiter*innen gekommen sind und sie gewarnt haben, aber nicht für ihre Mitarbeit, sondern weil sie bei Protesten mitgemacht oder einige Petitionen unterzeichnet haben. Und ich weiß von mindestens zwei anderen Bearbeiter*innen, außer mir, die das Land schon verlassen haben. Es kann also gefährlich sein, aber vielleicht wird es nicht die erste Sache sein, für die die Polizei Leute festnehmen wird.
Die Reaktion der Wikipedia-Bearbeiter*innen erfolgte schnell: Die gedoxxten Accounts wurden gesperrt, um potenziellen Missbrauch nach einer Festnahme zu verhindern. Außerdem wurden die Namen aller Bearbeiter*innen des Invasionsartikels versteckt und aus Logs entfernt – ein außerordentlicher Schritt in der Wikipedia, die sehr großen Wert auf Transparenz und Nachverfolgbarkeit von Bearbeitungen legt.
Das zeigt sich auch daran, dass die Diskussion um die Reaktion auf die Festnahme öffentlich erfolgt. So schreibt ein Bearbeiter: „Geehrte Kolleg*innen, wäre es nicht schlauer, diese Diskussion in einen privaten Chat zu verlegen und nicht hier fortzusetzen?“ „Nein“, antwortet ein anderer. Daran könnten nicht alle teilnehmen und wirkliche Sicherheit gäbe es sowieso nicht. Und: „Den Behörden nachzugeben und ihnen Schwäche zu zeigen, indem man in den Untergrund geht, das ist nicht, worum es bei Wikipedia geht.“
„Ich bin am Weinen. Fürchterlicher Schlag“, schreibt eine andere Bearbeiterin. Auf der Diskussionsseite des Invasionsartikels heißt es nun:
Bitte denken Sie daran, dass die politische Repression und die militärische Zensur in Russland und Weißrussland zugenommen haben! Wenn Sie in Russland oder Belarus leben, setzen Sie KEINE Unterschrift ans Ende Ihrer Nachricht und geben Sie KEINE persönlichen Daten preis.
Folgen noch nicht absehbar
Auch in dem Telegram-Chat von Bearbeiter*innen, in dem Anatoly aktiv ist, wurden alle alten Nachrichten gelöscht. Ein Bot löscht außerdem nun alles, was älter als einen Monat ist. Auf die Frage, wie sich die russische Wikipedia-Community nach der Festnahme fühlt, antwortet Anatoly, es sei schwer, Aussagen über die ganze Community zu treffen. „Manche Leute haben Angst, andere wollen irgendwas unternehmen, andere wollen einfach weiter Artikel über ihre Themen schreiben und gar nicht über das Ganze nachdenken.“
Anatoly befindet sich momentan in der Türkei. „Ich hatte den Umzug vorher schon geplant, aber jetzt war er definitiv nicht so sauber wie geplant“, sagt er. „Ich hatte geplant, in einem Monat mit einem Arbeitsvertrag in der EU zu sein, nicht ohne Job in der Türkei.“ Für Ukrainer*innen sei die Situation momentan wesentlich schlimmer.
Und dann gibt es noch die Frage, wie eine russischsprachige Wikipedia aussehen wird, wenn die russische Regierung die Seite wirklich sperrt. Vielleicht wie die chinesischsprachige, in der Bearbeiter*innen aus Taiwan eine große Rolle spielen?
„Ich denke, für die russische Wikipedia ist die Situation ein wenig anders als für die chinesische“, so Anatoly. Die meisten Nutzer*innen kämen zwar aus Russland, aber es gebe eine Menge Länder, in denen russisch gesprochen würde – zum Beispiel in der Ukraine. „Wenn es weniger russische Bearbeiter*innen gibt, dann wird es mehr Bearbeiter*innen aus anderen Ländern geben. Es wird dann auch mehr Links zu ausländischen Quellen geben. Für Leser*innen in Russland wird das aber leider alles unzugänglich sein.“
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