Heute tritt in der Türkei ein Gesetz gegen Desinformation in Kraft. Das Gesetz hatte das türkische Parlament am 13. Oktober mit der Mehrheit der Regierungskoalition aus AKP und der ultranationalistischen MHP verabschiedet. Es droht sozialen Medien und Journalist:innen mit bis zu drei Jahren Haft, wenn diese „irreführende Informationen“ verbreiten. Bereits im Vorfeld hatten Journalist:innenverbände davor gewarnt, dass das Gesetz den strengsten Zensurmechanismus in der Geschichte der Türkei einführe.
Das Gesetz stellt Online-Nachrichtendienste unter die gleichen Regelungen wie gedruckte Zeitungen und Zeitschriften. Deren Autor:innen müssen sich in Zukunft ebenfalls akkreditieren lassen. Außerdem müssen Plattformbetreiber die Identität von Nutzer:innen, denen die Polizei die Verbreitung von Falschinformationen vorwirft, an die Behörden weitergeben. Auf diese Weise will die Regierung angeblich der zunehmenden Desinformation begegnen, die eine „ernsthafte Bedrohung“ für den Zugang zu „wahren“ Informationen darstelle. Grundrechte und Grundfreiheiten müssten vor dieser „Bedrohung“ geschützt werden, so die Argumentation der Gesetzesbefürworter:innen.
Kritiker:innen befürchten Selbstzensur
Die NGO Reporter ohne Grenzen (RSF) sorgt sich um die Journalist:innen und deren Arbeit in der Türkei: „Viele Medienschaffende sind verunsichert, was sie überhaupt noch berichten können, ohne Strafen fürchten zu müssen“, so Christian Mihr, RSF-Geschäftsführer gegenüber netzpolitik.org. Mihr befürchtet, dass die Selbstzensur zunehmen werde. Noch deutlicher fällt die Kritik von Amnesty International aus. Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa- und Zentralasien bei der Menschenrechtsorganisation kritisiert: „Die türkische Regierung schränkt mit dem vage formulierten ‚Desinformationsgesetz‘ die Meinungsfreiheit unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Falschmeldungen weiter ein und versucht ein Klima der Angst zu schaffen.“
Laut des neu geschaffenen Paragrafen 29 drohen Personen bis zu drei Jahre Gefängnis, die „Falschinformationen zur inneren und äußeren Sicherheit oder zur öffentlichen Ordnung und öffentlichen Gesundheit des Landes in der alleinigen Absicht, in der Öffentlichkeit Unruhe, Angst oder Panik auszulösen“ verbreiten. Journalist:enverbände und Kritiker:innen kritisieren die schwammige Formulierung, die es erlaube, Internetnutzer:innen quasi nach Belieben anzuklagen und zu verurteilen. Auch die Europäische Kommission und der Europarat hatten die vage Formulierung im Vorfeld angemahnt.
Zeichen der Ohnmacht vor der anstehenden Wahl
In einer öffentlichen Erklärung spricht die größte Oppositionspartei CHP von einem „letzten Sprengsatz unter die Grundrechte und -freiheiten“, der dazu diene, die anstehenden Parlamentswahl im Juni 2023 vorzubereiten. Bis dahin sollen unliebsame Themen, wie „die schwere Wirtschaftskrise, die hohe Inflation und die hohen Lebenshaltungskosten“ offenbar weitgehend aus den Sozialen Medien verbannt und jedwede Kritik zum Verstummen gebracht werden, kritisieren 81 Provinzvorstände.
Der Zeitpunkt des Gesetzes zeige „das Ausmaß der Angst und der Ohnmacht des Palastes“. Denn die Wahlen könnten die schwierigsten für den amtierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan seit seinem Amtsantritt 2014 werden. Wegen der Wirtschaftskrise sind die Umfragewerte seiner regierenden AKP abgestürzt. Nach Umfragen im September kämen die sieben Oppositionsparteien zusammen auf mehr als 60 Prozent, genug um Erdoğan in der ersten Runde zu besiegen.
Die schleichende Gleichschaltung der Medien
Erdoğan sitzt in der Türkei seit nunmehr knapp zwei Jahrzehnten fest im Sattel. Von 2003 bis 2014 war er Ministerpräsident, seit 2014 amtiert er als Präsident. Im gleichen Jahr rangierte die Türkei in der Pressefreiheitsrangliste von Reporter ohne Grenzen immerhin noch auf Platz 116 von insgesamt 180 Staaten. Inzwischen ist sie auf Platz 149 abgerutscht.
Dafür ist auch die faktische Gleichschaltung der Medienlandschaft verantwortlich. Diese begann damit, dass regierungsnahe Unternehmer:innen große Medienhäuser aufkauften. Von besonderer Bedeutung war der Verkauf der Dogan Media Group, die bis dahin größte der Türkei, an die Demirören-Gruppe, die für ihre Nähe zu Erdoğan bekannt ist. Zu der Mediengruppe gehörten neben dem TV-Sender CNN Türk auch die auflagenstarke Tageszeitung „Hürriyet“. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde der Großteil der verbliebenen regierungskritischen Medienhäuser ebenfalls aufgekauft; zahlreiche Journalist:innen sitzen seitdem im Gefängnis, viele flohen zudem ins Ausland.
Zuletzt übernahmen Nationalist:innen im Jahr 2018 die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“. Diese Übernahme zog zugleich den Schlussstrich unter die mediale Gleichschaltung. Viele Türk:innen erhalten regierungskritische Informationen seitdem nur noch auf Twitter, Facebook und Instagram sowie im türkischen Reddit-Pendant Ekşi Sözlük. Kein Wunder also, dass Erdoğan das Netz und insbesondere die Social-Media-Plattformen als „Bedrohung für die Demokratie“ betrachtet.
Einen ersten Versuch, diese „Bedrohung“ einzudämmen, unternahm die türkische Regierung im vergangenen Jahr. Ein neues Social-Media-Gesetz verpflichtet Facebook, Twitter und andere Plattformen seit Januar 2021 dazu, örtliche Vertreter:innen einzusetzen, die gerichtliche Löschanordnungen umgehend umsetzen müssen. Außerdem sind die Plattformen dazu verpflichtet, Nutzer:innendaten auf Servern innerhalb der Türkei zu speichern. Allerdings konnte das Social-Media-Gesetz die kritische Berichterstattung im Internet nicht unterbinden. Zwar wurden Nutzer:innen immer wieder für Einträge angeklagt und verurteilt. Zugleich aber stützt das bestehende Gesetz eine strafrechtliche Verfolgung von Online-Beiträgen nur eingeschränkt.
Menschenrechtsorganisationen rufen zu Solidarität auf
Das neue Gesetz gegen Desinformation erlaubt weit mehr Kontrolle und Zensur im Netz. Janine Uhlmannsiek von Amnesty International ruft deshalb zu Solidarität auf: „Die internationale Gemeinschaft und auch die Bundesregierung müssen jede Gelegenheit nutzen, um die desaströse Menschenrechtslage in der Türkei anzuprangern und die türkische Regierung zur Einhaltung ihrer menschenrechtlichen Pflichten aufzufordern.“ Und auch Reporter ohne Grenzen rechnet damit, dass die Journalist:innen in der Türkei weitere Repressionen erleiden müssen: „Wir stellen uns schon jetzt auf eine wachsende Zahl verfolgter Medienschaffender aus der Türkei ein, die es zu unterstützen gilt.“
Die türkische Opposition will sich noch nicht geschlagen geben: Der CHP-Abgeordnete Burak Erbay kündigte an, dass seine Partei gegen das Gesetz vor das türkische Verfassungsgericht ziehen würde. Allerdings ist mit einer Entscheidung des Gerichts vor der Wahl im Juni wohl nicht zu rechnen. Damit dürfte Erdoğans Plan, die öffentliche Meinung im Lande auch online unter seine Kontrolle zu bringen, zumindest vorläufig aufgehen.
Published in October, the İFÖD’s 2021 EngeliWeb report found that access to at least 107,706 web addresses was blocked in Turkey in a year.
Among the blocked addresses, 5,436 were news articles that were banned in 839 separate decisions by 251 penal judgeships of peace. The decisions were based on article 9 of Internet Law No. 5651, which obligates content providers to remove content within 24 hours upon applications by persons who claim their personal rights were violated.
In addition to articles banned by judges, news outlets removed 4,445 articles from their websites.
Since the 2014 enaction of article 9, some 509 judges have banned 28,474 web addresses in 5,986 separate decisions. Among them, 22,941 were news articles.
https://bianet.org/english/freedom-of-expression/276060-turkey-blocks-access-to-platform-monitoring-web-censorship?bia_source=rss