Blackbox Genf IIIInternationale Verhandlungen am Küchentisch

Die Weltorganisation für geistiges Eigentum WIPO kann derzeit nur virtuell tagen. Dabei bleiben viele wichtige Fragen wie der Umgang mit urheberrechtlich geschützten Lernmaterialien auf der Strecke. Eigentlich braucht es gerade in der Corona-Pandemie dringend Lösungen, etwa Sonderregeln für Krisensituationen.

Ein Küchentisch mit einem Bilderrahmen, in dem steht: "Alles ist fertig, es muss nur noch gemacht werden."
Die UN-Organisation für geistiges Eigentum muss trotz und wegen der Pandemie auch vom Küchentisch aus handlungsfähig sein. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Crew

Justus Dreyling ist promovierter Politikwissenschaftler und seit 2019 bei Wikimedia für internationale Regelsetzung zuständig. Er vertritt die Wikimedia-Bewegung bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Genf und berichtet auf netzpolitik.org in loser Reihe über die dortigen Verhandlungen um eine Reform des internationalen Urheberrechts. Der Autor twittert als @3_justus.

Die Pandemie hat internationale Organisationen fest im Griff. Anstatt in Genf, New York oder Brüssel finden viele Verhandlungen vom heimischen Küchentisch aus statt. So auch bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO). Die letzte Sitzung des wichtigsten Gremiums für das internationale Urheberrecht im November stand allerdings unter keinem guten Stern. Aus zivilgesellschaftlicher Sicht kann es 2021 nur besser werden.

Die ursprünglich für Juni angekündigte 40. Sitzung des ständigen Ausschusses fürs Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Standing Committee on Copyright and Related Rights oder SCCR) musste zunächst verschoben werden. Nachdem sich im Herbst abzeichnete, dass Präsenzveranstaltungen in diesem Maßstab auch weiterhin nicht möglich sein würden, entschloss sich das WIPO-Sekretariat für ein hybrides Format: Mit Ausnahme einiger weniger Genfer Diplomat:innen konnten Regierungsvertreter:innen und die Beobachter:innen von Industrieverbänden und Zivilgesellschaft nur aus der Ferne teilnehmen.

Stillstand trotz drängender Probleme

Inhaltlich verlief die SCCR-Sitzung eher enttäuschend. Bereits im Vorfeld hatten sich die Mitgliedstaaten geeinigt, nicht über neue Verträge zu verhandeln. Viele Staaten befürchteten, dass online nicht für alle Parteien gleiche Bedingungen gewährleistet werden könnten. Dabei gäbe es drängende Herausforderungen zu bewältigen, die durch die Pandemie noch deutlicher zu Tage treten als zuvor: Für digitale Nutzungen von urheberrechtlich geschützten Lernmaterialien herrschen nämlich vielerorts andere Bedingungen als für analoge Nutzungen.

Besonders dringlich ist die Lage in Entwicklungsländern. Nach wie vor sehen die Urheberrechtsgesetze vieler Staaten des globalen Südens wie Argentinien, Südafrika und Vietnam überhaupt keine Ausnahmen für Bildung und schon gar nicht für digitale Nutzungen vor. Das bedeutet, dass die Nutzung von geschützten Werken im Schulunterricht – auch von Auszügen – eigentlich nur mit Erlaubnis der Rechteinhaber:in gestattet ist.

Hier muss also der Staat mit jeder Rechteinhaber:in einen Lizenzvertrag für den Schulunterricht schließen, selbst wenn eine vergleichbare Nutzung in vielen Staaten des globalen Nordens ohne Erlaubnis und teilweise sogar entgeltfrei möglich ist.

Doch auch in Industriestaaten sind gesetzliche Erlaubnisse nicht immer ausreichend, um einen Unterrichtsbetrieb oder Forschung mit den vorhandenen Materialien zu ermöglichen. Selbst öffentlich finanzierte Bildungsmaterialien der öffentlich-rechtlichen Sender dürfen hierzulande nicht ohne Weiteres im Unterricht verwendet werden. Dabei sind digitale Inhalte gerade in Zeiten von Schulschließungen und Distanzunterricht so wichtig wie nie zuvor.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in der WIPO argumentieren seit langem, dass verbindliche internationale Verträge über Erlaubnisse für digitale Nutzungen Abhilfe schaffen könnten. Dies gilt insbesondere für grenzüberschreitende Kontexte. Wenn es also etwa Teilnehmende aus verschiedenen Ländern bei einem Universitätskurs gibt, benötigt es klare Regeln, welches Urheberrecht gilt.

Rechteinhaber und Industriestaaten wehren sich allerdings gegen neue gesetzliche Erlaubnisse und pochen stattdessen auf Lizenzvereinbarungen. Lehrbuchverlage etwa fürchten, dass internationale Ausnahmen für die schulische oder universitäre Nutzung von manchen Staaten als eine Art Blankoscheck gedeutet werden könnten, um Werke beliebig zu vervielfältigen.

Bedauerlicherweise spielten die durch Corona hervorgerufenen Probleme in den Stellungnahmen der Industriestaaten praktisch keine Rolle. Die Vorschläge der Zivilgesellschaft – etwa für eine gemeinsame Erklärung der Mitgliedstaaten zum Urheberrecht und gesundheitlichen Notständen – blieben bislang ungehört.

Die Mitgliedstaaten und das WIPO-Sekretariat müssen nun aufpassen, dass frustrierte Staaten des globalen Südens sich nicht von der WIPO abkehren und auf andere Foren wie die Welthandelsorganisation (WTO) oder UNESCO ausweichen. Südafrika und Indien haben in der WTO bereits einen Vorschlag für eine befristete Aufhebung der internationalen Schutzregeln für medizinische Produkte, zum Beispiel Medikamente und Impfstoffe, eingebracht. Zwar verfügt die UNESCO im Bereich des Urheberrechts nicht über die gleiche Autorität wie die WIPO, doch ist auch hier eine gemeinsame Erklärung über Bildung in Zeiten von Corona denkbar. Käme es dazu, würde die WIPO an Bedeutung verlieren.

Wie weiter nach der Blockade von Wikimedia?

Für Wikimedia war die SCCR-Sitzung nicht nur aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen eine Herausforderung: Wie netzpolitik.org berichtete, hatte China bei der Sitzung der WIPO-Generalversammlung im September den Antrag der Wikimedia Foundation auf einen Beobachterstatus bei der WIPO blockiert. Da Entscheidungen in der WIPO nach dem Konsensprinzip getroffen werden, reicht bereits eine Gegenstimme aus, um Wikimedia vom Verhandlungstisch fernzuhalten.

Ich konnte mich daher nicht als Vertreter von Wikimedia akkreditieren, sondern musste als Vertreter des Verbands Communia, bei dem Wikimedia Deutschland Mitglied ist, an der Sitzung teilnehmen. Das ist weit mehr als ein logistisches Problem, da ich so keine Berechtigung habe, Stellungnahmen im Namen der Wikimedia-Bewegung abzugeben.

Ein denkbar schlechter Start für die 2020 neu gewählte WIPO-Führung um Generaldirektor Daren Tang: Außer China bestreitet kein Staat ernsthaft, dass die Wikimedia-Bewegung eine legitime Akteurin ist, deren Stimme in der WIPO Gehör finden muss. Eine endgültige Entscheidung über den Antrag der Wikimedia Foundation wurde auf die nächste Sitzung der WIPO-Generalversammlung verschoben.

2021: WIPO muss Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen

Wir wünschen uns ausdrücklich, dass insbesondere die Europäische Union im Sinne ihrer Werte handelt und sich für die Kandidatur der Wikimedia Foundation einsetzt. Dass zivilgesellschaftliche Organisationen blockiert werden, gehört zwar bedauerlicherweise in vielen UN-Organisationen zum Alltag, in der WIPO ist es allerdings erst der zweite Fall dieser Art. Werden wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen blockiert, delegitimiert das die WIPO. Eigentlich wird die WIPO aber gerade besonders gebraucht.

Trotz der anhaltenden Pandemie: Sekretariat und Mitgliedstaaten der WIPO müssen 2021 auch vom Küchentisch aus handlungsfähig werden. Insbesondere müssen Lösungen für die drängenden Herausforderungen durch Corona gefunden werden. Eine Deklaration über digitale Nutzungen und gesundheitliche Notsituationen würde die Relevanz der WIPO unter Beweis stellen. Neujahrsvorsätze, die einer UN-Organisation gut zu Gesicht stehen würden.

2 Ergänzungen

  1. Vielen Dank für diesen Bericht! Für mich bleibt nur die Frage offen, welche die erste zivilgesellschaftliche Organisation war, deren Aufnahme in die WIPO blockiert wurde (letzter Satz, vorletzter Absatz). Darf ich um die Ergänzung bitten? Danke im Voraus!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.