Blackbox GenfStreit um eine internationale Urheberrechtsreform

Der Autor setzt sich für den gemeinnützigen Verein Wikimedia Deutschland auf der internationalen Ebene für freies Wissen und ein offenes Netz ein. Er vertritt die Wikimedia-Bewegung bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), wenn über eine Reform des internationalen Urheberrechts gestritten wird. Der erste Teil einer Reihe.

Bild von der Versammlung der WIPO-Mitglieder aus dem September 2019
Im September trafen sich die WIPO-Mitglieder in Genf. CC-BY-NC-ND 3.0 WIPO | Foto: Emmanuel Berrod

Justus Dreyling ist promovierter Politikwissenschaftler und seit 2019 bei Wikimedia für internationale Regelsetzung zuständig. Vorher hat er am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin zum Handel und zu internationalen Regeln für geistiges Eigentum geforscht. Er twittert als @3_justus und kann unter justus.dreyling@wikimedia.de erreicht werden.

Zweimal im Jahr treffen sich in Genf Vertreter:innen aus bis zu 193 Staaten, um über das internationale Urheberrecht zu streiten. Im großen Sitzungssaal des Hauptgebäudes der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) versammeln sich einige hundert Diplomat:innen und andere Regierungsbeamt:innen sowie Repräsentant:innen von NGOs und Wirtschaftsverbänden für Sitzungen des wichtigen Fachausschusses Standing Committee on Copyright and Related Rights (SCCR). Während der Sitzung im Oktober des vergangenen Jahres kam es zum Showdown.

Es kursierte ein Vorschlag, den Tagesordnungspunkt über sogenannte Schrankenregeln in eine Diskussion über Lizenzmodelle und Möglichkeiten zur weiteren Stärkung von Verwertungsgesellschaften umzuwidmen. Entwicklungsländer und Zivilgesellschaft zeigten sich wenig begeistert, da so die von ihnen initiierten Reformbemühungen auf dem Abstellgleis gelandet wären. Winston Tabb, der Vorsitzende der WIPO-Delegation der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA), krtisierte den Vorschlag deutlich:

Den Schwerpunkt von Ausnahmeregelungen auf Lizenzen zu verschieben, ist Ausdruck einer höchst bedauerlichen Lockvogeltaktik. Diese würde die Probleme, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute stehen, auf Dauer stellen, anstatt sie zu lösen. Sicherlich würden wir Verbesserungen der Art und Weise, wie Lizenmodelle funktionieren, begrüßen. Auch würden wir gerne mehr darüber erfahren, wie die WIPO Transparenz und Good Governance im Bereich von Lizenzen befördert. Allerdings handelt es sich hierbei um Probleme, die in keinem Zusammenhang mit Schrankenregeln stehen, und daher nicht zu einer Abkehr von der Diskussion über Schranken führen dürfen.

[Eigene Übersetzung. Original: „To substitute a focus on exceptions and limitations with one on licensing would represent a highly regrettable bait-and-switch operation, perpetuating the problems which have brought us to where we are today, rather than resolving them. We would certainly welcome improvements in the way that licensing schemes work – and greater insights into WIPO’s efforts to promote transparency and better governance – but this remains a fundamentally separate issue which must not lead to a loss of momentum or focus on the exceptions agenda.“]

Warum uns die Arbeit der WIPO betrifft

Doch von Anfang an: Wie betrifft uns die Arbeit der WIPO eigentlich? Das Urheberrecht hat erheblichen Einfluss auf unsere Freiheit im Netz. Urheberrechtliche Bestimmungen werden nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch auf der internationalen Ebene beschlossen (siehe ACTA und die EU-Urheberrechtsreform). Die WIPO spielt hier eine wichtige Rolle, ist allerdings nur einer Fachöffentlichkeit bekannt.

Das liegt einerseits an der technischen Komplexität der verhandelten Themen. Andererseits bemühen sich aber auch weder die WIPO noch die Mitgliedstaaten um Transparenz über den Verhandlungsstand. Zwar sind Protokolle der Treffen der Fachgremien online einsehbar, doch finden die eigentlichen Verhandlungen zunehmend in informellen Sitzungen, sogenannten Informals, statt. In der WIPO werden Entscheidungen getroffen, die sich erheblich auf die Verfügbarkeit von Bildungsmaterialien, künstlerischen Erzeugnissen, Medikamenten und anderen essenziellen Wissensgütern auswirken. Als Vertreter von Wikimedia in der WIPO möchte ich mit diesem Beitrag für mehr Transparenz sorgen.

Für ein flexibleres Urheberrecht und mehr Zugang zu Wissen

Wie die UNESCO und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört die WIPO zu den 17 Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Sie verwaltet maßgebliche völkerrechtliche Verträge im Markenrecht, Patentrecht und Urheberrecht und ist der zentrale Ort zur Verhandlung neuer Bestimmungen in diesen Bereichen. Gemeinwohlorientierte Projekte wie die Wikipedia funktionieren nur dann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Schon vor der EU-Urheberrechtsreform war Wikimedia klar geworden, dass wir auch auf der internationalen Ebene für Freies Wissen eintreten müssen. Darum haben wir uns entschieden, unsere politischen Aktivitäten entsprechend auszuweiten. Die Wikimedia-Bewegung ist in den WIPO-Debatten zum Glück nicht allein. Verbände von Archiven, Bibliotheken und Museen sowie eine Reihe von NGOs wie Knowledge Ecology International sind bereits seit Jahren bei WIPO-Sitzungen präsent, um sich für mehr Zugang zu Wissen einzusetzen.

Für die Zivilgesellschaft liegt das Hauptinteresse im Bereich Urheberrecht in den Verhandlungen über Schrankenregeln, also gesetzlichen Erlaubnissen zur Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke. Schranken begrenzen das Verwertungsrecht von Rechteinhabern, um Nutzungen zu ermöglichen, die im Interesse der Allgemeinheit liegen. So können etwa Archive, Bibliotheken, Museen und Lehrende geschützte Werke in einem begrenzten Umfang und für bestimmte Zwecke verfügbar machen, ohne dafür um Erlaubnis bitten oder zahlen zu müssen.

Bessere internationale Schrankenregeln sind längst überfällig, da immer mehr Nutzungen grenzüberschreitend stattfinden. Online-Kurse einer Universität mit Teilnehmenden aus verschiedenen Ländern sind oft auch auf urheberrechtlich geschützte Materialien angewiesen.

Nur internationale Regelsetzung kann sicherstellen, dass eine Nutzung in allen betroffenen Rechtsräumen sicher ist. Die WIPO kann durch verbindliche völkerrechtliche Verträge über Schranken klarstellen, welche Nutzungen Staaten erlauben dürfen, ohne das ebenfalls vertraglich vereinbarte Schnutzniveau zu unterlaufen. Einzelne Schranken könnten so sogar für verpflichtend erklärt werden. Dies hätte zwei Vorteile gegenüber dem Status quo.

Bislang setzen sich Staaten, die neue Schranken erlassen, dem Risiko aus, etwa vor dem Streitbeilegungsgremium der WTO von anderen Staaten „verklagt“ zu werden. Eine Niederlage kann Handelssanktionen nach sich ziehen. Außerdem werden vor allem Entwicklungsländer von den USA und der EU bilateral unter Druck gesetzt, keine allzu weitgehenden Flexibilitäten zu ermöglichen. Verpflichtende Schrankenregeln würden dieses Vorgehen zumindest eindämmen.

Ein alter Hut, sollte man meinen. Aber erst im Jahr 2013 wurde das erste Abkommen über verbindliche Schranken getroffen, der Vertrag von Marrakesch, der Menschen mit Sehbehinderungen und anderen Leseeinschränkungen besondere Nutzungsrechte einräumt. Andere Erlaubnisse sind nach wie vor international gesehen kein Muss. Staaten können sie in ihren Urheberrechtsgesetzen vorsehen, müssen das aber nicht. Und seit Marrakesch haben sich die Verhandlungen über andere Schranken auch kaum weiterbewegt. Warum passiert so wenig?

Rechteinhaber im Vorteil

Die Gegner einer umfassenden Reform des internationalen Urheberrechts hin zu mehr Zugang zu Wissen sind nicht nur ressourcenstärker, sondern auch besser in der WIPO organisiert. Sie verhindern bislang, dass weitere Erlaubnisse international verpflichtend werden. Industriestaaten (die EU-Mitgliedstaaten, die USA und Japan sowie Australien, Israel, Kanada, Neuseeland, Türkei und der Vatikanstaat) sind bei der WIPO in der sogenannten Group B organisiert. Diese Gruppe lehnt neue internationale Schrankenregeln vehement ab.

Die Entwicklungs- und Schwellenländer organisieren sich in regionalen Gruppen, der Gruppe der afrikanischen Staaten, der Gruppe der lateinamerikanischen Staaten (GRULAC) und der Gruppe der asiatisch-pazifischen Staaten. Viele dieser Staaten fordern größere Flexibilität im Patent- und Urheberrecht, um den internationalen Wissenstransfer zu erleichtern. Aufgrund ihrer regionalen Zersplitterung können Entwicklungsländer ihre zahlenmäßige Überlegenheit jedoch meist nicht ausspielen.

In den Verhandlungen um den Vertrag von Marrakesch setzte sich die Gruppe der afrikanischen Staaten lange Zeit für ein umfangreicheres Abkommen über Schranken ein. Diese Maximalforderung unterlief den durch GRULAC und Zivilgesellschaft ausgearbeiteten Vorschlag eines Abkommens speziell zum Wohle von Menschen mit Leseeinschränkungen. Erst nach Beilegung dieser Streitigkeiten war der Weg für das Abkommen frei.

Darüber hinaus spielen das Sekretariat und die nichtstaatlichen Beobachterorganisationen wichtige Rollen. Die Gruppe der Beobachter umfasst Rechteinhaber und zivilgesellschaftliche Organisationen. Sie sind nicht stimmberechtigt, allerdings werden sie als Experten eng in die Entscheidungsfindung einbezogen. Vertreter:innen akkreditierter Beobachterorganisationen dürfen sich im Plenum zu Wort melden. Auch versuchen die nichtstaatlichen Akteure, durch klassische Lobbyarbeit und im Rahmen sogenannter Side Events auf Regierungen Einfluss zu nehmen.

Traditionell sind die Rechteinhaber stärker bei WIPO-Gremiensitzungen vertreten und besser vernetzt als ihre zivilgesellschaftlichen Gegenüber. Auch das Sekretariat der WIPO mischt kräftig mit, indem es Verhandlungsprozesse durch Vorlagen und Gutachten begleitet. Zwar gehört das zu seinen Aufgaben, doch sagen böse Zungen dem Sekretariat eine starke Tendenz pro Rechteinhaber nach. Die rührt unter anderem daher, dass die WIPO als Sitz des Patent Cooperation Treaty einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen über die Vergabe von Patenten generiert. Insgesamt sieht es für eine grundsätzliche Reform des internationalen Urheberrechts also eher schlecht aus.

Das Jahr 2020 wird spannend

Das Jahr 2020 begann für die WIPO mit einer Richtungsentscheidung. Im September läuft die Amtszeit von WIPO-Generaldirektor Francis Gurry aus. Ein Nachfolger wurde am 4. März nominiert. Das Bewerberfeld für Gurrys Nachfolge war lange Zeit unübersichtlich und umfasste zeitweise zehn Kandidat:innen – darunter drei aus Lateinamerika und zwei aus Afrika. Am Ende setzte sich der Singapurer Daren Tang durch, der derzeitige Vorsitzende des SCCR. Als aussichtsreich galt aber auch die chinesische Kandidatin Wang Binying. Wegen Chinas zweifelhaftem Ruf im Bereich geistiger Eigentumsrechte war ihre Kandidatur allerdings umstritten.

Zivilgesellschaftliche Organisationen äußerten zuletzt immer wieder die Kritik, dass ihre Positionen nicht hinreichend zur Sprache kämen und von ihnen vorgeschlagene Expertinnen und Experten in den Fachrunden nicht berücksichtigt würden. Wikimedia Deutschland und die zivilgesellschaftlichen Partner fordern vom zukünftigen Generaldirektorat, dass es sich für eine gleichberechtigte Einbeziehung aller Stakeholder einsetzt.

Die WIPO muss ein Forum werden, das sowohl den Kreativschaffenden als auch den Nutzerinnen und Nutzern dient. Nur so kommen wir zu einem zeitgemäßen Urheberrecht, das die Chancen der Digitalisierung im Sinne aller Parteien nutzbar macht. Es wird spannend zu sehen, ob der neue Generaldirektor seine Amtszeit nutzt, um die Entscheidungsfindung wieder transparenter und offener zu gestalten.

Die Positionierung des neuen Generaldirektors und insbesondere sein Umgang mit der Zivilgesellschaft werden entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen über Schrankenregeln haben. Zwar konnte die zivilgesellschaftliche Koalition die Umwidmung des Tagesordnungspunkts zu Schranken in eine Diskussion über Lizenzmodelle abwenden, doch gab es auch für kein anderes Vorgehen einen Konsens. In der nächsten Sitzung des SCCR, die nach derzeitigem Kenntnisstand im Ende Juni stattfinden soll, stehen die Staaten also vor der Herausforderung, sich auf einen neuen Arbeitsplan einigen zu müssen.

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