Grundrechte-Report 2020Polizeiliche Falschnachrichten auf Social Media

Wie darf die Polizei in sozialen Medien kommunizieren? Von Falschmeldungen, Dienstvorschriften und Gerichtsurteilen. Ein Beitrag aus dem Grundrechte-Report, dem echten Verfassungsschutzbericht.

Polizei Berlin
Twittert gern und viel: Polizei Berlin. – Alle Rechte vorbehalten Polizei Berlin

Michael Lippa ist Strafverteidiger und Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein. Dieser Beitrag erschien zunächst im Grundrechte-Report 2020 – dem echten Verfassungsschutzbericht! Der aktuelle Grundrechte-Report erscheint am 2. Juni im S. Fischer Verlag und wird von Pianist Igor Levit vorgestellt. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.

Die rasante Entwicklung in der Informationstechnik und den Social Media hat das Informations- und Kommunikationsverhalten auch von Behörden verändert. Das Vorgehen der Polizei ist nicht nur bei Großeinsätzen in eine größere öffentliche Wahrnehmung geraten.

Im Kampf um die Informations- und Deutungshoheit haben auch die Behörden aufgerüstet, um schneller unliebsamer Berichterstattung entgegenzutreten. Nicht selten – auch nicht neu – werden dabei diffamierende Falschnachrichten verbreitet, um unverhältnismäßiges Polizeihandeln zu rechtfertigen.

Neu ist aber, dass diese Meldungen immer schneller und weiter verbreitet werden, dabei in Echtzeit auf die Grundrechtsausübung steuernd eingewirkt wird und nicht erst im Nachhinein, wie etwa früher mit Pressemitteilungen.

#Todesknauf

Mit der Frage solcher polizeilichen „Fake News“ auf Social Media hat sich aktuell das Verwaltungsgericht Berlin zu beschäftigen, nachdem Vereinsmitglieder des Mieters des Kiezladens Friedel54 in Berlin-Neukölln die Löschung eines Polizei-Tweets und die Feststellung seiner Rechtswidrigkeit begehren.

Am 29. Juni 2017 begann in den frühen Morgenstunden die Räumung des seit über 13 Jahren bestehenden Kiezladens, in dem sich Vereinsmitglieder und Aktivist*innen befanden. Unterstützt wurden diese durch eine friedliche Versammlung vor dem Gebäude, die mehrere Hundert Teilnehmer*innen umfasste – darunter auch Mitglieder des Bundestages und des Berliner Abgeordnetenhauses –, und sich im Laufe des Vormittags zunächst weiter vergrößerte, da Kündigungen und Zwangsräumungen in Berlin ein heißes Thema sind.

Am späten Vormittag twitterte @polizeiberlin offiziell: „Lebensgefahr für unsere Kolleg. Dieser Handknauf in der #Friedel54 wurde unter ! Strom ! gesetzt. Zum Glück haben wir das vorher geprüft.“ Der Tweet war mit einem Foto einer Kellertür im Hinterhof des Gebäudes versehen.

Was darauf folgte, war ein medialer Shitstorm ohnegleichen, sowohl auf Social Media als auch in nahezu allen größeren regionalen und überregionalen Print- und Onlinemedien. So twitterte etwa der FDP-Fraktionsvorsitzende des Berliner Abgeordnetenhauses von „menschenverachtende[m] Verhalten dieser Chaoten“, der Radiosender rbb 88,8 von „Lebensgefährliche[m] Anschlagversuch auf Polizisten“ oder der Chefreporter der Bild-Zeitung für Berlin sowie die Deutsche Polizeigewerkschaft gar von einem „Mord-Versuch“.

Als der Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin den Aktivist*innen per Twitter bescheinigte, diese „spielt[en] mit Menschenleben“, und ein Nutzer darauf antwortete, dass es hierzu keine Belege gäbe, retweetete @polizeiberlin ihre Falschmeldung nochmals. Obwohl spätestens eine Stunde später feststand, dass die Technische Einsatzeinheit sich „vermessen“ hatte und tatsächlich gar kein Strom auf dem „Todesknauf“ war, bestand sie weiter auf der Information und ruderte erst anderthalb Tage später per Tweet etwas zurück: Im Nachhinein habe keine Stromquelle festgestellt werden können.

Auf das Eingeständnis eines Fehlers oder gar eine Entschuldigung der Polizei wartet man bis heute vergeblich. Vielmehr verlautbarte die Polizei im Rahmen einer parlamentarischen schriftlichen Anfrage zu dem Vorfall: „Objektiv nicht wahrheitsgemäße Tweets der Polizei Berlin sind nicht bekannt.“ Erst zwei Jahre später, bereits nach Klageerhebung im Frühjahr 2019, löschte sie den Tweet und hofft so nun wohl auf Erledigung der Sache.

Weitere Falschnachrichten, wie beispielsweise über einen Angriff mit #Säurekonfetti auf einer Demonstration in BerlinFriedrichshain, kursieren zuhauf. Klassiker sind dabei frei erfundene lebensgefährliche Angriffe – gerne auf Kolleg*innen –, die wundersame Multiplikation verletzter Beamt*innen und die angebliche Schwere ihrer Verletzungen bei Einsätzen. Nahezu alle diese Falschnachrichten werden bei politischen Versammlungen erhoben.

So sah sich sogar der Deutsche Journalistenverband im Juli 2019 veranlasst, eine Pressemitteilung zu verfassen, nachdem bei der Besetzung des Tagebaus Garzweiler erneut eine Falschmeldung der Polizei verbreitet wurde, mit der die Zahl verletzter Beamt*innen um ein Vielfaches „frisiert“ worden war:

Ein Polizeibericht ist für Redaktionen eine wichtige Ausgangsinformation, mehr nicht […]. Keinesfalls dürften Schilderungen und Behauptungen solcher Berichte ungeprüft in die Medienberichterstattung Einzug halten.

Dürfen die twittern?

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in mehreren Entscheidungen betont, es zu gehöre zu einer Demokratie, dass „die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind“. Vor diesem Hintergrund folgt Informationshandeln staatlicher Stellen stets ihrer Aufgabenzuweisung.

Die Arbeit der polizeilichen Social-Media-Teams richtet sich dabei nach einer (nicht öffentlichen) Polizeidienstvorschrift. Dienstvorschriften sind Leitfäden, die das Handeln der Polizeibehörden vereinheitlichen und konkretisieren sollen. Nach der PDV 100 gehört es zu den Aufgaben der Polizei, ihr „Handeln für die Öffentlichkeit transparent und verständlich“ zu machen. Die Wahl der Kommunikationsmittel war dabei noch nie vorgegeben, genauso wenig wie konkretisierende Rechtsgrundlagen des Gesetzgebers.

Die Aufgabenzuweisung der Polizei reicht allerdings nur so lange als alleinige Grundlage von Informationshandeln, soweit damit kein Grundrechtseingriff verbunden ist. Hier haben sich seit den 1990er Jahren halbwegs gefestigte Grundsätze in der höchstrichterlichen Rechtsprechung herausgebildet, die dem medialen Treiben staatlicher Institutionen Grenzen setzen. Demnach unterliegt jegliches staatliche Informationshandeln den Geboten der Richtigkeit, der Sachlichkeit, der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) und der Neutralität.

Alle Fälle, in denen die Polizei voreilig oder gar bewusst falsche oder wertende Informationen über Tatsachen bei politischen Versammlungen verbreitet, sind schon grundsätzlich rechtswidrig, da sie gegen das Gebot der Richtigkeit bzw. der Neutralität verstoßen und damit direkt oder mittelbar die Versammlungsfreiheit verletzen. Sie bezwecken, vor der Versammlung selbst zu warnen oder schrecken Versammlungsteilnehmer*innen und potenziell Interessierte davon ab, an der Versammlung (weiter) teilzunehmen.

Daneben greifen Informationen, in denen konkreten Personengruppen vorgeworfen wird, sich rechtswidrig zu verhalten oder Straftaten zu begehen, in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein, welches die Ehre und den guten Ruf einer (auch juristischen!) Person schützt.

Sicherlich bestehen gelegentlich unklare Sicherheitslagen, bei denen aufgrund der Risiken das Informationsinteresse der Bevölkerung trotzdem überwiegen kann. Hier ist jedoch aufgrund der politischen Chancengleichheit, die zumindest über Artikel 3 Absatz 3 GG auch ein Stück weit Versammlungen zukommt, das Gebot der äußersten Zurückhaltung zu beachten.

Das Bundesverfassungsgericht fordert unabhängig hiervon jedenfalls explizit, die Bevölkerung auf die bestehende Unsicherheit hinzuweisen, „um sie in die Lage zu versetzen, selbst zu entscheiden, wie sie mit der Ungewissheit umgehen wolle[n]“.

Es ist davon auszugehen, dass rechtswidrige polizeiliche Falschinformationen zunehmen werden, da einerseits die Hürden für ein zulässiges gerichtliches Vorgehen sehr hoch sind und andererseits die Politik sich reflexartig hundertprozentig hinter „unsere Polizei“ als Opfer stellt.

Cover: Grundrechte-Report 2020Grundrechte-Report 2020. Herausgegeben von: Leoni Michal Armbruster, Christine Zedler, Bellinda Bartolucci, Rolf Gössner, Julia Heesen, Martin Heiming, Hans-Jörg Kreowski, John Philipp Thurn, Rosemarie Will, Michèle Winkler. ISBN: 978-3-10-491264-6. 240 Seiten. E-Book und Taschenbuch. S. Fischer Verlag.

7 Ergänzungen

  1. Hat das Verbreiten dieser Falschmeldungen und dreisten Lügen eigentlich auch ein Nachspiel für die Leute in der Presseabteilung der Polizei und bei deren Vorgesetzten, die sie in die Welt gesetzt haben?

    Wenn eine Demo-Teilnehmer folgendes posten würde:
    Twitter: „Polizist schießt auf Jungen“

    und erst später folgende Posts nachschieben würde:
    Twitter: „Die Pistole war nicht geladen“
    Und zum Schluss stellt sich heraus: „Polizist schoss einem kleinen Jungen einen Fußball zu“

    Diese Person käme garantiert nicht ohne Strafe wegen Verleumdung davon…

    Wenn die Polizei – und auch andere Behörden – meinen, sie müssen twittern o.ä., dann müssen sie die höchsten journalistischen Standards erfüllen. Das heißt, man muss sich auf die Korrektheit der Veröffentlichungen verlassen können.

    „Ein Polizeibericht ist für Redaktionen eine wichtige Ausgangsinformation, mehr nicht […]. Keinesfalls dürften Schilderungen und Behauptungen solcher Berichte ungeprüft in die Medienberichterstattung Einzug halten.“

    Dadurch wird ein Polizeibericht wertlos!!

    Wer an offizieller Stelle publiziert, muss den Wahrheitsgehalt der Äußerungen auch sicherstellen. Die Presseabteilung (nicht nur der der Polizei) ist aber gleichzeitig auch Werbeabteilung. Da werden dann nur noch dem eigenen Arbeitgeber wohlgesonnene Mitteilungen veröffentlicht, auch wenn man der Wahrheit gelegentlich nachhelfen muss.

    1. Die Polizei muss per Definition keine journalistischen Standards erfuellen, sondern die Standards einer staatlichen Stelle. Das sind voellig unterschiedliche Kategorien.

      Journalistische Standards sind beim Umgang von Medien mit Polizeiaeusserungen einzuhalten, und dazu gehoert eine gesunde Portion Misstrauen und Ueberpruefung, was viel zu oft nicht passiert.

  2. …und dann wundert man sich über Vertrauensverlust. USA sind gerade ein gutes negativ-Beispiel wo es auch bei uns hingehen kann, wenn nicht mal gegen gesteuert wird.

    1. Die meisten Medien meinen mit dem betrauerten „Vertrauensverlust“ leider primaer ihren Machtverlust: sie verlieren ihre gewohnte und hochprivilegierte Stellung als Gatekeeper und Meinungsbildner der Gesellschaft. Sie reagieren darauf eher mit Profilierung fuer die Zielgruppe, auch aus wirtschaftlichen Gruenden, weinen Krokodilstraenen und machen weiter.

      Die USA ist fuer eine kleine aber sehr einflussreiche Gruppe kein Schreckens- sondern Vorbild: mehr Geld, mehr Macht, weniger Regulierung. Neofeudalismus braucht kein Vertrauen, es reicht, keinen ernsthaften Gegner zu haben. Und da ein solcher Gegner eine Massenbewegung sein muesste, ist Misstrauen und Erosion gemeinsamer Basis eine valide Strategie.

  3. Redet nicht dem Bullshit der Polizei hinterher: Strom kann nicht stehen sondern fliesst, der Knauf kann höchsten *unter Spannung* gestanden haben. Dass die Polizei das nicht zu differenzieren weiss ist peinlich genug, ihr als technikaffine Redakteure solltet den Unterschied kennen.

  4. Ich sage nur Super-Molli (Erinnert sich noch wer? Später gab’s sogar eine Kneipe gleichen Namens)… ist etwas her aber die Geschichte der Falschmeldungen der Polizei geht eben auch viel länger zurück.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.