Der Deutsche Ethikrat hält die momentane wissenschaftliche Faktenlage für nicht ausreichend, um die Einführung von Immunitätsausweisen zuzulassen. Es sei unklar, wie lange man nach einer Erkrankung immun gegen eine erneute Infektion sei und ob überhaupt alle Menschen, die sich mit dem Corona-Virus infiziert haben, Antikörper gegen eine neue Infektion entwickeln. Diesen einstimmigen Beschluss stellte der Ethikrat heute in einer Pressekonferenz vor.
Den ethischen Überlegungen stellt das Gremium in seiner Stellungnahme [PDF] die naturwissenschaftlichen Grundlagen voran, die zum aktuellen Zeitpunkt bekannt sind. Hierbei thematisiert der Rat unter anderem unterschiedliche Arten von Immunität, die auch unterschiedlich lang anhalten können. Es sei keineswegs sicher, ob und wie lange eine überstandene Infektion mit dem Virus vor einer erneuten Erkrankung schützt.
Es sei außerdem nicht geklärt, ob Menschen, die von der Covid19- Erkrankung genesen sind, nicht weiterhin ansteckend sein könnten. Solange diese Fragen nicht beantwortet seien, könne man auch keine Antikörpertests entwickeln, die sich als Grundlage für eine Immunitätsbescheinigung eignen.
Uneinigkeit für den Fall einer besseren Evidenz
Aus diesen naturwissenschaftlichen Fragestellungen heraus kam der Ethikrat einstimmig zu dem Ergebnis, die Einführung von Immunitätsausweisen derzeit nicht zu empfehlen. Für den Fall, dass Wissenschaftler:innen irgendwann gesichertere Aussagen über die Fragen der Immunität treffen können, ist das Gremium aber gespalten, ob dann Immunitätsbescheinigungen eingeführt werden sollten und wie diese ausgestaltet sein könnten. In der Stellungnahme heißt es:
Die im Rat vertretenen Auffassungen lassen sich zwei Grundpositionen zuordnen: Während Position A gestufte Maßnahmen empfiehlt, die im Zusammenhang mit Immunitätsbescheinigungen nach erfolgter Genesung sinnvoll erscheinen können, hält Position B die Einführung einer Immunitätsbescheinigung in Zukunft auch dann für nicht verantwortbar, wenn eine Immunität und Nichtinfektiosität der Betroffenen zuverlässig nachweisbar wäre.
Man habe hier nicht zu einer Kompromissposition gefunden, berichtet die Vorsitzende des Ethikrates Alena Buyx. Die Hälfte der Mitglieder seien der Meinung, dass eine stufenweise, anlassbezogene und bereichsspezifische Immunitätsbescheinigung bei entsprechendem wissenschaftlichen Sachstand vertretbar sei. Ein Vertreter dieser Gruppe ist Carl Friedrich Gethmann, Sprecher der Arbeitsgruppe für die Immunitätsbescheinigung.
Mehr Freiheiten, mehr Pflichten
Gethmann nennt beispielsweise Altenpfleger:innen, Krankenpfleger:innen, aber auch die Polizei und die Feuerwehr als Berufe, bei denen nicht immer der nötige Mindestabstand eingehalten werden könne. Hier könne man darüber nachdenken, Immunitätsausweise auszustellen, sobald absehbar ist, wie lange eine Immunität anhält. Man müsse das Risiko gegen den Nutzen abwägen: „Ein Null-Risiko ist ein Phantasma. Grundsätzliche Freiheiten müssen so schnell wie möglich wieder freigegeben werden“, so Gethmann.
Ein solcher Ausweis könne aber nicht nur bedeuten, dass sein:e Träger:in größere Freiheiten habe. Es könne auch eine Verpflichtung mit ihm einhergehen, besonders riskante Tätigkeiten zu übernehmen, wenn man in diesem Moment immun gegen eine Neuinfektion sei. Die Ausgestaltung des Ausweises müsse der Gesetzgeber übernehmen, um die Gefahren des Missbrauchs oder der absichtlichen Ansteckung einzudämmen.
Maskenpflicht gilt auch bei Immunität
In der Stellungnahme des Ethikrates machen die Vertreter:innen dieser Position aber deutlich, dass ein solcher Ausweis nur in klar definierten Bereichen ausgestellt werden dürfe. Er führe beispielsweise nicht dazu, dass seine Träger:innen keine Mund-Nase-Bedeckung mehr tragen müsse oder andere Schutzmaßnahmen nicht mehr gelten, sondern darf nur die Ausübung bestimmter risikobehafteter Tätigkeiten im Beruf oder im Privaten ermöglichen, beispielsweise den Besuch von Risikopatient:innen durch Angehörige, die als immun gelten. In der Stellungnahme heißt es:
Problematische Ausgrenzungsprozesse, unter anderem durch Erschwerung von Zugangsbedingungen, sind insbesondere dann zu befürchten, wenn Immunitätsbescheinigungen flächendeckend in nahezu sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt würden und damit nicht immune Personen vom gesellschaftlichen Leben nahezu ausgeschlossen wären. So sollten Immunitätsbescheinigungen nicht derart eingesetzt werden, dass sie zu einer wesentlichen Benachteiligung von Personen ohne ein solches Dokument führen, sofern dies nicht überwiegend aus Gründen des Infektionsschutzes rechtfertigbar wäre
Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft
Die andere Hälfte des Ethikrates hält die Einführung von Immunitätsausweisen selbst bei gesichertem medizinischen Wissen zur Immunität nicht für angebracht. „Es sprechen sowohl ethische als auch praktische Gründe dagegen“, bemerkt Judith Simon, Mitglied in der Arbeitsgruppe des Ethikrates zu Immunitätsnachweisen.
Ein Immunitätsausweis führt ihr zufolge zu einer ungleichen Verteilung von Chancen und zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Bestehende Benachteiligungen könnten sich noch verschärfen. In Berufsfeldern, in denen ohnehin schon prekäre Bedingungen herrschten, könnten sich Arbeitnehmer:innen dazu gedrängt fühlen, einen Antikörpertest durchführen zu lassen und sich bei einem positiven Ergebnis höheren Risiken auszusetzen, obwohl die Evidenz und die Dauerhaftigkeit der Immunität fraglich sei. Das sei eine unzulässige Benachteiligung der Menschen in diesen Berufsgruppen, so die Professorin für Ethik in der Informationstechnologie.
Außerdem sieht diese Fraktion des Gremiums in der aktuellen Situation keine Notwendigkeit für einen solchen Einsatz. Auch sie gestehen ein, dass es nötig ist, eine Regelung zu finden, die es beispielsweise Bewohner:innen eines Seniorenheims gestattet, Besuch zu empfangen. Hierfür sei aber kein Nachweis der Immunität nötig, sondern nur der Nachweis, dass man im Augenblick nicht infektiös sei. Diesen Nachweis können man schon jetzt mit einem herkömmlichen PCR-Test auf das Corona-Virus erbringen.
Stellungnahme gilt nicht für Immunität nach Impfung
Eine weitergehende rechtliche Ausarbeitung oder staatliche Realisierung eines Immunitätsausweises sei also nicht notwendig. Die Ressourcen, die ein solches Gesetzesvorhaben binden würde, stünden nicht im Verhältnis zum vermuteten Nutzen, insbesondere da sich auch datenschutzrechtliche und arbeitsrechtliche Probleme anschließen würden.
Beide Fraktionen sind sich einig, dass die Stellungnahme nur für die Immunität nach einer Infektion gilt, nicht für eine Immunität nach einer Impfung. Es ist also fraglich, ob bis zur Einführung eines Impfstoffes, der je nach Quelle irgendwann im Laufe des nächsten Jahres erwartet wird, genug wissenschaftliche Evidenz zur Verfügung steht, um die Immunität seriös zu bewerten.
Der Ethikrat empfiehlt dem Bundesgesundheitsministerium die strengere Regulierung von Antikörpertests, die auf dem Markt verfügbar sind. Hier sehen die Mitglieder ein Gefährdungspotenzial, da die Qualität dieser Test sehr unterschiedlich sei. Wer ein positives Ergebnis bei einem unzuverlässigen Test bekommt, könnte sich unvorsichtig verhalten, obwohl nach wie vor Infektionsgefahr besteht.
Gefahr einer Profilbildung durch personenbezogene Gesundheitsdaten
Im Mai dieses Jahres wollte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Immunitätsnachweis mit einem Gesetzentwurf auf den Weg bringen. Nach öffentlicher Kritik verzichtete er auf eine direkte Einführung und bat den Ethikrat um seine Stellungnahme.
Die Menschenrechtsorganisation Privacy International hatte schon im Vorfeld der Stellungnahme vor Immunitätsausweisen gewarnt. Insbesondere eine mögliche digitale Realisierung eines Immunitätsausweises sehen die Aktivist:innen kritisch, da hierbei personenbezogene Gesundheitsdaten gesammelt würden, die eine Profilbildung ermöglichen könnten. Projekte zu einer möglichen digitalen Realisierung eines Immunitätsausweises sind auch in Deutschland schon diskutiert worden.
Die Befürworter:innen eines Immunitätsausweises bei ausreichender wissenschaftlicher Evidenz im Ethikrat weisen sogar explizit darauf hin, dass ihrer Ansicht nach ein Eintrag im Impfpass oder vergleichbare Nachweise nicht ausreichen würden, da sie leicht zu fälschen seien: „Wegen des Anreizes zur Fälschung müsste es technisch hinreichend sicher gestaltet sein. Ein einfacher Eintrag in bestehende Impfpässe würde daher nicht ausreichen.“
Skepsis im Justizministerium
Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) äußerte sich zuletzt skeptisch zum Thema Immunitätsausweise: „Ich befürchte, dass ein solcher Ausweis, je nachdem wie er ausgestaltet wird, eher dazu führt, dass gespalten wird, weil bis jetzt noch nicht richtig klar ist, was die Aussage eines solchen Immunitätsausweise ist. […] Ich bin da sehr zurückhaltend, da sind viele grundrechtliche und datenschutzrechtliche Fragen zu klären“, sagte sie im Interview mit dem Sender ntv.
Die Stellungnahme des Ethikrates ist für die Politik nicht bindend und stellt nur eine Empfehlung aus ethischer Sicht dar. Es ist also weiterhin möglich, dass das Bundesgesundheitsministerium seinen ursprünglichen Gesetzentwurf in die Tat umsetzt, insbesondere da in der Stellungnahme des Ethikrates nicht deutlich definiert ist, wann die wissenschaftlichen Erkenntnisse die kritische Grenze überschreiten würden, nach der die Hälfte des Rates eine Einführung von Ausweisen für Teile der Bevölkerung für möglich hält.
Sehr gut und beruhigend, dass der Ethikrat die Einführung dieser Pässe gegenwärtig geschlossen verneint hat! Mir erscheint aber die Position der einen Hälfte des Ethikrats nicht schlüssig, diese Ausweise bei wachsender Erkenntnis zur Antikörper-Immunität einzuführen. Denn Antikörper sind ja nicht der einzige Faktor für eine Immunität. Daneben gibt es nämlich noch die T-Zellenimmunität, die meines Wissens nach noch wesentlich weniger erforscht zu sein scheint und die aufwändigere Testverfahren benötigt.
Wenn also der Immunitätsstatus zu einem Kriterium für die Bewegungsfreiheit, Zugänge zu Arbeitsplätzen oder bestimmten Grundrechten wird, müsste er alle Formen von Immunität berücksichtigen und nicht nur die eine.
Besser wäre es natürlich, die ganze Idee zu vergessen und sich, wie die andere Fraktion empfiehlt, auf wirksamere und sicherere Mittel zu konzentrieren, wie vielleicht Schnelltests für Besucher*innen vor dem Zutritt zu Menschen aus den Risikogruppen in Altenpflegeeinrichtungen. Es scheint auch für die Gesellschaft sicherer und gesünder zu sein, garnicht erst neue Instrumente und Infrastrukturen zu schaffen, die vielleicht einmal in der Zukunft zum Missbrauch einladen könnten. Nicht nur, aber gerade auch Deutschland hat eine düstere Geschichte, was die Diskriminierung von Menschen nach unterstellten oder realen körperlichen und gesundheitlichen Merkmalen angeht. Mit der Ausgrenzung von AIDS-Kranken liegt das auch gar nicht so lange zurück. Der vermeintliche und wohl offenkundig geringe Nutzen von Immunitätsausweisen kann diese gesellschaftlichen Risiken also niemals rechtfertigen.
Es bleibt zu hoffen, dass Jens Spahn und die Politik die Bedenken des Ethikrates daher ernst nehmen und dass sich Gesellschaft und Opposition auf diese Bedenken berufen, wenn nun doch bald bekannt gegeben werden sollte, dass so ein Ausweis umbedingt her müsse.
„auf wirksamere Mittel zu konzentrieren“
Manche Politiker werden nicht müde: „und die App installieren“
Ob da Hoffnung angebracht ist?
Ich hätte auch an der Eignung der Mitglieder eines „Ethikrates“ gezweifelt, wenn das Urteil anders ausgefallen wäre.
Das entscheidende ist die 50-50 Sache, falls „Immunität“ existiert. Ich habe nicht komplett alles gehört bzw. gelesen, aber es wäre doch interessant wie Existenz definiert werden wird, und falls etwas in die Nähe kommt, ob dann auf Basis des wissentschaftlichen Standes entschieden wird, oder af Basis dieses jetzigen Statements.