Es fängt damit an, dass die im Kiosk für ein paar Pesos gekaufte SIM-Karte nicht funktioniert, obwohl ich sie gerade aufgeladen habe. Kann ja mal passieren. Ich gehe in einen Laden von „Movistar“, dem argentinischen Ableger des spanischen Telefonica-Konzerns. Vor dem schick aufgemachten Geschäft stehen schon Dutzende Menschen an. Es geht langsam voran, aber die Beraterin an Schalter 17 bekommt das mit der SIM nach etwa einer Stunde hin. Immerhin.
Als ich beiläufig frage, welche Tarife es denn gebe, schaut sie mich vollkommen entgeistert an: „Das kann ich nicht sagen, denn alles ändert sich die ganze Zeit. Das müssen Sie mit der App machen.“
Also lade ich auf Umwegen die Movistar-App auf das deutsche Endgerät und verstehe, was die Dame meinte: Tarifdschungel ist ein sehr freundliches Wort für die Paket-Hölle, die einen dort erwartet.
In Argentinien sind generell alle Pakete immer zeitgebunden. Allein das macht das Ganze schwer überschaubar: 1 GB für 1 Tag, 1 GB für 3 Tage, 1 GB für 7 Tage, 3 GB für 10 Tage, 5 GB für 15 Tage, usw. Ich kann alle Arten von Optionen wählen, wobei die Gigabytes teurer werden, je länger sie „haltbar“ sind. Unlimitierte Tarife gibt es nicht.
Tarifdschungel ist ein zu freundliches Wort
Neben diesem selbst kombinierbarem Paket gibt es in der App noch 28 weitere Angebote wie „1 Tag 200 MB mit WhatsApp gratis und 100 MB in anderen sozialen Medien für 30 Pesos“. Als sei das nicht genug, gibt es auch Wochenpakete wie „Semana Super“ oder „Semana Ultra“, bei denen ich eine Kombination aus GB für Internet, WhatsApp gratis, Telefonminuten und nicht näher definierte „Megas für soziale Netzwerke“ bekomme. Wobei auch hier ungenutzte Leistungen zwar nach Wochenfrist verfallen, der Vertrag aber beeinhaltet, dass automatisch ein neues „Wochenpaket“ gebucht wird, wenn die gekauften Leistungen verbraucht sind.
Wegen der Unübersichtlichkeit und kurzen Haltbarkeitsdauer der Pakete verbringt der durchschnittliche Argentinier vermutlich mehrere Stunden im Monat nur damit, seinen Mobilfunkvertrag irgendwie am Laufen zu halten.
In der App dürfen die Kund:innen dann überprüfen, wieviel Megabyte echtes Internet sie noch haben und wieviel Volumen noch für Social Media bis wann genau verfügbar ist. Zu allem Übel bekommen sie manchmal auch ein paar Hundert Megabytes für einen Tag nur für Youtube gutgeschrieben und verlieren dann endgültig den Überblick.
Das ist offenbar auch das Ziel dahinter: Menschen mit einer Angebotsfülle und einem irrsinnigen Abrechnungsmodell zu verwirren und sie dabei im Wettlauf zwischen Volumenverbrauch und Ablaufdatum der Pakete kräftig auszupressen.
Und es wird ja nicht nur Geld abgepresst: Ich habe noch nie so sinnlos soviel Zeit verplempert, um einfach nur ein bisschen Internet zu bekommen.
Dabei sind meine Anforderungen an den Provider ganz einfach: Ich will nicht Megabytes rechnen und nicht bei jedem Klick über Datensparen nachdenken. Ich will ein einfaches Abrechnungsmodell und unlimitiertes Datenvolumen. Ich will nicht täglich in einer hässlichen App des Providers rumklicken und die Countdowns ablaufender Pakete beobachten. Ich will nicht abgezockt werden. Ich will keine „Megas für Social Media“. Ich will kein WhatsApp. Ich will einfach nur Internet. Und das möglichst zuverlässig.
Ein Geschenk – für Geld!
Als sei die Paket-Hölle in der App nicht genug, bekomme ich unaufgefordert täglich weitere neue Angebote per SMS zugeschickt: „1 GB geschenkt! Antworte mit D7GB und bekomme 2 GB mit WhatsApp gratis und 1 GB als Geschenk für 7 Tage für 140 Pesos “ oder „Soziale Netzwerke gratis! Antworte mit 5GBD30 und erhalte 5 GB mit Whatsapp gratis und 2GB gratis für soziale Netzwerke für 30 Tage für 550 Pesos“. Die Preise für das gleiche Produkt können am nächsten Tag anders sein. Gewissheit gibt es hier keine. Und das liegt nicht an der argentinischen Inflation.
Das Schlimme ist, dass man am Ende für all diese lästigen Angebote und Pakete in vielen Landesteilen und vor allem auf dem Land nur ausgesprochen unzuverlässiges und oftmals sehr langsames Internet bekommt. Aber auch in den Vorstädten von Buenos Aires achten die Menschen darauf, dass sie den Provider mit der nächstgelegenen Antenne wählen, weil der Empfang sonst zu wünschen übrig lässt.
Dabei ist Mobiltelefonie für Argentinier:innen teuer: 5 GB für 30 Tage kosten etwa 600 Pesos, nach offiziellem Wechselkurs sind das derzeit rund acht Euro. Im Vergleich dazu: Ein Damen-Haarschnitt beim Friseur kostet 250 Pesos, für 350 Pesos wäscht und pflegt jemand für zwei Stunden ein Auto per Hand und poliert es dazu.
Provider unterlaufen Netzneutralität
Argentinien hat seit 2014 ein Gesetz, welches die „komplette Neutralität der Netze“ garantieren soll. Dieses Versprechen können weder Gesetz noch die Regulierungsbehörden einhalten: Seit dem Jahr 2017 unterlaufen alle Provider das Gesetz, indem sie „Zero Rating“ – vor allem für WhatsApp – anbieten. Der Zugriff auf diese Partnerdienste ist dann verhältnismäßig einfach möglich, der auf das restliche Internet hingegen nicht.
Im Alltag entsteht so für viele Nutzer:innen ein großer Anreiz, nicht mehr beliebige Dienste im Internet zu nutzen, sondern sich auf vordergründig „kostenlose“ zu beschränken. Von solchen Modellen profitieren aber letztlich nur große Diensteanbieter wie Facebook und Netzbetreiber, die gerne so viel Kontrolle wie möglich über das Netz haben wollen, weil sich damit besser Geld verdienen lässt.
Und so zeigt sich in der Praxis der Provider in Argentinien dann sehr deutlich, wie Kund:innen unter fehlender oder lückenhafter Regulierung von Telekommunikationsunternehmen leiden – und wieviel eine ordentliche Regulierung wert ist. Dabei geht es in Argentinien nicht nur um mangelnde Netzneutralität, sondern auch um den nötigen Verbraucherschutz, der vor sittenwidrigen Angeboten schützt.
Wundersame Geldvermehrung
In Argentinien leben mehr als 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze und deswegen von der Hand in den Mund. Offenbar deshalb bieten manche argentinische Mobilfunkkonzerne an, dass die Kund:innen per SMS oder App kurzfristig Handy-Guthaben leihen können: Für sieben Tage fallen dann allerdings Zinsen von etwa 10 Prozent des geliehenen Betrages an, welche als „Servicegebühren“ verschleiert werden. Im Finanzwesen wird so eine „deutlich überhöhte Gegenleistung unter Ausnutzung einer Schwächesituation eines Vertragspartners“ schlicht und einfach Wucher genannt.
Die Krönung der Irreführung ist jedoch das „Multipliziere Dein Guthaben“-Angebot von Movistar, das ich in der App entdecke. Vermutlich wissen alle Menschen hier in Argentinien, dass es sich um Abzocke handelt. Ich leider nicht.
Für 150 Pesos meines Guthabens erhalte ich ein paar „Megas“ und versiebenfache mein Guthaben auf 1.050 Pesos. Zumindest steht das in der App. Doch als ich meinen neuen Reichtum in ein weiteres Internetpaket umwandeln will, erscheint die Meldung: „Sie haben nicht genügend Guthaben“. Weil die Hilfeseiten in der Movistar-App und der Chat-Bot des Unternehmens das Problem nicht kennen – wie sollte es auch anders sein – schaue ich in Foren nach und finde heraus: Mein Geld ist in so genanntes „Promotion-Guthaben“ verwandelt worden.
Dieses „Guthaben“ lässt sich nur einsetzen, wenn man kein echtes Guthaben mehr hat. Dann kann man damit für 20 Pesos jeweils 50 MB kaufen. Und auch nur in den nächsten sieben Tagen. Nach diesen verfällt das neue Promotion-Guthaben – und die Kohle ist weg. An diesem Punkt habe ich mich längst entschlossen, einen anderen Provider zu suchen, aber dieses „Promotion-Guthaben“ will ich dann doch noch verbrauchen.
„Alle sind Diebe!“
Damit das Ausgeben des virtuellen Guthabens möglichst schwierig wird, hat sich Movistar noch etwas einfallen lassen: Ich bekomme alle 50 Megabyte eine SMS, die mir sagt, dass ich 50 Megabyte verbraucht habe. Will ich weitere 50 Megabyte verbrauchen, muss ich jedes Mal per SMS mit „Si“ (Ja) antworten.
Gut 50 SMS später wechsle ich zum Anbieter „Claro“, auch wenn mich alle Argentinier:innen gewarnt haben: „Es macht keinen Unterschied, bei welchem Anbieter du bist: Alle sind Diebe!“
Als ich die Claro-SIM eingelegt und mit 500 Pesos aufgeladen habe, erhalte ich direkt eine SMS: „Verdreifache noch heute dein Guthaben! Los geht’s!“
Danke für diese Beschreibung. Kann man mal nutzen, wenn’s wieder ruft: Mobilfunk in Deutschland unbenutzbar und Kundenfeindlich.
Mobilfunk in Deutschland IST unbenutzbar und kundenfeindlich. Vergleich mit Argentinien ist kein guter Standard.
Aber Argentinien zeigt schon, dass es noch deutlich schlimmer sein könnte, wenn nicht so stark für Netzneutralität gekämpft worden wäre. Klar ist aber auch: In Deutschland gibt es auch keine bezahlbaren Unlimited-Verträge und Anbieter machen Zero-Rating. Ich fand jedoch spannend, in was für einen Krampf das führt.
Hi Marcus, ich bin etwas verwundert über den Artikel. So wie von dir hier beschrieben funktioniert mobiles Internet (&ebtsprechende Tarife) in, ich würde fast sagen, der Mehrheit der der Länder/Netze weltweit. Dabei kostet es aber, wenn einmal reingefuchst, wohl niemanden mehrere Stunden pro Woche einen Tarif auszuwählen. Du hast völlig Recht mit deinen Bedenken zu Netzneutralität und Wucherzinsen auf Guthabenvorschüsse. Ich glaube nur, dass es wichtig ist sich im Klaren zu sein, dass das Realität für wohl die Mehrzahl der Mobilfunkuser weltweit ist.
Ein ländervergleichbarer Mobilfunkaspekt, der hier vielleicht noch fehlt: Identifikationszwang mit Ausweis oder schlimmer. Schlimmer? Ja, das geht. Z.B. in Nigeria. Da wird von Regstrierungswilligen ein Ausweis verlangt (und dann kopiert). Dann werden zwei oder mehr Fingerabdrücke genommen (manchmal auch zehn), ein biometrisches Foto erstellt und schließlich ein Retina-Scan durchgeführt. Diese Daten (oder ein Subset davon, wer kann das schon kontrollieren?) landen vorgeblich in einer zentralen staatlichen Datenbank. Fun Fact: Bei Touristen wird die frisch erworbene SIM-Karte normalerweise nach zwei bis drei Tagen staatlicherseits deaktiviert, weil, so die sinngemäße SMS-Mitteilung, die bei der Registrierung bereitgestellten Identitätsdaten keine zweifelsfreie Identifizierung ermöglichten. Preise und Netzleistung sind aber sehr gut. Für zwei Tage.
So groß ist der Unterschied zu Deutschland da nicht. Ich habe einen Postpayed-Vertrag für’s Internet (Kabel-gebundenes Internet gibt es hier, wo ich wohne nicht). Als ich Anfang des Jahres im Shop war, um mich über die magere Bandbreite und Stabilität zu beschweren, empfahl mir der Mitarbeiter ein anderes Endgerät.
Anstatt also Minderung durchzusetzen für die Vergangenheit und Lösung meines Problems in der Zukunft durch den Netzbetreiber, liess ich mich darauf ein, ein neues Endgerät auf meine Kosten zu probieren.
Die nächste Abbuchung auf meinem Konto belief sich auf 98€ (statt der 31€ die im Gespräch waren). Ein Zugriff auf die Rechnung im Web funktionierte gerade nicht. Der Shop hatte Corona-bedingt geschlossen. Die Hotline war überlastet. Nach Wochen kam ich endlich durch, die Dame konnte zwar meinen Rechnungszugriff im Web reparieren aber nicht erklären, was das Problem war. Nur so viel: Ich hatte zwei Verträge.
Der Zugriff auf die Rechnung erlaubte dann auch zu sehen, wo das Geld blieb: Zwei Grundgebühren plus einer Anschlussgebühr. Die Hotline wollte oder konnte nicht helfen. Der Shop, der inzwischen wieder offen hatte und vor dem ich eine Stunde warten musste (in der zwei Kunden abgefertigt wurden) wollte das Problem auch nicht erkennen. Ich habe eben einen neuen Vertrag und neue Hardware und fertig.
Erst eine Beschwerde über den VD Verbraucherschutz Deutschland brachte dann den Netzbetreiber aus dem Häuschen und eine kompetente Mitarbeiterin meldete sich. Die Beträge wurden allerdings mitnichten sofort zurückgebucht sondern für die jeweiligen Rechnungsbeträge der Folgemonate gutgeschrieben (ohne Zinsen).
Gekostet hat mich das ganze stundenlanges Hinterhertelefonieren, Webseitenprüfen, Suchen und Nerven. Ich kann da nur recht geben: Das sind *alle* Wegelagerei oder „Pferdehändler, Zuhälter, Handyverkäufer, alles eine Mischpoke“.
Kleines Update: Habe herausgefunden, dass der Betreiber weiter in mein Konto greift: Nach Verbrauch dez Volumes bucht der automatisch bis zu 3 mal nach, jeweils für ca 5 €.
Und: Heute schaute ich mir die Bedingungen für die Nutzung von Ladestationen an, da bahnt sich ein ähnlicher Dschungel an. Und das sogar staatlich gefördert.
Dafür gab es in Argentinien als ich mal dort war kostenloses, anonymes WLAN auf den Subte-Stationen – lange bevor es das in Berlin gab! – und auch in vielen Cafés, Restaurants usw.