Die Europäische Kommission überlässt die Regulierung von politischer Werbung im Netz bislang den EU-Staaten und Plattformen wie Facebook. Einheitliche EU-Regeln für Wahlkämpfe oder Wahlwerbung gibt es nicht, deshalb darf die Kommission nur koordinieren. Umso überraschender war es, als sie gemeinsam mit dem Parlament und dem Rat kurz vor der Europawahl im Mai gegen einen Schritt Facebooks protestierte, staatenübergreifende politische Werbung zu verbieten.
Nun zeigt ein Briefwechsel zwischen Facebook und der Kommission, dass die Kommission nur wenige Wochen vorher gegenüber dem US-Konzern keinen Einspruch gegen dieses Verbot länderübergreifender Werbung erhob. Der Briefwechsel wurde auf Anfrage von netzpolitik.org öffentlich.
Angst vor unkontrollierter Einflussnahme wächst
Facebook ist die wohl wichtigste Plattform für politische Werbung im Netz. Kein anderes soziale Netzwerk hat innerhalb der EU so viele Nutzende, eine so hohe Reichweite. Parteien in ganz Europa geben in Wahlkämpfen Millionen aus, zuletzt geschah das bei der Europawahl Ende Mai. Allein in den letzten vier Wochen vor der Wahl zahlten in Deutschland Union, SPD, Grüne, Liberale, Linke und AfD gemeinsam mehr als 1,5 Millionen Euro an Facebook.
Die Rufe mehren sich, Wahlwerbung im Netz stärker zu regulieren. Initialzündung waren die Debatte um russische Desinformation bei der US-Wahl 2016 und der Datenskandal um Cambridge Analytica. Seither wächst weltweit die Sorge vor datengestützter Einflussnahme.
Politiker aus Europa und den USA fürchten insbesondere, soziale Netzwerke könnten zum Einfallstor für fremde Staaten werden. Das EU-Parlament warnte in einer Resolution im April vor „immer aggressiverer“ Desinformation aus Russland, aber auch aus China, dem Iran und Nordkorea.
Für Empörung sorgte zuvor auch, dass christliche Fundamentalisten aus den USA zielgerichtete Werbung in Irland schalteten, um Einfluss auf ein Referendum über die Liberalisierung des irischen Abtreibungsverbotes zu nehmen.
Einflusskampagnen aus dem Inneren können ebenso beunruhigend sein. In Großbritannien sorgte zuletzt gezielte Pro-Brexit-Werbung für Aufsehen. Eine praktisch unbekannte Gruppe schaltete binnen weniger Tage Anzeigen im Wert von zehntausenden Pfund. Die Financiers der Kampagne blieben im Dunklen.
In den USA konnte indes das Investigativportal ProPublica nachweisen, wie Ölkonzerne ihre Urheberschaft für Anzeigen verschleierten, die die umweltfeindliche Agenda von Präsident Donald Trump unterstützten.
Politische Werbung nur im Heimatstaat
Als Reaktion auf die wachsende Sorge vor Desinformation verpflichteten sich führende Internet-Plattformen in Europa zu freiwilligen Schritten. In einem mit der EU-Kommission ausgehandelten Verhaltenskodex gelobten sie im Herbst 2018 mehr Transparenz.
Facebook, Google und Twitter führten Archive für politische Werbung ein. Darin sind gesponserte Posts mit Infos zu Ausgaben und erreichten Gruppen abrufbar. Forscher halten die Angaben allerdings nicht für ausreichend, unter anderem fehlen Informationen über die Targeting-Kriterien, nach denen Werbetreibende ihre Zielgruppen zusammenstellen.
Im März verbot Facebook gesponserte Posts von Parteien und Politikern, die über die Grenzen von EU-Staaten hinweg gehen. Politische Werbung dürfe nur noch in dem Land gezeigt werden, wo die Auftraggeber sich per Identitätsnachweis registriert haben, kündigte Facebook an. Das soll den Schutz vor ausländischer Einflussnahme stärken.
Die wenige Wochen vor der Wahl verkündeten Regeln sorgten allerdings für einen Aufschrei. Denn die Parteien organisieren sich in der EU in länderübergreifenden Parteienfamilien. Bei der Europawahl schickten sie europaweite Spitzenkandidaten ins Rennen. Mit seinem Schritt verbot Facebook den Parteienfamilien jedoch, für Manfred Weber, Margrethe Vestager oder Frans Timmermans in allen 28 EU-Staaten zentral Anzeigen zu schalten.
„Kampagnen auf ein Land zu beschränken, ist das genaue Gegenteil von dem, was wir uns von der europäischen Demokratie wünschen“, kritisierte Guy Verhofstadt, damals Anführer der Liberalen im EU-Parlament. „Das tötet die Idee der europäischen Demokratie.“ Auch Sozialdemokraten, Linke und Grüne kritisierten Facebook.
Die EU-Institutionen schlossen sich den Protesten an. In einem offenen Brief an Facebook beklagten die Generalsekretäre von Kommission, Rat und Parlament, das Verbot als „bedenklich“. Denn damit verbiete Facebook auch transeuropäischen Anzeigen der EU-Institutionen, etwa Information für Wähler:innen. Der Konzern möge das Verbot überdenken, heißt es in dem Brief, der von Kommissions-Generalsekretär Martin Selmayr mitunterzeichnet wurde.
Facebook: „Wir bitten um Anleitung“
Der Schritt Facebooks kam für die Kommission aber alles andere als überraschend. Denn der Konzern kündigte das Verbot bereits am 6. Februar 2019 in einem Brief an die Kommissare Julian King, Vera Jourova und Mariya Gabriel an, wie die nun veröffentlichten Dokumente zeigen.
Facebook schrieb in dem Brief an die Kommission, es stelle ein „wesentliches Risiko für die Integrität der Wahlen“ dar, Werbekunden zu erlauben, in allen EU-Staaten zugleich Anzeigen zu schalten. Denn solche Anzeigen erleichterten Einmischung von außerhalb der EU. „Wir planen darum, Werbekunden nur in ihrem eigenen Sitzland das Schalten politischer Anzeigen zu erlauben“, schrieb der Chef von Facebooks Brüssel-Büro, Thomas Myrup Kristensen.
Der Konzern betont in dem Brief: „Wir schreiben Ihnen mit der Bitte um Anleitung in dieser wichtigen Frage, wie wir mit solchen [pan-europäischen] Organisationen umgehen sollen.“
Doch die Kommission erklärte sich in ihrer Antwort für unzuständig. Die Einhaltung der Wahlkampfregeln sei die „vordringliche Verantwortung“ der Mitgliedsstaaten. „Es steht der Kommission daher nicht zu, eine Position zur Einhaltung der von Ihnen geplanten Maßnahmen in Bezug auf geltenden nationalen Vorschriften einzunehmen“, schrieben die Kabinettschefs der drei Kommissare in ihrer Antwort am 22. Februar.
Kommission fühlt sich nicht verantwortlich
Die Kommission verweigerte eine Antwort an Facebook. Sie entzog sich damit der Verantwortung. Wenige Wochen später kritisierte die Kommission dann aber den Konzern für genau jenen Schritt, zu dem sie zuerst geschwiegen hatte.
Warum richtete die EU-Politik derart widersprüchliche Botschaften an Facebook?
Tatsächlich stimmt es, dass die Kommission keine Kompetenzen bei der Durchführung von Urnengängen hat. „Lassen Sie mich betonen, dass die Kontrolle und der Vollzug von Wahlen in den Aufgabenbereich nationalen Behörden fällt“, schrieb ein Kommissionsprecher auf Anfrage von netzpolitik.org.
Warum die Kommission jedoch dann den Protestbrief an Facebook mitunterschrieben hat, darauf wollte der Sprecher keine Antwort geben. Facebook reagierte nicht auf unsere Anfrage.
Der Briefwechsel zeigt, dass es bei politischer Werbung im Netz eine klaffende Regulierungslücke gibt. Seit dem Vorjahr versammelte die Kommission mehrfach Experten der nationalen Regierungen in Brüssel, um über die Herausforderung von Desinformation bei Europawahlen zu reden. Bereits bei den ersten Treffen Anfang 2018 stellte sich heraus, dass es in zahlreichen Staaten kaum Kontrolle über politische Werbung im Netz gibt.
„Brauchen effektive europäische Regelungen“
Im Europaparlament sorgt die Posse um das Verbot für hochgezogene Augenbrauen. „Der von Ihnen geschilderte Vorgang zeigt, dass es innerhalb der europäischen Institutionen noch Abstimmungsbedarf gibt“, sagte der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann gegenüber netzpolitik.org.
„Wir brauchen effektive europäische Regelungen, die einen fairen, sicheren und vor allem gesamteuropäischen Diskurs in sozialen Netzwerken ermöglichen. Dazu gehört mehr Transparenz in Online-Werbung, wie auch das Anpassen von Wahlgesetzen.“ Bullmanns sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament spricht sich für schärferes Vorgehen auf europäischer Ebene aus.
Handlungsbedarf sieht auch die designierte EU-Kommissionspräsidentin. Ursula von der Leyen beauftragte ihre künftige Vizepräsidentin für Werte und Transparenz, Vera Jourova, in einem Missionsschreiben, die Arbeit an einem neuen Europäischen Aktionsplan für Demokratie zu koordinieren. Der Aktionsplan soll Gesetzesvorschläge enthalten, die größere Transparenz bei politischer Werbung und klarere Regeln für die Finanzierung von EU-weiten politischen Parteien enthalten.
Von der Leyens Schreiben macht deutlich, dass der bisherige Ansatz zur Selbstregulierung der Plattformen bei politischer Werbung an seine Grenzen stößt. Denn die Internetfirmen haben kein Interesse, mit allzu großer Offenherzigkeit an ihrem eigenen Geschäftsmodell zu rütteln. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sollten die Chance ergreifen, die größtmögliche Nachvollziehbarkeit politischer Geldflüsse im Netz zu gewährleisten.
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