Überwachungskapitalismus: Wir steuern auf digitale soziale Kontrolle zu

Die rote Linie ist bei Weitem überschritten: Auf der „Das ist Netzpolitik“-Konferenz zeigte Wolfie Christl, dass IT-Unternehmen nicht nur in unsere Privatsphäre eingreifen, sondern auch in viele andere Lebensbereiche und Grundrechte. Wir brauchen schnell kollektive Lösungsansätze, die nicht bei den großen Plattformen haltmachen.

Datenforscher Wolfie Christl auf der „Das ist Netzpolitik!“-Konferenz in der Volksbühne. CC-BY 4.0 Jason Krüger

Auf unserer diesjährigen „Das ist Netzpolitik“ -Konferenz gab Wolfie Christl einen Einblick in die kommerzielle Überwachungslandschaft. Der Datenforscher aus Wien beschäftigt sich seit 2012 im Rahmen des unabhängigen Forschungsinstituts Cracked Labs mit dem Ausmaß und den Auswirkungen des Überwachungskapitalismus. Wer nicht bei seinem Vortrag dabei sein konnte, kann ihn hier anschauen (oder direkt unten in diesem Artikel). Für einen sehr detaillierten Einblick in Wolfies Forschung, findet ihr hier seine frei zugänglichen Forschungsberichte der letzten Jahre. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die wichtigsten Punkte seines Vortrags. Alle anderen Aufzeichnungen unserer Konferenz findet ihr hier.

Landkarte des Überwachungskapitalismus

Seitdem 2007 das erste iPhone auf den Markt kam, ist viel passiert im Bereich Online-Marketing. Damals begann man gerade erst zu erahnen, welchen ungemeinen Vorteil das Internet für das Ausspielen von Werbeanzeigen bieten würde: Im Vergleich zu Werbung in Print-Medien oder im Fernsehen erlaubt das Internet die Nutzung individueller Daten für möglichst zielgerichtete Werbeanzeigen an die eigene Zielgruppe. Über die letzten zehn Jahre ist eine hochentwickelte Industrie kommerzieller Überwachung entstanden, die schon längst nicht mehr auf den Bereich der Online-Werbung beschränkt ist.

Das Internet ist ein Ort kommerzieller Überwachung in Echtzeit geworden, die jedes kleinste Detail unserer Online-Aktivität registriert. Nutzer*innen stehen tausenden Unternehmen gegenüber, die versuchen sie auf der Basis personenbezogener Daten zu kategorisieren, einzuschätzen oder zu manipulieren. Diese Echtzeitüberwachungsmaschine greift in alle Lebensbereiche ein, auch in Kernbereiche wie Gesundheit oder Bildung. Kommerzielle Überwachung lauert überall, sogar im „Staubsaugerroboter, der Wohnungspläne anfertigt und die dann verhökert“, so Christl.

Die Datenströme, die durch unsere Online-Handlungen in Bewegung gesetzt werden, wirken sich in Echtzeit darauf aus, was uns angezeigt wird, welche Auswahlmöglichkeiten wir haben, wie lange wir in einer Warteschleife hängen und vieles mehr. Auf der Basis unseres Verhaltens werden Voraussagen gemacht. Nutzer*innen werden ausgetrickst oder versucht zu beeinflussen. In der „Verbraucherdaten- & Analyse-Industrie“ seien insbesondere die Bereiche Finanzdienstleistungen und -technologien gefährlich:

Es entstehen gerade jede Menge Dienste – die machen etwa Zugang und Konditionen von Finanzdienstleistungen davon abhängig, wann jemand telefoniert, wohin sich jemand bewegt, welche Suchbegriffe jemand nutzt oder welche Freunde jemand hat. Natürlich formulieren sie das positiv und reden von finanzieller Inklusion. Aktuell werden solche Dinge eher in ärmeren Ländern getestet, aber nicht nur. (…) Hier ist die rote Linie bei Weitem überschritten: Wenn jede meiner Alltagshandlungen darauf Einfluss haben kann, ob man kreditfähig gestellt wird, dann ist das im Endeffekt so etwas wie eine elektronische Fußfessel.

Gefährliches Gegenmodell: Transparente Überwachung

Doch bei aller Kritik an Intransparenz und verstecktem Profiling sollte Vorsicht geboten sein. Das Gegenmodell sei vielleicht sogar noch gefährlicher. Denn wenn Unternehmen offenlegen, welche Daten sie für welche Zwecke sammeln, könnte dies dazu führen, dass Menschen mit guter Kreditwürdigkeit oder einem perfekten Lebenslauf ihre Daten freiwillig offenlegen, weil sie sich davon Belohnungen erhoffen. Alle anderen könnten zur Offenlegung ihrer Daten gezwungen werden, indem man ihnen ansonsten den Zugang zu Finanzdienstleistungen verwehrt. So können sich Systeme digitaler sozialer Kontrolle entwickeln, die überwachen, strafen und belohnen:

Wenn (…) Systeme transparent machen, welche Verhaltensweisen gut sind und welche schlecht und diese belohnen und betrafen, sind sie Systeme digitaler sozialer Kontrolle – mit massiven Folgen für Autonomie, Handlungsfreiheit und Menschenwürde.

Wäre ohne die großen Plattformen alles gut?

So viel steht fest: Es bedarf kollektiver rechtlicher und politischer Lösungen, „die es uns ermöglichen, Technologie zu nutzen und an Gesellschaft teilzunehmen, ohne permanent Angst davor haben zu müssen, von kommerziellen (wie staatlichen) Institutionen bewertet oder manipuliert zu werden“.

Dabei reiche es jedoch nicht aus, nur die großen Plattformen zu regulieren. Denn um diese herum hat sich eine verteilte Überwachungsökonomie gebildet, die so vernetzt ist, dass auch einzelne Micronutzungsprofile zu umfassenden Profilen verknüpft werden können. Die alleinige Regulierung der Big Players bringt uns nicht weiter – wir würden trotzdem über Lebensbereiche hinweg und in Echtzeit beobachtet werden.

Es muss vielmehr an verschiedenen Rädchen gleichzeitig gedreht werden:

  • Verarbeitung personenbezogener Daten: Die europäische Datenschutzgrundverordnung ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, jedoch bedarf es darüber hinaus viel weitreichenderer Regeln. Auf der Zustimmung der ePrivacy-Verordnung muss beispielsweise weiterhin beharrt werden.
  • Erlaubte Datennutzung: Regelungen zur Datennutzung, die festlegen, welche Art von Daten für welche Anwendungen genutzt werden dürfen, müssen geschaffen werden.
  • Datenmacht: Die Datenmacht der großen Plattformen muss gebrochen werden. Dazu gehören ein schärferes Wettbewerbsrecht, Auflagen zur Interoperabilität und eine bessere Besteuerung.
  • Förderung alternativer Lösungsansätze: Digitale Innovationen müssen unsere Grundrechte, Gerechtigkeit, Autonomie, Menschenwürde und Demokratie respektieren und sollten unter Open-Source-Lizenzen veröffentlicht werden.
  • Wissen aus Big Data zugänglich machen: Es müssen Wege gefunden werden, die Potenziale von Big Data für gemeinwohlorientierte Anwendungen zu nutzen – ohne kommerzielle Massenüberwachung und mit rechtlichen Regelungen für die Anwendung des extrahierten Wissens.

 

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7 Ergänzungen

  1. Ein interessanter Vortrag von hoher Informationsdichte.

    Auf den Gesetzgeber sollte man hier nicht bauen dürfen. Staat und Wirtschaft reichen sich die Hand, profitieren von Synergien.

    Die NutzerInnen könnten Einfluss nehmen, verfallen aber zu oft dem Reiz von Bequemlichkeiten.

    Gegenüber den täglichen „Datenlecks“ ist man inzwischen weitgehend abgestumpft. Auch das ‚weaponizing of information‘ wird nicht als Gefahr wahrgenommen bzw. – falls doch – verdrängt.
    Die Intransparenz von automatisierten Entscheidungen macht es unmöglich, Zusammenhänge herzustellen, um Verantwortliche zu stellen.

    Die „unteren“ 99 Prozent der Bevölkerung werden sich auf legale Weise dem Überwachungskapitalismus leider nicht entziehen können.
    Die Einprozenter hingegen herrschen entweder über diese Überwachungssysteme oder können sich Privatheit erkaufen; denen müsste man ihre eigene Medizin verabreichen.

    1. ^^ Exakt. Aber hacken ist illegal und wenn jmd wie du damit anfängt, 1%er anzugreifen, dann gnade dir Gott dass du nicht erwischt wirst!

      Auf breiter Fläche ist der Kampf mE. verloren, denn zu viele Leute scheißen auf Privatsphäre & allerlei Konsequenzen.

      Was möglicherweise hilft, ist wieder mehr gewöhnliche Leute zu hacken die nichts zu verlieren und zu verbergen haben. Wenn das genug von denen passiert, könnte es viral gehen und sie dazu bringen wieder anzufangen zu denken. Kann aber auch übel nach hinten losgehen.

      Ich weis nicht ob es noch einen Ausweg gibt, habe mir das China-Modell angesehen und da gibt es eigentlich auch fast nur noch eine Lösung: sich überwachen lassen und verhalten wie ein guter Bürger. Wenn man etwas außer der Reihe macht komplett sicherstellen, dass es nicht aufgezeichnet wird, oder man notfalls die richtigen Leute schmieren / Beweise vernichten kann.

      Alles keine rosigen Aussichten…

      1. Einerseits gebe ich ihnen recht. Die Gefahr, die Überwachung mit sich bringt, muss für den Einzelnen spürbar werden.
        Halte es aber für den falschen Weg, Lieschen Müller durch den „Hack“ ihres FB-Accounts zu schaden; Man sollte sich mit „gewöhnlichen“ Usern solidarisieren, Gemeinsamkeiten aufzeigen, die Argumentation entsprechend anpassen.
        Die Herrschaftstaktik „Divide et impera“ fruchtet schon genug. Die Schlacht um den Hambacher Forst ist ein aktuelles Beispiel:
        Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Das rechts-konservative Lager schlägt sich trotz anzunehmender Heimat- und Naturverbundenheit auf die Seite eines Konzerns. Dabei müsste es ein Kampf zwischen oben und unten sein, nicht zwischen links und rechts.
        Die Einprozenter leben zu gut geschützt. Geld und Macht vergrößern ihren Hofstaat mit jedem Tag. Die einzige uns verbleibende spitze Waffe ist Konsensus.
        Die Dezentralisierung aller Lebensbereiche (Geld, Information, Regulation) könnte der Menschheit die Befreiung bringen. Sie kostet aber viel Energie, Silizium, Zeit und Bequemlichkeit.
        Spoiler: Der Übergang in eine solche Gesellschaft könnte friedlich verlaufen, wenn eine mediale Deutungshoheit es nicht zu verhindern wüsste.

    2. @C. Sowak Auf breiter Fläche ist der Kampf mE. verloren, denn zu viele Leute scheißen auf Privatsphäre & allerlei Konsequenzen.
      Damit haben Sie alles auf den Punkt gebracht.

  2. An dystopischer Weitsicht mangelt es den Wenigsten.Anders sieht es bei mutigen Taten aus.

    Bla bla bla…

    1. Machen Sie gerne Vorschläge.

      Mut oder Aktivismus werden zunehmend kriminalisiert, außerdem dank predictive policing im Keim auch bald erstickt.
      Es ist keine große Neuigkeit, dass Überwachung menschliches Verhalten verändert. Das wussten schon viele für sich zu nutzen.
      Der Ausbau des IoT mit all seiner Sensorik wird unseren Lebensraum zu einem Panoptikum machen, mit dem Unterschied, dass ein jeder von uns seinen eigenen Überwacher bekommt (die KI).

      https://de.wikipedia.org/wiki/Presidio_Modelo#/media/File:Presidio-modelo2.JPG

  3. Tja, dann sollten die Netzaktivisten aus der Parallelwelt entkommen und dann doch mal auf die Straße gehen…https://freiheitstattangst.de/
    Geht direkt gegen die staatliche Überwachung. Protest im Netz ist gut, Protest auf der Straße ist wichtiger.
    Auf gehts.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.