Heute findet im Bundestag ein öffentliches Fachgespräch zum Thema „Gesetzgebung zur Netzneutralität – aktuelle Entwicklung“ statt. Die Sitzung des Ausschusses „Digitale Agenda“ wird im Bundestags-TV live übertragen und beginnt um 16h. [Update: Die Sitzung ist mittlerweile in voller Länge in der Bundestags-Mediathek verfügbar.]
Als Sachverständige geladen sind Wilhelm Eschweiler, Vizepräsident der Bundesnetzagentur, Bernhard Rohleder vom IT-Branchenverband Bitkom, Thomas Lohninger von der Initiative für Netzfreiheit, Alexander Sander von Digitale Gesellschaft e.V. und Ben Scott von der Stiftung neue Verantwortung.
Im Vorfeld haben einige der geladenen Sachverständigen schriftlich Stellung zum vorab verteilten Fragenkatalog genommen. Allzu überraschend fielen die Aussagen nicht aus, versprechen jedoch eine zumindest stellenweise amüsante Sitzung. Bitkom etwa kritisiert die Haltung des EU-Parlaments, das strenge Netzneutralitätsregeln einfordert: „Gesetzliche Regelungen der gegenwärtig im Europäischen Parlament diskutierten Art würden das Internet, wie wir es kennen, gefährden,“ heißt es in der Stellungnahme. Überhaupt sei der Begriff „Netzneutralität“ wissenschaftlich umstritten und nicht im Sinne eines einheitlichen Verständnisses geklärt:
Ein absolutes und dogmatisches Verständnis von Netzneutralität geht an den tatsächlichen Gegebenheiten in den Netzen vorbei und würde im Falle der Umsetzung die Aufrechterhaltung der verschiedenen Netzfunktionalitäten erschweren sowie die Integrität und Sicherheit der Netze gefährden. Besonders kritisch ist die Festschreibung eines dogmatischen Verständnisses von Netzneutralität.
Der Branchenverband möchte das Best-Effort-Prinzip erhalten, aber gleichzeitig bevorzugt behandelte Spezialdienste zulassen, um die Innovationsfähigkeit und „Investitionskraft der TK-Industrie“ nicht zu gefährden. Als Beispiel führt Bitkom „E-Health-Anwendungen in der Notfallmedizin“ an und meint ferner:
Grundsätzlich müssen mögliche Vorgaben zu Traffic Management und Volumengrenzen für Daten flexibel genug bleiben, um differenzierte Angebote im Einklang mit den Anforderungen der Kunden zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere auch für Angebote wie Zero-Rating und damit Shared-Cost-Dienste. Eine abschließende Aufzählung von Ausnahmen erweist sich daher grundsätzlich als kritisch. Insbesondere eine Verpflichtung der Netzbetreiber Datenverkehr nicht zu verändern erweist sich als zu strikt, um Endkunden eine optimale Leistung zu bieten. Beispielsweise wäre es damit nicht möglich Endkunden für die jeweils genutzt Bildschirmgröße optimierte Darstellungen zur Verfügung zu stellen. Eine solche Optimierung würde den Inhalt als solchen nicht verändern, jedoch eine Änderung der Daten voraussetzen.
Offenbar soll es Aufgabe des Netzbetreibers sein, das richtige Format und die richtige Auflösung für die Nutzer auszuwählen, anstatt das wie bisher der Server-Anwendung zu überlassen, die sich mit dem Client auf eine sinnvolle Übertragung einigt. Jedenfalls wäre es nicht das erste Mal, dass Gegner von Netzneutralität Beispiele an den Haaren herbeiziehen, um ihre Position zu untermauern. In Wirklichkeit geht es natürlich darum, Geld zu verdienen, wie Ben Scott schreibt:
Die Netzbetreiber haben ganz eindeutig ihre Absicht kundgetan, für bestimmte besonders bevorzugte Inhalte Bezahlmodelle zu entwickeln. Und dies wird auch passieren, sofern die betreffenden Aufsichtsgremien die Änderung im zugrundeliegenden Prinzip der Gleichbehandlung zulassen, das eine der Grundfesten des Internets darstellt, so wie wir es kennen. Es gibt keinen Grund an ihrem Wort zu zweifeln, denn diese Firmen sind an ihre unternehmerischen Verpflichtungen gebunden, ihre Einnahmen und Gewinne zu steigern und das Aktionärsvermögen zu mehren. Jede andere Vorgehensweise – sofern die Regulierung sie denn zuließe – wäre eine unerwartete Wendung.
Er verweist auf konkrete Erfahrungen mit solchen Modellen, die sich besonders im mobilen Bereich breit gemacht hätten, wo „diskriminierende Routing- und Preisfestlegungsverfahren“ häufig anzutreffen seien. Zahlreiche Betreiber hätten bereits in der Vergangenheit VoIP- oder Peer-to-Peer-Anwendungen sowie andere Dienste mit hoher Bandbreite und niedriger Latenz blockiert oder gedrosselt – und verstecken solche Regelungen gerne im Kleingedruckten. Gegen Spezialdienste würde im Prinzip nichts sprechen, solange sie über physikalisch oder logisch getrennte Zugangskanäle angeboten werden:
Sie dürfen dann aber nicht als Internetzugang oder als Paket zusammen mit einem Internetzugang angeboten oder in einer Art und Weise verwendet werden, in der das Prinzip der Netzneutralität eines Internetzugangsprodukts vorsätzlich oder ursächlich verletzt würde. Diese Spezialdienste sollten einer wachsamen Beaufsichtigung und strenger Transparenz unterliegen, falls und wann immer sie auf den Markt kommen.
Das würde das Problem lösen, dass es technische keine Möglichkeit gebe, für bestimmte Datenströme im Internet eine priorisierte Servicequalität anzubieten, ohne andere Datenströme einzuschränken. Denn technisch betrachtet gehe es in der Debatte um Netzneutralität darum, „wie in einer Netzwerkverbindung zwischen einem Inhalte-/Diensteanbieter und einem Endbenutzer bei bestimmten Routern oder über bestimmte Links hinweg auf Datenengpässe oder Paketverluste reagiert werden soll.“ Solange der gesamte Verkehr auf demselben Medium übertragen wird, gebe es nur zwei Wege, um Qualitätsprobleme zu umgehen: Entweder eine Erhöhung der Kapazität für alle, um einen höheren Datendurchsatz zu ermöglichen und somit Datenengpässe zu verringern; oder – wie es die TK-Branche, der EU-Rat und Kommission gerne regeln würden – Datenengpässe durch den Verkauf von Prioritätszugängen zu monetarisieren. Als Konsequenz bedeutet das freilich eine gleichzeitige Verschlechterung der Leitungsqualität für alle anderen:
Jede Priorisierung von Paketen an Engstellen im Netzwerk, mit der diese Anforderung an eine höhere Servicequalität honoriert werden soll, führt aber automatisch zu einer Verringerung der verfügbaren Bandbreite aller anderen Datenströme in der Warteschlange und damit zu einer Einschränkung (oder Unterbrechung) bei der Bereitstellung nicht priorisierter Daten.
Ähnlich sieht das auch Thomas Lohninger, der zudem den dann möglichen doppelten Markt für Provider ins Feld führt, sollten Spezialdienste auf demselben Medium erlaubt werden:
Diese Reklassifizierung würde es Telekomanbietern ermöglichen einen doppelten Markt zu eröffnen, in welchem Online-Diensteanbieter sich von diesen einen bevorzugten Zugang zu dessen Kunden kaufen könnten. Damit wäre das Zwei-Klassen-Internet festgeschrieben und das Prinzip der Netzneutralität Geschichte. Durch einen solchen doppelten Markt wären die Anbieter von Online-Diensten in der Situation, entweder ihre Dienste in minderer Qualität als ihre Konkurrenz anbieten zu müssen oder mit jedem Telekomanbieter eigene Verträge über den Zugang zu dessen Kunden aus zu verhandeln.
Davon würden Marktführer profitieren, die es sich leisten könnten, für den bevorzugten Zugang zum Kunden zu bezahlen, im Unterschied zu Neuankömmlingen am Markt. In weiterer Folge würde das zu einer Konsolidierung des gesamten Marktes führen, und neue Anbieter von Online-Diensten, die innovative Idee voran bringen, könnten sich schwer bis gar nicht auf dem europäischen Markt etablieren.
Von der Bundesnetzagentur und von Digitale Gesellschaft e.V. liegen derzeit keine schriftlichen Stellungnahmen vor. Die aktuelle Position der Regulierungsbehörde ist insbesondere vor dem Hintergrund der letzte Woche in Kraft getretenen Regeln für Netzneutralität in den USA spannend. In den laufenden Trilog-Verhandlungen auf EU-Ebene vertritt Deutschland im Ministerrat bekanntlich weitgehend die Wünsche der Providerlobby, während unser Digitalkommissar Günther Oettinger vor der Einführung des Sozialismus durch die Tür der Netzneutralität warnt.
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