Kranke Bundestagsabgeordnete sollen nicht über Twitter an Debatten teilnehmen

Der neue Ausschuss Digitale Agenda hat als eines seiner Ziele genannt, sich für Partizipation und Teilhabe mithilfe digitaler Möglichkeiten einzusetzen, damit Bürgerinnen und Bürger einfacher ihre Meinung in politische Diskussionen einbringen können.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, das hat eine Debatte in der gestrigen Plenarsitzung des Bundestages deutlich gemacht. Im Tagesordnungspunkt zur Lage in der Ukraine sendete Sevim Dagdelen, eine Abgeordnete der Linken einen Tweet zur Diskussion als Kritik auf einen Redebeitrag der Grünen:

Während des Redebeitrags Andrej Hunkos, seinerseits ebenfalls Mitglied der Linken, meldete sich Britta Haßelmann, B90/Grüne zu Wort, verlaß den Tweet (ab 37:20 min) und meinte, Dagdelen verfolge die aktuelle Debatte nicht im Plenum und kommentierte aus der Ferne, sie fände den Kommentar unerträglich. Dagdelen hatte die Debatte wohl auf Phoenix verfolgt, da sie durch einen Arztbesuch verhindert war. Haßelmann forderte Andrej Hunko dazu auf, sich von dem Tweet zu distanzieren, denn „davon gehört es sich zu distanzieren“. Als Hunko das nicht tat, da er den Tweet nicht kenne, kam es zu großem Aufruhr mit zahlreichen analogen Zwischenrufen, die die Debatte sicherlich mehr gestört haben als der obige Tweet.

Hier klicken, um den Inhalt von www.youtube.com anzuzeigen

Nach Hunkos Redebeitrag äußerte sich auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (ab 41:10 min). Sein „Stilempfinden“:

Es verbietet sich von selbst, dass jemand, der an der Debatte nicht teilnimmt, gleichzeitig über welches Medium auch immer diese Debatte kommentiert.

Schade, wenn die Ansichten über Beteiligung immer noch so verkrustet sind. Und wenn es sich schon für Abgeordnete verbietet, mit digitalen Hilfsmitteln bei Abwesenheit zu partizipieren, wie soll die Situation dann für Bürger aussehen? Digitale Demokratie geht anders.

12 Ergänzungen

  1. Nachrichtensprecher, Zeitungsartikelschreiber und Blogger, es verbietet sich von selbst, dass jemand, der an der Debatte nicht teilnimmt, gleichzeitig über welches Medium auch immer diese Debatte kommentiert.

  2. Ich finde es unerträglich, wenn ein Bundestagspräsident die Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken will, nur weil eine Abgeordnete nicht im Bundestag sitzt. Wie hätte er denn reagiert, wenn die Abgeordnete dagewesen wäre?

  3. Naja, das würde ich nicht so reflexartig schlecht finden. Schließlich hat eine Bundestagsdebatte eine gewisse formelle Gestalt (Abfolge von Reden im Plenum mit Möglichkeit zur Zwischenfrage, …) und einen bestimmten Zweck (Meinungsbildung der Abgeordneten, …). Beispielsweise werden die Zwischenrufe mitprotokolliert. Das geht gegenwärtig nur, wenn der Rufer im Plenum sitzt.

    Wenn es mögich sein soll, „Remotezugang“ zu Debatten zu haben, sollte das diskutiert udn entsprechend geregelt werden. Ich bin mir nicht sicher, ob das automatisch gut wäre – da gibt es sicher einige interessante Argumente.

    1. Was ist bei ihr anders, als bei einem Twitterer, der kein Bundestagsabgeordneter ist? Warum darf sie den Livestream nicht auf Twitter kommentieren, und ich darf das? Sie hat ein Recht darauf, ihre Meinung zu äußern und sie hat ein Recht auf Meinungsfreiheit.

    2. „und einen bestimmten Zweck (Meinungsbildung der Abgeordneten, …)“

      Das trifft nur zu, wenn die Fraktionsdiktatur explizit aufgehoben wurde. Ansonsten stehen die Meinungen der Parteivorsitzenden fest und somit auch wie abgestimmt wird.
      Ansonsten geht es bei der Debatte NICHT um einen Remotezugriff auf die Debatte.

    3. Die formelle Ordnung der „Debatte“ wurde dann doch insofern herbeigeführt, da jemand der teilnehmenden MdB den Tweet verlesen hat. Erst dadurch kam das in die aktuelle Sitzung. Wenig sinnvoll, das dann der Tweet-Schreiberin vorzuwerfen. Zumal diese sich auch äußern darf, ohne bei der Debatte vor Ort zu sein.

  4. Wie sollte man denn eine solche Art der Beteiligung realisieren?

    Ich bin durchaus der Meinung dass eine solche Beteiligung Sinn ergibt, aber in dieser hier genannten Situation hätte ich ähnlich reagiert. Twittern kann sie ja soviel sie möchte, aber das Vortragen von Tweets im Bundestag ist nicht Zielführend.

    1. Vorgelesen wurde der Tweet von einer Bundestagsabgeordneten der Grünen, dafür kann die Absenderin des Tweets überhaupt nichts und auch an dich die Frage, warum sollte eine Bundestagsabgeordnete nicht über den Livestream der Bundestagsdebatte twittern dürfen, wenn sie nicht im Bundestag anwesend ist?

      1. Ich zitiere mich mal selbst: „Twittern kann sie ja soviel sie möchte, aber das Vortragen von Tweets im Bundestag ist nicht Zielführend.“

        Lammert wird auch genau das gemeint haben.

  5. hm, der Tweet war ja nicht dazu gedacht, Teil der Debatte im Plenum zu werden, sondern wurde es ja nur, da er aufgegriffen und vorgelesen wurde.
    Sonst wäre es ja wirklich so wie Martin oben schrieb.

    Wenn überhaupt, müsste man den Anwesenden verbieten, „während der Arbeit“ zu twittern und zu surfen ;-)

    So, wie Herr Lammert es ausgedrückt hat, würde es schon alle Menschen treffen, wobei ichmir fast sicher bin, dass er nur Abgeordnete meinte.
    Aber die Frau beim Arzt hat ja auf Twitter kommentiert und ich sach mal, das darf sie auch und sollte es auch dürfen.

    1. „Wenn überhaupt, müsste man den Anwesenden verbieten, “während der Arbeit” zu twittern und zu surfen ;-)“

      Und das ist natürlich der eigentlich Skandal, dass ein „Debatten“teilnehmer auf Twitter rumhängt, statt sich auf die Debatte zu konzentrieren… ;)

  6. Der Fehler dürfte bei Frau Haßelmann liegen, die einen unsachlich Tweet (von wem auch immer) in die parlamentarische Diskussion einbindet.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.