Joe McNamee, der European Policy Affairs Coordinator von European Digital Rights (EDRi), hat für die britische Plattform Index on Censorship die aktuellen Pläne der EU-Kommission zur Einführung von Netzsperren kommentiert: Out of sight, out of mind. Dazu hab ich ihm ein paar Fragen gestellt, um Licht in die Sache zu bringen, die er mir rasch beantworten konnte. Hier ist das Interview:
netzpolitik.org: Cecilia Mälmström hat heute eine Initiative zur Bekämpfung von Kinderpornographie im Netz vorgestellt. Sind diese Pläne neu?
Joe McNamee: Ja und nein. Die Idee der Kommission, Internetsperren einzuführen, ist nicht neu. Im März 2009 gab es einen “Rahmenbeschluss“, der vor des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon nur eine Vereinbarung der Mitgliedstaaten darüber war, etwas zu unternehmen, ohne jedoch die Macht der Kommission zu haben, eine Umsetzung zu erzwingen. Mehrere Mitgliedstaaten, allen voran das Vereinigte Königreich, lehnten den Vorschlag ab, da sie keine Zensur haben und auch nicht wollen. Dieser Ansatz, die „Selbstregulierung“ (d.h. durch Drohungen wie „entweder sperrt ihr oder wir sagen ihr unterstützt Kindesmisshandlung“ Zwang auf die Internetprovider auszuüben) wurde von der Kommission in ihrer Folgenabschätzung des Vorschlags für rechtswidrig erklärt, denn „solche Maßnahmen müssen rechtlich geregelt sein oder sie sind rechtswidrig“.
Hier ist die Zusammenfassung der Folgenabschätzung auf Deutsch. Und die komplette Folgenabschätzung ist nur auf Englisch erhältlich.
Infolgedessen veröffentlichte die Kommission im Juni letzten Jahres eine unverbindliche Mitteilung zum Stockholm Programm. Diese schlug sowohl Internetsperren als auch den „Entzug“ von IP-Adressen von Internet-Anbietern vor.
Es gibt es zwei neue und entscheidende Unterschiede:
1. Es handelt sich um den ersten Vorschlag für bindende und durchsetzbare Rechtsvorschriften.
2. Dieser neue Vorschlag der Kommission empfiehlt Mitgliedstaaten, mit allen angemessenen Mitteln ein hinreichend hohes Sperrniveau einzuführen.
Die Forderung nach einem Gesetz wurde vermieden und Einwänden von Ländern wie dem Vereinigten Königreich so aus dem Weg gegangen. Die Kommission ist von dem Standpunkt abgerückt, nicht auf Gesetzen basierende Sperren als rechtswidrig anzusehen, um jetzt bewusst den Vorschlag so anzupassen, dass er den (nach ihrer Definition) rechtswidrigen Ansatz unterstützt.
netzpolitik.org: Die Kritik an den Plänen äußert sich vor allem an dem Punkt Netzsperren, was in Deutschland ein großes Thema im vergangenen Jahr war. Was ist falsch an dieser Idee?
Joe McNamee: Dies ist ein sehr vielseitiges Thema, zu dem letztes Jahr Aconite eine 200 Seiten lange Studie veröffentlichte. Die Kurzfassung ist wirklich zu empfehlen. Im Wesentlichen gibt es bei dem Thema Internetsperren mehrere Problemfelder und meiner Meinung nach genügt schon eines dieser Felder für sich, um Netzsperren abzulehnen.
a. Kinderschutz: Die Inhalte bleiben online. Sie bleiben in Ländern online, denen wir zutrauen könnten, dass sie diese Inhalte löschen lassen. Dadurch bleiben Opfer ungeschützt, werden nicht identifiziert und Kriminelle werden nicht verfolgt.
b. Die Technologie nimmt unüberschaubare Ausmaße an: die derzeit genutzte Technologie funktioniert nicht. Wenn einmal dem Prinzip des Sperrens zugestimmt wird, werden die Sperrmethoden immer invasiver. Es gab bereits einen Vorschlag und die Umsetzung von Virgin Media von Deep Packet Inspection in Großbritannien.
c. Die Mission nimmt unüberschaubare Ausmaße an: Wenn erst dem Sperren von kinderpornograpischen Seiten zugestimmt wird, dann ist es undenkbar, dass sich das Prinzip nicht auf Glücksspiele, geistiges Eigentum, oder wie in Litauen auf „familiäre Werte“ ausdehnt.
d. Durch den Vorschlag wurde bereits Schaden angerichtet, selbst wenn er letzten Endes nicht angenommen wird. Er untergräbt unsere Möglichkeiten, auf internationaler Ebene für Redefreiheit einzutreten. Zu Recht können Iran und China lachen, wenn wir gleichzeitig kritisieren und eine auf Inhalte bezogene Sperrinfrastruktur aufbauen.
netzpolitik.org: Aber nicht nur Netzsperren kommen in den Plänen vor. Was sind weitere Themen in den heute vorgestellten Plänen, die digitale Bürgerrechte gefährden könnten?
Joe McNamee: Die Maßnahmen zur Haftung gegenüber Dritten könnten gefährlich sein, obwohl sie aus dem Übereinkommen des Europarates über Computerkriminalität übernommen wurden und, zumindest bis jetzt, noch keine Probleme bereitet haben. Jedoch kann sich dies, angetrieben durch ACTA, ändern.
netzpolitik.org: Wie sind die weiteren politischen Schritte auf EU-Ebene und gibt es schon einen Zeitplan auf Seiten der EU-Kommission?
Joe McNamee: Als nächstes wird die Kommission versuchen, das Europäische Parlament zu überzeugen. In den kommenden vier Monaten wird der Ausschuss für Kultur und Bildung des Parlaments eine Stellungnahme vorlegen. Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres erarbeitet dann einen Bericht, über den schließlich in einer Plenarsitzung abgestimmt wird.
netzpolitik.org: Im EU-Parlament gibt es eine konservative Mehrheit. Wie schätzt Du die Chancen ein, hier eine Mehrheit gegen Netzsperren zu organisieren?
Es ist ein bisschen unfair zu glauben, dass Konservative automatisch populistische Politik unterstützen. Es gibt viele Konservative, die dazu bereit sind, sich Themen wie diesen zu öffnen und zu verstehen. Ein großes Problem ist aber, dass eine italienische konservative Abgeordnete, die für Internetsperren ist, die Hauptverantwortung für die Arbeit zu diesem Thema hat. Ich würde sagen, dass zurzeit die Chancen 40% zu 60% gegen uns stehen. Aber es wurden schon unwahrscheinlichere Siege errungen und mit genügend Mobilisierung können wir gewinnen.
netzpolitik.org: Was können unsere Leser tun, um aktiv zu werden und diese Pläne zu verhindern?
Joe McNamee: Deutsche MdEPs spielen eine große Rolle für den Bericht. Die deutsche CDU-Abgeordnete Sabine Verheyen ist Schattenberichterstatterin für die Konservativen im Kulturausschuss, die deutsche FDP-Abgeordnete Nadja Hirsch ist Schattenberichterstatterin für die Liberalen im Kulturausschuss und die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel (die sich schon mit dem Dossier befasst hat) ist Schattenberichterstatterin im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, der für den endgültigen Bericht verantwortlich ist. Die Leser können die Mitglieder des Parlaments und vor allem die Mitglieder der Ausschüsse für Kultur und für bürgerliche Freiheiten kontaktieren, indem sie sie – am besten persönlich – anschreiben und die Probleme und Nachteile erklären, die gegen Internetsperren sprechen.
netzpolitik.org: Vielen Dank für das Interview.
Und danke an Vasistas? für die Hilfe bei der Übersetzung!
Danke für den Beitrag!
Wenn ich auf die Kleinigkeit hinweisen dürfte:
„britische Plattform Index on CenSorship“
(Tippfehler im 1. Abschnitt)
(Kommentar braucht nicht veröffentlicht werden).
da hat sich ein Übersetzungsfehler in der 1. Antwort Punkt c. eingeschlichen.
Ich denke
Die Aufgaben der Sperren wuchern (mir ist keine besser Übersetzung eingefallen) Sobald die sperren von kinderpornograpischen Seiten akzeptiert worden sind ist es völlig unvorstellbar, dass sie auf Glücksspiele, geistiges Eigentum, oder wie in Litauen auf „familiäre Werte“ ausgeweitet werden.
währe eine treffendere und korrekte Übersetzung
ansonsten ein schöner Beitrag
MfG Mirak
@Mirak Gute Idee, das Wort „wuchern“ für den Begriff „creep“ zu benutzen… im Englischen ist das recht klar und anschaulich, aber für eine knackige Übersetzung ins Deutsche bereitet es Kopfzerbrechen ;) Danke!
@Mirak Gute Idee, das Wort „wuchern“ für den Begriff „creep“ zu benutzen. Im Englischen ist das klar und anschaulich, bereitet aber für eine knackige übersetzung ins Deutsche Kopfzerbrechen… Danke!