Im Jahr 2024 gab es mindestens 296 Internet-Abschaltungen in 54 Ländern, so viele wie noch nie. Das berichten die Nichtregierungsorganisation Access Now und die KeepItOn-Koalition in ihrem jährlichen Bericht über globale Internet-Shutdowns.
Vor allem Regierungen setzen Internetsperrungen als Zensurinstrument ein, doch auch mehr und mehr ausländische Akteure würden vor allem in Konfliktsituationen für Internetausfälle sorgen. Insgesamt sei eine beunruhigende Normalisierung von kompletten Shutdowns und Blockaden einzelner Dienste zu erleben, so der KeepItOn-Bericht [PDF]. Internetzugang werde immer häufiger als Waffe eingesetzt, was Menschenrechte verletze und Menschenleben gefährde.
Zensur bei Konflikten, Protesten und Wahlen
Zum zweiten Mal in Folge waren Konflikte der häufigste Auslöser für die Abschaltung des Internets. Die Täter:innen bedienten sich in Kriegs- und Konfliktsituationen eines breiten Arsenals an Werkzeugen: vom Durchschneiden von Kabeln und dem Zerstören anderer Internetinfrastruktur über Störsignale bis zur Übernahme und Sabotage von Internetanbietern. Insgesamt 103 der Abschaltungen in 2024 seien konfliktbezogen gewesen.
Besonders alarmierend ist laut dem Bericht die gestiegene Zahl der Situationen, bei denen Nachbarländer für Internetausfälle in einem anderen Land sorgten. So störte Russland etwa die Internetkommunikation in der Ukraine, Israel in Gaza und sowohl China als auch Thailand in Myanmar.
Proteste stellten den zweithäufigsten Anlass für Internet-Shutdowns dar. In 74 Fällen wollten Regierungen auf diese Weise den Protest von Bürger:innen unterbinden. Auch landesweite oder regionale Internetsperren während Schulprüfungen, die Betrug verhindern sollen, spielen mit 16 Fällen weiter eine Rolle. Zwölf Mal wurde das Internet während Wahlen abgeschaltet.
Myanmar überholt erstmals Indien
Häufig würden Shutdowns zudem eingesetzt, um Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen. Insgesamt 72 Fälle zählt die KeepItOn-Koalition, bei denen Internetabschaltungen mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen zusammenfielen, etwa der Tötung von Protestierenden in Bangladesch oder der Blockade von Hilfslieferungen in Gaza.
Erstmalig seit 2018 ist Indien nicht mehr das Land mit den meisten Internetsperren, sondern Myanmar. In den Vorjahren hatte Indien die Liste mit großem Abstand angeführt und hatte mit 84 auch 2024 die zweitmeisten Shutdowns zu verzeichnen. In Myanmar zählten Access Now und die KeepItOn-Koalition im vergangenen Jahr jedoch 85 Internetabschaltungen durch unterschiedliche Akteure, vorwiegend durch die dortige Militärdiktatur. Auf dem dritten Platz der Negativliste landete Pakistan mit 21 Shutdowns.
Auch die Sperrung einzelner Internetplattformen habe 2024 zugenommen. Insgesamt zählte Access Now 71 Sperrungen einzelner Online-Dienste in 35 Ländern. Während X nach der Übernahme durch Elon Musk Rückschritte bei der Inhaltemoderation gemacht habe, sei der Dienst 2024 mit 24 Sperrungen in 14 Ländern zur meistblockierten Plattform geworden. Drastisch zugenommen haben auch Sperrungen des Messengers Signal und der Video-Plattform TikTok. So hatte beispielsweise Frankreich den Zugang zu TikTok in Neukaledonien gesperrt, um Proteste gegen eine Wahlreform zu unterbinden.
„Wir sind den Ausfällen ausgeliefert“
Insgesamt habe man seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2016 mehr als 1.750 Internet-Sperrungen dokumentiert. Hinter jedem Shutdown stecke die Geschichte von Menschen und Gemeinschaften, die voneinander und von der Welt abgeschnitten würden, betont Access Now. Im aktuellen Report erzählen betroffene Menschen, wie die Internet-Shutdowns ihre Freiheit und ihr Leben einschränken.
Ein Professor im Ruhestand aus Venezuela berichtet:
In Zeiten politischer Unruhen werden die Straßen gefährlich und Informationen verbreiten sich hauptsächlich online. Ohne Internetzugang habe ich keine Möglichkeit, mich über das Geschehen auf dem Laufenden zu halten. Diese Isolation bringt alles durcheinander. Ich kann nur planen und organisieren, wenn das Internet wieder funktioniert, und bin diesen Ausfällen hilflos ausgeliefert. [Aus dem Englischen übersetzt mithilfe von DeepL]
Eine palästinensische Journalistin berichtet:
Als ich mit meiner Familie nach Rafah vertrieben wurde, blieb mein Mann in Gaza-Stadt zurück. Als im Norden von Gaza das Internet ausfiel, lebten wir mehr als anderthalb Monate lang in Angst. Wir erhielten keine Nachrichten von meinem Mann, bis es ihm gelang, mit einer israelischen SIM-Karte wieder Zugang zum Internet zu erhalten. Bis heute sind wir aufgrund der ständigen Internetausfälle in Sorge. Ich hatte Mühe, meinen Job als Journalistin auszuüben, und habe schließlich aufgrund der Internetabschaltung aufgehört zu arbeiten. [Aus dem Englischen übersetzt mithilfe von DeepL]
Ein OSINT-Analyst aus Pakistan berichtet:
Als Open-Source-Intelligence-Analyst ist das Internet für meine Arbeit unerlässlich. Am Tag der Unruhen konnte ich nicht einmal meine Familie kontaktieren, um ihr mitzuteilen, dass ich in Sicherheit war. Dies war die längste [landesweite] Internetabschaltung in der Geschichte Pakistans. Obwohl die Regierung wiederholt behauptete, das Internet sei wiederhergestellt worden, war dies vor Ort nicht der Fall. Darüber hinaus blockierte die Regierung aus Gründen der nationalen Sicherheit den Zugang zu X, was für meine Arbeit von enormer Bedeutung ist. [Aus dem Englischen übersetzt mithilfe von DeepL]
Der Kampf gegen Shutdowns und Zensur geht weiter
Auch wenn die Zahl der Internet-Shutdowns 2024 ein trauriges Rekord-Hoch erreicht hat, können Access Now und die KeepItOn-Koalition auf einige Erfolge verweisen. In Mauritius etwa habe die Regierung eine Social-Media-Sperrung während der Wahl nach zivilgesellschaftlichem Widerstand zurückgenommen. Auch die Kampagne #NoExamShutdowns gegen Internetabschaltungen während Prüfungsphasen habe einige Erfolge erreicht. Durch die Zusammenarbeit mit den Anbietern von Anti-Zensur-Werkzeugen und VPNs sei mehr Menschen die Umgehung von Internet-Blockaden ermöglicht worden.
Zudem habe die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker eine Resolution verabschiedet, die alle Mitgliedstaaten dazu drängt, das Internet während Wahlen nicht abzuschalten. Auch die bei einem UN-Gipfel im September 2024 verabschiedete Zukunftsresolution enthält Bekenntnisse zahlreicher Staaten, von Internet-Shutdowns abzusehen.
Es brauche weiter vereinte Anstrengungen, um Internet-Shutdowns zu ächten, so das Fazit des KeepItOn-Berichts. Regierungen müssten davon abgehalten werden, Internetsperren gegen ihre Bevölkerung einzusetzen. Die internationale Gemeinschaft müsse Täter für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen.
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