Maßnahmen nach SolingenAutoritäre Zeitenwende, schlüsselfertig

Nach dem Messerangriff in Solingen überbieten sich Politiker:innen mit Maßnahmen und Forderungen. Das ist falsch und gefährlich, denn es bereitet autoritären Strukturen einen fruchtbaren Boden. Ein Kommentar.

Trauer und Gedenken mit Blumen und Kerzen an der Stadtkirche in unmittelbarer Naehe des Anschlagsorts Fronhof in der Solinger Innenstadt. Auf einem Schild steht: "Wir trauern um die Toten, unsere Zivilgesellschaft halten wir hoch."
Während viele trauern, präsentieren andere vermeintliche Lösungen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / epd

Politiker:innen der grünen Regierungspartei rufen eine „Zeitenwende in der Innenpolitik“ herbei. Unter den Wünschen: mehr Befugnisse für Polizei und Geheimdienste, mobile Grenzkontrollen und effizientere Abläufe dafür, „dass aus der möglichen eine tatsächliche Abschiebung wird“.

Kurz darauf verkündet die Regierung ein Maßnahmenpaket mit mehr Gesichtserkennung, Big-Data-Analysen und anlasslosen Kontrollen. Und natürlich: mehr Abschiebungen und noch weniger Rechten für Noch-nicht-Abgeschobene. Vielleicht bei Brot und Wasser im Abschiebeknast, bis sie endlich weg sind. Tags darauf die Meldung: 28 straffällige Afghanen sitzen im Flieger ins Taliban-Regime. Horst Seehofer, der sich einst 69 Abschiebungen zu seinem 69. Geburtstag wünschte, darf sich wieder jung fühlen.

Kein autoritärer Traum

Das ist kein autoritärer Traum, das ist die Realität in Deutschland im August 2024. Ein paar Tage, bevor in zwei Bundesländern Landtagswahlen stattfinden, bei denen die rechtsradikale AfD stärkste Kraft werden könnte. Ein paar Tage nach einem wohl islamistisch motivierten Messerangriff in Solingen. Ein terroristischer Akt oder auch ein Angriff auf unsere offene und freie Gesellschaft, wie Politiker:innen bei so etwas gerne sagen. „Diese freie Gesellschaft lässt sich nicht niederringen“, behauptete Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) kurz nach der Tat. Doch genau das passiert im Moment.

Während die Rechtsradikalen nach der Macht greifen, üben sich die verbliebenen Demokraten darin, den Staat für sie schlüsselfertig vorzubereiten. Es ist noch rund ein Jahr bis zur Bundestagswahl und die einst angetretene Fortschrittskoalition für eine „moderne, freie Gesellschaft“ trägt mit dem Presslufthammer Freiheitsrechte ab, als gäbe es einen Wettlauf zu gewinnen.

Dabei ist eine Brandmauer gegen den Faschismus mehr als nicht mit den Rechtsradikalen zusammenzuarbeiten. Sie besteht auch darin, nicht deren politische Agenda das eigene Handeln diktieren zu lassen.

Wo ist die progressive Politik?

Denn damit bereiten Politiker:innen nicht nur rechten und autoritären Tendenzen den Boden. Sie entziehen auch den Menschen Stück für Stück die progressiven, parteipolitischen Optionen, die noch bereit dazu sind, danach zu suchen. Gerade im Angesicht der anstehenden Bundestagswahlen ist das ein schwerer Fehler.

Es gibt sie auch, die Forderungen nach besserer psychosozialer Versorgung, nach besseren Integrationsmaßnahmen statt Abschiebe-Politik, nach Aufklärung. Doch Gehör finden sie zu wenig. Wir müssen sie lauter machen, damit sie nicht untergehen im Überbietungswettbewerb derer, denen nicht anderes einfällt, als nach Kontrolle zu schreien.

Gewiss, schnell und effektvoll sind die leisen Forderungen nicht. Doch eine freie und offene Gesellschaft zu erhalten und zu fördern, ist eine Aufgabe für die Ewigkeit. Eine Demokratie abzubauen hingegen, das geht schnell.

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2 Ergänzungen

  1. „Wo ist die progressive Politik?“

    Das ist eine sehr berechtigte Frage.

    Von den sich progressiv nennenden Parteien kommt soweit nichts ausser Tabuisierung unliebsamer Aspekte der eigenen Forderungen.

    Die Linken bleiben konsequent dabei und fliegen aus allen Parlamenten, die Grünen haben anscheinend auch keine Ideen und geben lieber nach.

  2. Ich neige dazu die Frage „Und wo ist hier die Netzpolitik?“ bei solchen Kommentaren anzuhängen, aber der Zug ist wohl schon abgefahren

    Bei „Wo ist die progressive Politik?“ kann man schon mal netzpolitische Aspekte einbringen, denn wir haben es geschafft ca. 1 1/2 Generation davon zu überzeugen, das „Likes-verteilen“ in Sozialen Netzwerken ein politischer Vorgang ist, und Mitarbeit in klassischen Parteien nicht so wirklich erstrebenswert. Das uneingeschränkte Solidarität sich in Block-Listen besser manifestiert, als einfach mal rüber zu gehen und zu fragen: Braucht ihr was?

    Und wo ist eigentlich die Piratenpartei geblieben?

    (ratlos und abgemeldet zum Abendessen kochen, euer Philip)

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