Richtlinie für PlattformarbeitUnerwartete Verbündete im Kampf gegen Scheinselbstständigkeit

Sie schreiben selbst, dass es eine unerwartete Partnerschaft ist: Europas größte Fluglinien unterstützen den Entwurf der EU-Kommission für eine Richtlinie zur Plattformarbeit. Grund ist, dass Scheinselbstständigkeit auch im Flugsektor immer mehr vorkommt.

Der vordere Teil eines Lufthansa-Flugzeugs auf dem Rollfeld
Lufthansa und andere Fluglinien wollen mehr Regulierung für Plattformunternehmen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Jan Rosolino

Es gibt eine Menge verschiedene Meinungen zum Projekt der EU-Kommission, Plattformarbeit neu zu regulieren. Damit sollen die Arbeitsbedingungen von Menschen verbessert werden, die zum Beispiel per App ihre Aufträge zum Ausliefern von Essen bekommen.

Branchenverbände hätten am liebsten gar kein neues Gesetz. Plattformunternehmen selber hatten verschiedene Ansätze, von einer Allianz europäischer Plattformen über Umfragen bei tausenden Bolt-Fahrer*innen. Gewerkschaften fordern noch härtere Kriterien gegen Scheinselbstständigkeit.

Dabei haben die Arbeitnehmer*innen-Vereinigungen überraschende Verbündete: die großen Fluglinien Europas. Das zeigt ein Brief, den netzpolitik.org durch eine Informationsfreiheitsanfrage erhalten hat. Darin fordern die Fluglinien umfassende Maßnahmen der EU gegen Scheinselbstständigkeit, nicht nur bei Plattformen. Auch die European Cockpit Association, die europäische Gewerkschaft von Pilot*innen, meldete sich zum Entwurf der Richtlinie bei der EU-Kommission.

Große Fluglinien wollen gerechten Wettbewerb

Unterzeichnet hat diesen Brief der Direktor der Airline Coordination Platform, einem Verband von Fluglinien, der inzwischen in European Network Airlines‘ Association umbenannt wurde. Mitglieder sind unter anderem Air France, KLM, Lufthansa oder Brussels Airlines.

„Die Fluglinienindustrie ist keiner der Sektoren, die man normalerweise mit Themen der Plattformarbeit in Verbringung bringen würde“, schreiben die Fluglinien. Aber: „Mehrere der Themen, die im Konsultationsdokument beschrieben werden, sind für den Sektor gleich relevant.“

Sie konzentrieren sich in ihrer Antwort auf das Thema Scheinselbstständigkeit, gegen das die neue Richtlinie vorgehen soll. Die Fluglinien hätten dieses Problem schon wiederholt als „sozial inakzeptabel“ identifiziert, außerdem verzerre es den Wettbewerb. Deshalb würden sie jetzt die Pläne der Kommission unterstützen, gegen Scheinselbstständigkeit im Plattformsektor vorzugehen. Sie schreiben:

Wir sind der Ansicht, dass mögliche Aktionen ergriffen werden sollten, um die Praxis von Scheinselbstständigkeit auf einer größeren Skala zu eliminieren, und nicht nur auf Personen begrenzt, die im Kontext von digitalen Arbeitsplattformen arbeiten. Das Problem ist wesentlich umfassender.

Experte für Lobbying überrascht

Der Brief der Fluglinien verwundert Kenneth Haar, der bei der NGO Corporate Europe Observatory Lobbying bei der EU untersucht. Es sei sehr ungewöhnlich, dass Unternehmen sich zu Gesetzen äußerten, die nicht direkt für sie relevant sind – und dann auch noch auf Seite der Gewerkschaften. „Ich glaube nicht, dass ich das vorher jemals gesehen habe“, so Haar zu netzpolitik.org.

Der Brief zeige, dass die Richtlinie vielleicht als Signal für eine umfassende Offensive gegen Scheinselbstständigkeit verstanden würde. „Ich nehme mal an, dass das ist, was die Fluglinien gedacht haben. Aber trotzdem, ich habe noch nie eine Gruppe an Unternehmen für einen Ausbau von Arbeitsrechten lobbyieren sehen.“

Zumindest auf ihrem Gebiet seien die Fluglinien eine Macht, mit der man rechnen müsse. „Sie haben großen Einfluss, wenn es um Themen geht, die sie direkt betreffen. Ob sie diesen Einfluss in ein Gebiet übertragen können, dass nicht direkt mit ihnen zu tun hat, ist eine schwierige Frage“, so Haar.

Zersplitterte Zuständigkeiten

Auf Anfrage von netzpolitik.org sagte der Verband der Fluglinien, man würde schon länger daran arbeiten, das Thema Scheinselbstständigkeit auf die EU-Agenda zu bringen: „Sozial- und Arbeitsgesetzgebung ist mehrheitlich die Zuständigkeit von nationalen Behörden, die große Schwierigkeiten damit haben, dieses gesetzliche Fehlverhalten einzeln anzugehen, oft aus nationalen politischen Gründen“.

„Wir ergreifen diese Gelegenheit, um aufzuzeigen, dass unser Sektor ebenfalls ähnlichen Problemen begegnet“, so ein Vertreter der Fluglinien. „Scheinselbstständigkeit ist kein Vorrecht der Plattformwirtschaft, sondern sie existiert auch in anderen Branchen, wie zum Beispiel im Flugsektor.“

So steht es auch in einer 2019 von der Europäischen Kommission veröffentlichten Umfrage. Dort sagten bei einigen sogenannten Billigfluglinien bis zu vierzig Prozent der Pilot*innen, sie wären selbstständig angestellt. Das bedeutet nicht gleich, dass sie auch scheinselbstständig sind. Doch neun von zehn dieser vermeintlich selbstständigen Pilot*innen sagten auch, sie könnten nicht für mehrere Fluglinien arbeiten oder selbst entscheiden, wann sie fliegen wollten.

Ein Bericht eines EU-Forums gegen Schwarzarbeit nennt auch hier die Zersplitterung zwischen den verschiedenen EU-Staaten als Problem: Verschiedene Definitionen, Sprachen und Kriterien für Scheinselbstständigkeit führten zu gesetzlichen Unklarheiten.

Der Verband der Fluglinien sei nun „zuerst einmal glücklich“, dass die Kommission mit ihrem ambitionierten Entwurf zur Plattformarbeit das Problem erkannt habe und es jetzt auf dieser Ebene eine Initiative dazu gebe. „Das Ausmaß an Fehlverhalten in der Plattformwirtschaft wiegt weit schwerer als die im zivilen Flugsektor, aber das Problem existiert trotzdem und sollte deshalb auch angegangen werden.“

Gewerkschaften und große Fluglinien an einem Strang

Nicht nur die Fluglinien versuchen, dem Problem Scheinselbstständigkeit auf dem Spielfeld der Plattformunternehmen zu begegnen: Auch die European Cockpit Association, eine Gewerkschaft von Pilot*innen, hat zwei Stellungnahmen zur geplanten Richtlinie abgegeben. Darin forderten sie unter anderem, dass die Auswirkungen des Plattformmodells besser untersucht werden sollten und formulieren Fragen:

Wie wird der generierte Wohlstand verteilt? Was wären die Auswirkungen, wenn dieses Modell die Norm werden würde?

Die „Nachhaltigkeit des europäischen Sozialmodells“ stehe auf dem Spiel, so die Pilot*innen-Gewerkschaft. Bestehe ein Markt vor allem aus „plattform-selbstständigen Arbeiter*innen“, könnte das „zu einer ungleicheren Gesellschaft mit einer wachsenden Lücke zwischen Arm und Reich führen, zu Schwarzarbeit, zu wachsenden Schwierigkeiten für gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen und zu einer unmöglichen Aussöhnung des Gleichgewichts von Familie und Arbeit“.

Der Verband der Fluglinien betonte, dass man in Sachen Scheinselbstständigkeit mit den Gewerkschaften übereinstimmen würde. Zu diesem und auch zu anderen Themen würde man gemeinsam im Dialog mit Behörden stehen. „Auf der anderen Seite können unsere Ansichten zu diesem Thema von denen anderer Arbeitgeberorganisationen abweichen“, so der Vertreter zu netzpolitik.org.

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