Digitale Dienste und Digitale MärkeEU-Kommission schlägt Plattformgrundgesetz vor

Mit revolutionären Vorschlägen geht die EU-Kommission an die Neuordnung der digitalen Welt. Sie will die Macht von Google, Facebook und Co. schmälern. Selbst ihre Zerschlagung ist möglich.

Digitale-Dienste-Gesetz
Den Siegeszug der Plattformen aufhalten: Illustrator Oliver Hinzmann hat das neue Gesetzespaket für uns illustriert CC-BY 4.0 Oliver Hinzmann

Die EU-Kommission hat einen umfassenden Vorschlag für die Neuordnung der digitalen Welt vorgelegt. Das Digitale-Dienste-Gesetz und das Digitale-Märkte-Gesetz sollen einen faireren Wettbewerb gegen Konzerne wie Google, Facebook oder Amazon ermöglichen.

Plattformen mit mehr als 45 Millionen Nutzenden in der EU sollen eigenen Regeln folgen. Sie erhalten Auflagen für neue Maßnahmen gegen die Verbreitung illegaler Inhalte, sie müssen die Wirkungsweise ihrer Algorithmen offenlegen und eine unabhängige Prüfung der gefassten Maßnahmen erlauben. Wenn sich die Konzerne den Auflagen widersetzen, drohen Strafen von bis zu sechs Prozent ihres globalen Jahresumsatzes. Ein Entwurf des Digitale-Dienste-Gesetzes wurde schon am Tag zuvor in einem Leak öffentlich.

Die Kommission erhält außerdem neue Instrumente zum Eingriff in digitale Märkte, sie kann künftig über schwarze Listen bestimmte fragwürdige Geschäftspraktiken verbieten. Halten die Konzerne diese Vorgaben für digitale Märkte nicht ein, geht der Strafrahmen bis zu zehn Prozent des globalen Jahresumsatzes – im Fall des wertvollsten börsennotierten Konzerns der Welt, Apple, wären das rund 26 Milliarden US-Dollar.

Das Gesetz soll der Kommission aber sogar noch stärkere Mittel geben: Das Digitale-Märkte-Gesetz könnte der EU-Behörde als letztes Mittel die Zerschlagung von Konzernen erlauben, die sich nicht an europäische Regeln halten.

Am Tag vor der Vorstellung der Gesetzesentwürfe machte ein globaler Ausfall bei Google-Diensten deutlich, wie groß die Bedeutung einiger weniger Plattformen und ihrer Angebote für Milliarden von Nutzenden auf der Welt ist. Die Abhängigkeit von digitalen Diensten ist durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt worden.

Schlüsselprojekt für Ursula von der Leyen

Das Gesetzespaket ist das digitale Leuchtturmprojekt der EU-Kommission von Präsidentin Ursula von der Leyen. Die Kommission arbeitet unter Leitung des deutschen Beamten Prabhat Agarwal seit mehr als einem Jahr fieberhaft an dem Entwurf, begleitet durch Lobbying von Konzernen, Verbänden und NGOs.

Politisch verantwortlich für die Gesetzesentwürfe sind Vizepräsidentin und Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und Digitalkommissar Thierry Breton. Bei der Vorstellung der Entwürfe in Brüssel räumte Vestager in Bezug auf Berichte über Differenzen zwischen ihr und Breton ein, dass es Auffassungsunterschiede gegeben habe. Sie betonte aber, gemeinsam an dem Gesetz weiterarbeiten zu wollen.

Die nun vorgelegten Entwürfe für das Plattformgrundgesetz sind erst der Startschuss für den Prozess. In den kommenden Monaten befassen sich EU-Parlament und Mitgliedsstaaten damit und machen jeweils eigene Vorschläge. Wie schon bei anderen Großvorhaben der EU wie der Urheberrechtsreform und der Datenschutzgrundverordnung dürfte sich die Arbeit über Jahre ziehen.

Einen ersten, unmittelbar wirksamen Schritt hat die Kommission allerdings schon gesetzt. In neuen Leitlinien schreibt sie Suchmaschinen eine Offenlegung der Kriterien für die Auflistung von Suchergebnissen vor. Der Sofortmaßnahme sollen Auflagen für die Transparenz von Algorithmen im Digitale-Dienste-Gesetz folgen.

Neue Regeln für digitale Märkte

Das neue Märkte-Gesetz soll der Kommission die Möglichkeit geben, Marktmachtmissbrauch von Plattformkonzernen schneller und effektiver zu bekämpfen, als dies unter bisherigem Wettbewerbsrecht möglich ist. Der Entwurf ändere nicht bisherige Wettbewerbsregeln, sondern ergänze die Ordnung des Binnenmarktes, heißt es von der Kommission.

Ins Visier nimmt der Entwurf eine ganze Reihe von unfairen Praktiken. Nutzer:innen dürften etwa nicht gezwungen werden, sich bei einzelnen Diensten einer Plattform zu registrieren, um einen anderen Dienst nutzen zu dürfen. Auf dem eigenen Handy müsse das Betriebssystem die Freiheit einräumen, auch vorinstallierte Apps zu de-installieren und andere Apps oder Apps-Stores zu laden.

Außerdem möchte die Kommission Fairness für Geschäftskunden erzwingen. Plattformen dürften ihre eigenen Anbieter nicht gegenüber denen von Drittanbietern bevorzugen und Anbietern nicht vorschreiben, auf der Plattform gleiche Preise wie etwa in ihrem eigenen Online-Shop zu verlangen.

Ein Game-Changer könnte die geplante Vorschrift für dominante Konzerne sein, Datenzugang und Interoperabilität ihrer Dienste zu ermöglichen. Große Messengerdienste könnten gezwungen werden, Nutzenden den Nachrichtenaustausch mit Apps anderer Anbieter zu erlauben. Wie genau diese Regel durchgesetzt wird, soll im Einzelfall spezifiziert werden, für kleine Anbieter dürfte das nicht gelten.

Sollten die Plattformen den Vorschriften nicht Folge leisten, sind Konsequenzen bis hin zu einer erzwungenen Entflechtung der Konzerne oder dem Verkauf einzelner Unternehmensteile möglich. Allerdings soll dies nur als letzte Möglichkeit denkbar sein, wenn andere Lösungsvorschläge nicht greifen.

Welche Konzerne als „Gatekeeper“ gelten und allen neuen Regeln unterliegen, möchte die EU-Kommission einzeln auf Basis von Kriterien wie etwa Nutzer:innenzahlen bewerten. Es liege noch keine Liste der großen Plattformen vor, betonten EU-Beamte vor der Vorstellung des Gesetzespakets.

Strengere Vorgaben bei illegalen Inhalten

Die Passagen rund um die Haftung von Online-Diensten hat die Kommission in weiten Teilen wortgleich aus der bisher geltenden e-Commerce-Richtlinie übernommen. Grundsätzlich bleiben Anbieter von einer unmittelbaren Haftung für Inhalte befreit, die ihre Nutzer:innen posten. Lediglich für Hostingprovider gibt es eine Ausnahme, sofern sie eine Handelsplattform betreiben.

In solchen Fällen geht der Verbraucherschutz vor. Erhalten bleibt das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten, Behörden können diese weiterhin nicht anordnen.

Allerdings steht es Plattformen frei, selbst nach potenziell illegalen Inhalten zu suchen. Diese freiwilligen Maßnahmen, auch als „Good-Samaritan-Regel“ bekannt, sollen nicht zum Verlust des Providerprivilegs führen, stellt der Gesetzentwurf klar. Rechtlich relevant wird es für Online-Anbieter dann, wenn sie Kenntnis von illegalen Inhalten auf ihren Diensten erlangen.

Hier scheint die Kommission die Zügel enger anzulegen als bisher: Sobald eine Beschwerde bei ihnen eintrifft, soll dies bereits als „Kenntnis“ gelten. Eine exakte Reaktionszeit schreibt der Entwurf nicht vor, Anbieter müssen solche Inhalte aber so schnell wie möglich entfernen beziehungsweise den Zugang dazu sperren.

Neben Nutzer:innen sollen künftig auch sogenannte „Trusted Flaggers“ Inhalte melden. Dabei handelt es sich um Expert:innen oder Organisationen, die von der Koordinationsstelle jedes EU-Landes bestimmt werden. Diese Praxis ist in bestimmten Bereich heute schon etabliert, etwa bei Terrorismus oder Kindesmissbrauchsdarstellungen. Solchen Meldungen sollen die Plattformen unverzüglich nachkommen.

Behörden können EU-weit löschen lassen

Das Digitale-Dienste-Gesetz setzt neue Regeln für Anordnungen von Behörden zur Entfernung illegaler Inhalte. Es schafft das Instrument von Löschanweisungen („Orders“), die von Behörden oder Gerichten verschickt werden. Solche Anordnungen sieht etwa auch die Verordnung gegen terroristische Inhalte vor, die bereits nächstes Jahr Gesetz werden soll.

Ob es sich bei einem gemeldeten Inhalt tatsächlich um etwa Illegales handelt, entscheiden die Anbieter im ersten Schritt weiterhin selbst. Allerdings ist zu erwarten, dass sie behördlichen Meldungen oder jenen der Trusted Flagger im Zweifel nachkommen werden, anstatt sich rechtlich angreifbar zu machen.

Darüber hinaus steigt die Drohkulisse. Rechtliche Vertreter von Online-Diensten sollen persönlich haftbar werden, wenn sich ein Anbieter nicht an die EU-Vorschriften hält. Damit es nicht zu massivem „Overblocking“ und damit Einschränkungen der Meinungsfreiheit kommt, sollen klare Beschwerdewege bis hin zu außergerichtlichen Schlichtungsstellen mögliche Probleme auffangen. Allerdings fehlen zeitliche Auflagen, Plattformen müssen lediglich „zügig“ auf Beschwerden von Nutzer:innen reagieren.

Ausnahmen für kleine und große Plattformen

Besonders kleine Online-Dienste sind von bestimmten Auflagen ausgenommen, etwa den genauer definierten internen Beschwerdewegen. Für besonders große Plattformen wiederum gelten zusätzliche Bestimmungen. So müssen sie halbjährliche – statt jährliche – Transparenzberichte abliefern und unter anderem darüber Auskunft geben, wieviele Löschgesuche sie erhalten und wie sie Inhalte moderiert haben.

Zudem müssen sich große Plattformen jedes halbe Jahr selbst untersuchen und der Koordinationsstelle ihres Sitzlandes sowie der Kommission Rechenschaft darüber ablegen, ob sie ein gesamtgesellschaftliches Risiko darstellen. Ob diese Art der Selbstregulierung tatsächlich dabei helfen wird, systemische Risiken aufzudecken, bleibt vorerst offen.

Ebenso unklar bleibt, wie Irland mit dem neuen Aufwand zurechtkommen wird. In dem Land haben viele Konzerne, etwa Google und Facebook, ihren europäischen Sitz. Bisherige Erfahrungen mit der Datenschutzgrundverordnung haben gezeigt, dass die dortigen Behörden überfordert sind und nicht genügend Kapazitäten haben, um die anfallenden Beschwerden zügig abzuarbeiten.

Zu begrüßen sind jedoch neue Auflagen, die unabhängigen Forscher:innnen sowie nationalen Behörden Zugang zu Daten großer Anbieter geben sollen. Das soll dabei helfen zu untersuchen, ob die öffentlichen Versprechen der Unternehmen auch wirklich Hand und Fuß haben. Allerdings können dabei die Plattformen mit Verweis auf Sicherheit oder Geschäftsgeheimnisse den Zugang verweigern.

Mehr Transparenz bei Online-Werbung

Bei Online-Werbung müsse Nutzenden künftig individuell zugeschnittene Information angezeigt werden, um zu verstehen, warum und in wessen Auftrag eine Anzeige oder ein gesponserter Post gezeigt wird. Zusätzlich sollen die Nutzenden Informationen über die Auswahlkriterien erhalten, nach denen ihnen eine Werbung angezeigt wird. Dazu zählt auch, ob sie wegen eines persönlichen Profils ihrer Daten ausgespielt wird.

Große Plattformen sollen Werbearchive einrichten, um Desinformation und illegale Werbeinhalte aufspürbar zu machen. In den Archiven sollen der Inhalt der Werbung, Angaben über den Werbetreibenden und das Targeting veröffentlicht werden.

Für die Aufsicht über die neuen Regeln führt das Gesetz eine Koordinationsstelle für digitale Dienste ein. Dabei handelt es sich um eine unabhängige Behörde in jedem Mitgliedsland, für große Firmen ist dann jeweils die Behörde ihrem europäischen Hauptsitz zuständig – das ist bei Google, Facebook und Apple Irland.

Die Koordinationsstelle soll Aufsichtsrechte über Technik, Algorithmen und Daten der großen Plattformen erhalten. Die einzelnen nationalen Behörden sollen in einem neuen Europäischen Ausschuss für Digitale Dienste zusammenarbeiten und gemeinsam Entscheidungen treffen. Bei sehr großen Plattformen soll die Kommission direktes Mitspracherecht haben.

Lobby-Kampagne läuft bereits

Gegen die Maßnahmen haben die Tech-Konzerne bereits vor Monaten eine Kampagne gestartet. Google plante, für sein Lobbying Forscher:innen und US-Regierungsvertreter:innen einzuspannen, wie aus einem internen Dokument hervorgeht, das zuerst das französische Magazin Le Point veröffentlichte.

Bemühungen, Einfluss auf das neue Gesetz zu nehmen, reichen aber wesentlich weiter zurück. Bereits im Sommer 2019 traf YouTube-Chefin Susan Wojcicki in Dublin den damaligen irischen Premierminister Leo Varadkar, nunmehr Finanzminister, um mit Blick auf das Digitale-Dienste-Gesetz die eigenen Interessen bei der Moderation von Inhalten zu besprechen.

Irland kann als besonderer Verbündeter der US-Technologiekonzerne in Europa gelten. Wegen einer schwachen Datenschutzaufsicht und niedrigen Steuern haben fast alle Großen – Google, Facebook, Apple und Twitter – ihren Europasitz in Dublin. Die irische Regierung habe sich als „Freund Facebooks“ in Brüssel für die Interessen des Konzerns eingesetzt, heißt es etwa in vom britischen Guardian veröffentlichten Dokumenten.

Als Freunde der Konzerne können die Mitglieder der informellen Staatengruppe D9+ gelten, der neben Irland auch die „gleichgesinnten“ Niedrigsteuerländer Luxemburg und Polen sowie Staaten mit großer Digitalbranche wie Schweden und Estland gelten.

Fertiges Gesetz wohl nicht vor 2022

Die beiden Gesetzesvorschläge der Kommission gehen nun an das Parlament und an den Rat der EU-Staaten. Beide sollen sich die kommenden Monate damit befassen und dann eigene Vorschläge vorlegen, bevor in abschließenden Verhandlungen ein finaler Entwurf geschrieben wird.

Allerdings ist noch völlig offen, wie lange das dauert. Sowohl der Rat als auch das Parlament haben in der Vergangenheit bei großen Vorhaben Jahre gebraucht, um überhaupt Entwürfe vorzulegen. Die beiden großen Plattformgesetze sind frühestens 2022 fertig, vermuten deshalb Insider in Brüssel.

2 Ergänzungen

  1. Das ist doch Pfeifen im Walde. Einschneidende Maßnahmen wird es in der Realität niemals geben, weil die USA (und auch China) im Zweifelsfall hart gegen die europäische Exportindustrie reagieren werden. Was die EU-Kommission hier vorschlägt, ist Symbolpolitik. Sie will zeigen, dass sie was tut. Insofern nähert sie sich immer mehr den Handlungsweisen nationaler Regierungen an.

    Die EU-Kommission soll sich endlich mal um das wahre Elend kümmern: die schwache Position europäischer IT-Firmen auf der globalen Bühne. Wer schwach ist, kann nicht agieren. Wie immer kann man das Problem nur langfristig mit Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur lösen – und weniger Bürokratie.

  2. Jetzt wo das nationale Grundgesetz auch nicht mehr ganz so solide wirkt, fäng man mit dem Export an?

    Hauptsache Feuerwerk…

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