Zurück hält sich der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta nicht: Die EU drohe, den Anschluss an die USA und China zu verlieren, so der Sozialdemokrat. Um diesen Trend umzukehren, sei eine tiefgreifende Reform des EU-Binnenmarktes notwendig, heißt es in einem knapp 150-seitigen Papier, das Letta am Mittwoch auf einem Sondertreffen des Europäischen Rats vorgestellt hat.
Monatelang reiste der italienische Politiker im Auftrag der EU-Länder durch ganz Europa, führte laut eigener Aussage tausende Gespräche und hörte dabei unterschiedliche Stimmen, von Regierungen und Parlamentsgruppen, Gewerkschaften, Universitäten oder zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie alle sollen in seinen Bericht eingeflossen sein, den EU-Ratspräsident Charles Michel als „fundamental“ und „inspirierend“ bezeichnet und der dem EU-Rat als Richtschnur dienen soll.
Bindend oder gar kurzfristig umsetzbar sind die umfangreichen Vorschläge indes nicht, die sein Bericht zur Debatte stellt – und die bislang auf eine gemischte Resonanz gestoßen sind.
EU-Konzerne sollen wachsen
Vor allem in drei Sektoren gebe es besonderen Nachholbedarf, macht Letta aus. Deutlich mehr Integration brauche es in den EU-Märkten für Finanzen, Energie und Telekommunikation. „Heutzutage leiden europäische Unternehmen unter einem atemberaubenden Größendefizit im Vergleich zu ihren globalen Konkurrenten, vor allem aus den USA und China“, schreibt Letta. Dies würde der EU bei der Innovation, Produktivität und auch in Sicherheitsfragen schaden. Daher sei es „von entscheidender Bedeutung, große EU-Unternehmen dabei zu unterstützen, größer zu werden und auf der globalen Bühne zu konkurrieren“, heißt es im Bericht.
Solche Töne ließen sich schon in der Vergangenheit regelmäßig vernehmen, auch im Telekommunikationssektor. Für „europäische Champions“ hatten sich unter anderem die ehemaligen EU-Kommissar:innen Neelie Kroes oder Günther Oettinger eingesetzt und nicht zuletzt der amtierende Binnenmarktkommissar Thierry Breton. In seinem jüngst vorgestellten Weißbuch hatte Breton mehr Deregulierung, größere Konzerne und neue Geschäftsmodelle wie eine Datenmaut durch die Hintertür gefordert.
Auf das Weißbuch nimmt Letta ausdrücklich und lobend Bezug: Es erkläre detailliert die gegenwärtigen ökonomischen und technologischen Trends und mache den Weg frei für ein tiefgreifendes Neudenken des Sektors, so der Bericht. Tatsächlich soll das Weißbuch die Grundlage für ein neues EU-Gesetz bilden, den Digital Networks Act. Bis Ende Juni läuft hierzu eine öffentliche Konsultation. Es wird erwartet, dass die nächste EU-Kommission die Arbeit daran nach den EU-Wahlen fortführen wird. Scharfer Gegenwind ist ihr dabei praktisch gesichert. Auch Letta räumt ein, dass der von ihm geforderte Umbau des Sektors „komplex“ wäre und ein schrittweiser Ansatz vorzuziehen sei.
Zuckerbrot und Peitsche
Im Zentrum einer Reform müsse die Verbraucherwohlfahrt stehen, beginnt Letta. Diese stehe seit der Marktliberalisierung von Mitte der 1990er-Jahre auf den Säulen billiger Preise, Wahlmöglichkeiten und Qualität. Doch der völlig neue Investitionszyklus, der mit dem Ausbau von Glasfaser- und 5G-Mobilfunknetzen einhergehe, störe das bewährte Gefüge, warnt Letta – insbesondere wenn die Branche nicht die erforderlichen Investitionen tätigt.
Als Ziel hatte die Kommission in ihrem Programm für die „Digitale Dekade“ ausgegeben, den Ausbau bis 2030 flächendeckend umgesetzt zu haben. Dazu seien zusätzliche Investitionen in Höhe von bis zu 200 Milliarden Euro erforderlich, schätzt Brüssel.
Zugleich drohe den Netzbetreibern auch von anderer Seite Gefahr, insbesondere von Online-Diensteanbietern wie Google oder Meta. Für diese würden viele Vorschriften nicht gelten, an die sich traditionelle Anbieter halten müssten. Um einen wirklich integrierten Binnenmarkt für elektronische Kommunikationsdienste zu schaffen, müssten zunächst die Regeln für Verbraucherschutz „maximal harmonisiert“ werden, fordert Letta.
Allein dies wäre schon ein gewaltiger Brocken: In der Vergangenheit hatten Verbraucherschutzorganisationen Vorstöße in Richtung einer Vollharmonisierung oft kritisch beäugt, weil sie in manchen Bereichen eine Absenkung nationaler Standards fürchteten. So warnt auch BEUC, der Dachverband europäischer Verbraucherschützer:innen, ausdrücklich vor Rufen nach mehr Marktkonzentration im Telekommunikationssektor. „Wettbewerb und globale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen sind keine binäre Wahl, und beide können nebeneinander bestehen, wenn die richtigen Regeln gelten“, sagt BEUC-Chefin Monique Goyens.
Nicht weniger schwierig wäre auch die Umsetzung anderer Vorschläge, darunter eine Harmonisierung der Verwaltung des Funkspektrums für Mobilfunkbetreiber, die Einrichtung einer gesamteuropäischen Regulierungsbehörde für den Sektor sowie die Konsolidierung des Marktes. „Das bloße Schaffen eines Binnenmarktes würde zu keinem erkennbar anderen Ergebnis als bislang führen, es sei denn, es erleichtert das Wachstum der Betreiber“, konstatiert der Bericht.
Netzneutralität – ja, aber
Unter Beschuss soll zudem die Netzneutralität geraten, geht es nach Letta. Zwar sei die entsprechende EU-Verordnung als „ein echter Meilenstein beim Schutz von Verbrauchern und Anbietern digitaler Dienste vor Diskriminierung durch Telekommunikationsbetreiber zu betrachten“, schreibt er. Einige Jahre nach ihrer Verabschiedung und angesichts des technologischen Wandels brauche es jedoch eine „sorgfältige Evaluation“ der Regeln, heißt es im Bericht.
Als Beispiel führt Letta etwa „KI-gestützte Anwendungen wie autonomes Fahren“ an, die von Techniken wie Spezialdiensten profitieren würden. Damit sind Überholspuren für bestimmte Dienste gemeint, die in Netzen besser behandelt würden als andere Verbindungen. Freilich sind solche Angebote heute schon legal möglich, wenn auch unter Auflagen – die durchaus mit den von Letta skizzierten Visionen kompatibel wären.
Kurzfristig wären zusätzliche Leitlinien der EU-Kommission ratsam, die Netzbetreibern mehr Rechtssicherheit bei der Implementierung bestimmter Anwendungen wie industrieller Automation bieten sollten, schlägt Letta vor. In welchen Punkten die bereits geltenden Leitlinien von BEREC nicht ausreichen, bleibt unklar.
Langfristig empfiehlt Letta jedoch eine „umfassendere, gehaltvolle Überarbeitung der Regeln für das Offene Internet“, die alle glücklich machen soll. Nutzer:innen sollen demnach weiterhin vom offenen Internet und voller Wahlfreiheit profitieren, aber gleichzeitig – wie wohl auch die Industrie – ausreichend Möglichkeiten haben, „die Vorteile künftiger neuer Netzwerktechnologien voll ausschöpfen zu können, die in beträchtlichem Ausmaß auf Künstliche Intelligenz setzen werden, um das beste Benutzererlebnis in verschiedenen Szenarien zu liefern.“
Mehr Markt durch weniger Regulierung und größere Konzerne?
Gibt es in Brüssel noch irgendwen, der versteht, wovon er redet? Oder liest man nur noch die Formulierungen vor, die die Konzerne den Bürokraten vorschreiben?
Ah, Du weist nicht woher der Wind weht?
„Mehr Markt“ ist das Mantra der Marktliberalen. Eine Wirtschaftstheorie mit ideologischem Fundament.
„Weniger Regulierung“ ist das Mantra all jener, die den Staat als Akteur beschneiden, zurückdrängen, oder letztlich abschaffen wollen. Ein ideologisches Spektrum, das von Wirtschaftsinteressen über Wirtschaftsradikalismus bis hin zu extremistischen Anarchismus reicht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Wirtschaftsliberalismus
„Größere Konzerne“ hat u.a. als Voraussetzung „mehr Markt“ plus „weniger Regulierung“, wobei das Wettbewerbsrecht Grenzen setzt und Kartellbehörden darüber zu wachen hätten.
Die Frage ist immer wieder, kann „der Staat“ neoliberale Kräfte im Zaum halten, bevor er geschliffen wird. Labile südamerikanische Staaten waren und sind wieder das Experimentierfeld für radikale, ideologiegetriebene Wirtschaftsumstürze. Das gelingt dort auch leichter, wegen einem doch starken Bildungsgefälle. Die Leute auf der Straße hoffen auf bessere Zustände, werden letztlich aber noch skrupelloser ausgequetscht.
In Deutschland hat sich die alte noch/nur liberale FDP in eine im Grunde neoliberale Partei gewandelt. Dies findet allerdings immer weniger Zuspruch bei Wählern.
Moderner Neoliberalismus kommt nicht ohne Tarnung vor dem Wahlvolk aus. Man schmückt sich gerne mit philosophischen Ideen des Liberalismus, schleudert Narrative von Freiheit in die Bevölkerung, verschweigt aber den bevorstehenden Abbau sozialer Errungenschaften und emotionslose Ausbeutung von Mensch und Natur.
Fairerweise muss ich ergänzen, dass Letta durchaus eine aktivere Rolle des Staates einfordert und sogar einen gemeinsamen EU-Topf für aktive Fiskalpolitik vorsieht. Was natürlich Deutschland, Österreich und den anderen üblichen Verdächtigen gar nicht schmeckt.
„Starke Strömung aus Südwest, gelegentlich nachlassend“
Repressiv starke Strömung am Rande des bestimmenden intellektuelles Tiefs, nachlassende Schärfe am Rand.
> In Deutschland hat sich die alte noch/nur liberale FDP in eine im Grunde neoliberale Partei gewandelt. Dies findet allerdings immer weniger Zuspruch bei Wählern.
Moderner Neoliberalismus kommt nicht ohne Tarnung vor dem Wahlvolk aus.
Dazu aktuell die taz:
Oh Gott, die FDP ist neoliberal! Sie will bei den Besitzlosen kürzen und zugunsten der Reichen umverteilen. Sie will diejenigen triezen, die selbst arbeiten, und diejenigen entlasten, die ihr Geld für sich arbeiten lassen.
Aber war das nicht immer klar? Man hatte es lediglich zu Beginn dieser Legislatur, als die FDP ins rot-grüne Lager wechselte, verdrängt und sich vielleicht ein bisschen zu sehr von der Selbstbeschwörungsrhetorik der Ampel als Fortschrittskoalition einlullen lassen.
https://taz.de/12-Punkte-Plan-der-FDP/!6005722/