Polizeinotruf 110Anrufende in Notfallsituationen sollen automatisch geortet werden

Standortdaten von Menschen in Notsituationen werden automatisch an die zuständigen Leitstellen übermittelt. Für den Notruf 112 ist das bereits gängige Praxis. In Deutschland soll nun auch die Polizei die Standortdaten bekommen, wenn jemand die 110 anruft und Hilfe braucht.

Abgebildet ist Polizeiwagen mit angeschaltetem Blaulicht im Profil. Es ist Nacht, im Hintergrund sind Leuchtreklamen zu sehen. Die Bewegungsunschärfe erweckt den Eindruck, der Wagen fahre schnell.
Bei einem Einsatz von Rettungskräften oder der Polizei sind Schnelligkeit und Genauigkeit gefordert. CC-BY 2.0 Sebastian Rittau

Um in Notsituationen schnell helfen zu können, müssen Feuerwehr oder Rettungsdienste wissen, wo sich Personen in Not befinden. Wo und was passiert ist, sind die ersten Fragen an der europaweiten Notruf-Hotline 112. Doch nicht immer kennen die Anrufenden ihren genauen Standort oder können ihn in einer Stresssituation verständlich durchgeben. Eine automatische Ortung der Anruf-Geräte – und somit der Verletzten und Gefährdeten – kann in solchen Momenten lebensrettend sein.

Beim Rettungs-Notruf ist es daher in vielen europäischen Ländern möglich, die Anrufenden automatisiert schnell und effizient zu orten, das gibt eine EU-weite Richtlinie vor. Neben der 112 gibt es in Deutschland auch den Polizei-Notruf 110. Dort wurden bisher wegen Datenschutzbedenken keine genauen Ortungsdaten genutzt. Ein Pilotprojekt soll das nun ändern.

Mehrere Wege zur automatischen Standortermittlung

Die Position von Anrufenden aus dem Festnetz wird durch die Installationsadresse des Telefonanschlusses oder die Postadresse der Anrufenden ermittelt. Es gibt jedoch mittlerweile wesentlich mehr Notruf-Anrufe von Mobiltelefonen. 78 Prozent der 112-Notrufe im Jahr 2021 wurden von Mobiltelefonen aus getätigt, wie aus einem Bericht über die Wirksamkeit der europäischen Notrufnummer hervorgeht.

Mobile Geräte können netzbasiert geortet werden, das heißt über Funkzellen in der Nähe. Wie genau diese Ortung ist, hängt von der Region ab. In dicht besiedelten Räumen mit vielen Mobilfunk-Antennen kann ein Standort auf etwa 500 Meter genau geschätzt werden. Auf dem Land sinkt die Genauigkeit teils auf mehrere Kilometer. Eine präzisere Standortermittlung kann direkt über das Gerät erfolgen. Entweder passiert das über eine zuvor installierte Anwendung oder über Advanced Mobile Location (AML) – ein Protokoll, das auf fast allen Mobiltelefonen läuft.

Die via AML übermittelbaren Daten aller Notrufe in Deutschland fließen an zwei zentrale Stellen. Das sind die Berliner Feuerwehr und die Integrierte Leitstelle Freiburg im Breisgau Hochschwarzwald. Beim Notruf an die 112 werden die Informationen von dort an die zuständigen Leitstellen der Feuerwehr oder Rettungsstellen weitergegeben.

Auch bei Anrufen an die 110 bekommt die Leitstelle solche Ortungsdaten – bloß die Weiterleitung an die lokalen Polizei-Leitstellen war wegen unklarer Rechtslage bisher nicht erlaubt. Die Polizei nutzte also die ungenauere und aufwändige Technik der netzbasierten Ortung.

Polizei soll Standortdaten bekommen

Das soll sich nun ändern: Anrufende sollen auch für die Polizei über AML ortbar sein. Der Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg Tobias Keber stimmte einem bundesweiten Pilotbetrieb zu.


Keber kritisierte, dass bislang die Rechtsgrundlage für die automatische Übermittlung der Daten an die Polizei fehle. Der Standort hilfloser Menschen dürfe nur im Einzelfall ermittelt werden. Was genau mit den Daten gemacht werden dürfe, müsse genau geregelt werden. Dies gelte insbesondere bei der Polizei. Denn sie muss nicht nur in Notlagen helfen, sondern auch bei Anhaltspunkten für Straftaten ermitteln, erklärte ein Sprecher des Landesdatenschutzbeauftragten.

Zunächst hatte Keber deswegen Bedenken. Daher stellt er die Bedingung: Datenschutzvorgaben müssten beachtet werden. Insbesondere müsse eine strenge Zweckbindung gegeben sein, die Standortdaten dürfen also nur zur Hilfe und nicht zur Strafverfolgung erfolgen – etwa um jemanden zu orten, der die 110 wählt, weil gerade bei ihm eingebrochen wird. Keber warnte davor, dass Menschen sonst aus Angst vor der automatisierten Standortübermittlung davor zurückschrecken, den Notruf zu wählen.

Um die nötigen Rechtsgrundlagen zu schaffen, prüft das baden-württembergische Innenministerium nun, ob Änderungen im Landespolizeigesetz oder sogar auf Bundesebene erforderlich sind.

So funktioniert AML

Wenn jemand eine Notrufnummer wählt und auf dem Gerät AML funktioniert, werden auf dem benutzten Mobiltelefon WLAN und Satellitenortung wie GPS aktiviert. Das Gerät ermittelt damit seine Position bis auf wenige Meter genau und überträgt sie an einen Endpunkt. Für Deutschland sind das die Leistellen in Berlin und Freiburg. Von dort werden die übermittelten Informationen an eine lokale Leitstelle weitergeleitet. Bei den Endpunkten werden die Standortdaten nach einer Stunde gelöscht. Lediglich technische Daten wie Zeitstempel, Netzbetreiber und Genauigkeiten der Positionsdaten bleiben zu Evaluationszwecken gespeichert.

Für die Übermittlung der Daten müssen die Endnutzer:innen nichts tun. Hierzulande passiert das standardmäßig über eine nicht sichtbare SMS. Üblich ist auch eine Übermittlung mit HTTPS, dafür ist jedoch eine Datenverbindung notwendig. Welcher Transportweg genau verwendet wird, hängt vom Land ab, aus dem der Notruf stammt, sowie vom Betriebssystem des Geräts.

Android-Handys können mit dem Emergency Location Service (ELS) – das ist Googles Implementation von AML – die Standortdaten sowie die Sprache des mobilen Geräts per SMS und HTTPS-Nachricht übermitteln. Weitere Zusatzinformationen wie hinterlegte medizinische Informationen oder die automatisierte Erkennungen von Stürzen können nicht geteilt werden. Eine Übermittlung kann auch über Roaming erfolgen, dann aber nur per HTTPS. Android-Geräte, auf denen keine Google-Dienste laufen, unterstützen AML nicht.

Apples iPhones können mit AML nur die Standortdaten per SMS übermitteln. Die Bereitstellung von Zusatzinformationen oder die Übertragung via Roaming sind nicht verfügbar. Das geht aus einem Bericht der European Emergency Number Association (EENA) hervor, eine Nichtregierungsorganisation, die das Ziel hat, notrufbearbeitende Stellen in Europa besser zu vernetzen.

Die Standortübermittlung beim Notruf ist bei Android- und Apple-Geräten standardmäßig aktiviert. Solange keine Notrufnummer angerufen wird, ist keine Ortung des Geräts durch die Leitstellen möglich. Eine Deaktivierung ist bei einigen Android-Versionen möglich, wird aber von den Leitstellen ausdrücklich nicht empfohlen.

Barrierefreiheit beim Notruf

Laut der europäischen Richtlinie müssen Endnutzer:innen mit Behinderung gleichwertige Möglichkeiten zu Notrufen geboten werden. Dazu zählt auch die Lokalisierung in einer Notsituation. Im Report über die europäische Notrufnummer ist beschrieben, wie Menschen mit Einschränkungen wie Sprach- oder Hörschädigungen Notrufe tätigen können.

In 22 EU-Staaten und Norwegen ist es möglich, über eine SMS an die 112 den Notdienst zu erreichen. In Deutschland geht das nicht – hier sind Menschen, die in einer Notfallsituation nicht (mehr) hören oder sprechen können, auf zusätzliche Medien angewiesen. In dem recht unwahrscheinlichen Fall, dass ihnen ein Faxgerät zu Verfügung steht, können sie seit 2002 ein Notruf-Fax absenden. Dabei sind Rückfragen kaum möglich.

Eine Alternative ist die 2021 ins Leben gerufene Anwendung nora. Mit ihr können Nutzende textbasiert kommunizieren und ihren Standort sowie weitere Informationen übermitteln. Sie müssen dafür jedoch vorher die App herunterladen und sich registrieren.

Weiterhin können Menschen mit einer Hör- oder Sprachbehinderung den Tess-Relay-Dienst nutzen. Über ihn wird der Notruf an die jeweils zuständige Leitstelle vermittelt und die Kommunikation durch einen Gebärden- bzw. Schriftdolmetscherdienst unterstützt. Auch hier ist eine Vorregistrierung erforderlich.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

5 Ergänzungen

  1. An sich keine schlechte Sache, aber es muss technisch gewährleistet werde, daß entsprechende Informationen sofort und unwiederbringlich nach der Verwendung gelöscht werden. Es gibt ja auch bspw. Situationen die keine wirklichen Notrufe sind oder sich als solche herausstellen.

  2. Hinweis zur nora-App: diese ist aktuell ausgesetzt, es ist kein Download und Registrierung möglich. Leider fällt somit eine gute und barrierefreie Option weg.

  3. Nein, eine längere Aufbewahrung der Daten ist nicht nötig, denn die Ermittlung bei Missbrauch erfolgt über die MSISDN, nicht den Ort.

    In Deutschland ist der Anruf der Notrufnummern ohne SIM nicht mehr möglich, genau aus diesem Grund, weil eben zu viele Anrufe ohne SIM eingingen.

    Ich habe vor einiger Zeit eine hilflose Person im Wald gefunden und den Notruf angerufen. Zu erklären, wo ich mich befand war wirklich schwierig, ich hätte mir eine Möglichkeit gewünscht, meine Ortung zu übertragen. Ich wundere mich, dass das so stiefmütterlich behandelt wird und dann wieder der Datenschutz hochgehalten wird. Warum setzt man nicht statt eines stillen Automatismus eine Möglichkeit um, den Standort aktiv zu senden. Dann kann ich entscheiden, ob ich den übertragen will oder nicht.

    1. > Warum setzt man nicht statt eines stillen Automatismus eine Möglichkeit um, den Standort aktiv zu senden. Dann kann ich entscheiden, ob ich den übertragen will oder nicht.

      Das wäre wünschenswert und akzeptabel, aber es geht wohl eher darum das nicht Akzeptable möglich zu machen.

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.