Sturm auf brasilianischen KongressWie Rechtsextreme Soziale Medien zur Mobilisierung nutzten

Zur aufgeheizten Stimmung in Brasilien haben auch soziale Netzwerke beigetragen. Trotz scharfer Regulierung von Online-Diensten finden sich dort offene und verklausulierte Mordaufrufe. Mit antidemokratischer Stimmungsmache lässt sich auch Geld verdienen.

Faschistische Besetzer:innen in der Hauptstadt Brasilia halten ein Plakat mit der Forderung nach einem Militärputsch.
So manche rechtsextreme Besetzer:innen wünschen sich einen Militärputsch in Brasilien. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Fotoarena

Warnungen gab es genug: Brasilien müsse vor der kommunistischen Gefahr geschützt werden, hieß es auf Facebook. In WhatsApp-Gruppen wurden Farmer und Waffenbesitzer angestachelt, sich der „Ratten“ zu entledigen, die kürzlich die Macht übernommen hätten. Und auf Video-Diensten wie TikTok kursierten zehntausendfach angesehene Aufrufe, das Land und den Kongress lahmzulegen, berichtet das brasilianische Factcheck-Medium Aos Fatos.

Über Tage hinweg füllte sich das Regierungsviertel der brasilianischen Hauptstadt mit Demonstrant:innen, die den Wahlsieg des linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva nicht anerkennen wollen. Am Sonntag stürmten Anhänger:innen des abgewählten rechtsradikalen Politikers Jair Bolsonaro schließlich den Kongress, das Verfassungsgericht und den Präsidentenpalast. Es erinnerte an den Sturm des US-Kapitols vor zwei Jahren, als Donald-Trump-Fans den demokratischen Machtwechsel gewaltsam verhindern wollten.

Stimmungsmache in sozialen Medien

Wie damals spielten soziale Medien eine Rolle. Wochenlang wurden die Netzwerke mit aufstachelnden Botschaften geflutet, berichten brasilianische Forscher:innen der Washington Post zufolge. Auf dem Messenger-Dienst Telegram wurde zu Mord aufgerufen und Demo-Transporte organisiert, auf dem Video-Dienst TikTok über Wahlfälschung spekuliert, während die Suchfunktionen von Facebook und Instagram Nutzer:innen zu Gruppen lotsten, die das Wahlergebnis infrage stellten.

„Seit Jahren durchläuft unser Land einen sehr starken Prozess, der Menschen zu extremistischen Ansichten radikalisiert – vor allem online“, sagte die Forscherin Michele Prado zur Washington Post. In den zwei Wochen vor dem Sturm soll sich die Stimmung noch zusätzlich aufgeheizt haben, so die Forscherin. „Praktisch sagen die Leute, wir müssen das Land zum Stillstand bringen und Chaos schaffen“, sagte Prado.

Gesetze helfen kaum gegen Desinformation

Dabei zählt Brasilien zu jenen demokratischen Ländern mit der strengsten Online-Gesetzgebung. Nach massiven Desinformationskampagnen im Wahlkampf 2018 wurde etwa ein sogenanntes Fake-News-Gesetz abgesegnet, das eine Ausweispflicht für Nutzer:innen sozialer Netzwerke vorsieht und die Vorratsdatenspeicherung ausweitet.

Inzwischen wurde das Gesetz mehrfach überarbeitet, einige der schärfsten Bestimmungen sind nicht mehr in Kraft, analysiert die US-Nichtregierungsorganisation Freedom House. Doch in seiner letzten Entwurfsfassung nimmt es beispielsweise Politiker:innen von den privaten Gemeinschaftsregeln der Online-Dienste aus – etwas, was auch Jair Bolsonaro per Dekret verordnen wollte, um dort keinen Faktenchecks mehr ausgesetzt zu sein. Das Dekret wurde später vom Verfassungsgericht kassiert, wo mit Alexandre de Moraes ein prominenter Widersacher Jair Bolsonaros sitzt und gegen den sich viele unverhohlene Drohbotschaften der Besetzer:innen richteten.

Im Netz sind unterdessen viele Nutzer:innen auf kodierte Botschaften umgestiegen, mit denen sie automatisierten Moderationswerkzeugen ausweichen. In den Wochen vor dem Putschversuch ist etwa die Verwendung der Phrase „Festa da Selma“ in die Höhe geschnellt – ein Wortspiel im Portugiesischen, das statt zu einer harmlosen Party verklausuliert zu einer gewaltsamen Machtübernahme aufruft.

Keine Twitter-Moderation mehr in Brasilien

Zugleich verpuffen gesetzliche Regelungen, wenn sich kaum jemand daran hält. So hat etwa Twitter nach seiner Übernahme durch den Milliardär Elon Musk sein gesamtes Moderationsteam in Brasilien entlassen, berichtet die Washington Post. Die ausgestreckte Hand des neuen Besitzers wurde auch in Südamerika von Rechtsextremen dankend angenommen: Twitter sei für sie ein „sicherer Hafen“ geworden, fand das Online-Medium Rest of World jüngst in einer Datenanalyse heraus.

Doch auch Online-Dienste mit existierenden Moderationsteams scheinen versagt zu haben. Den Faktenprüfer:innen von Aos Fatos zufolge wurde der Putschversuch von dutzenden einschlägigen Rechts-Außen-Kanälen im Internet gestreamt, unter anderem auf YouTube. 23 der 47 überprüften Kanäle sollen dabei monetarisiert gewesen sein. In anderen Worten: Mit antidemokratischen Botschaften lässt sich gutes Geld verdienen, auch wenn dies gegen die Regeln von YouTube verstößt.

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3 Ergänzungen

  1. Och, das gab es doch schon immer. Einige Medien machen mit, einige Industrielle verdienen gut dran, und irgendwer gibt den Aufrührern Geld dafür, während eine Reihe von Nichteierschauklern irgendwo zwischen heimlich und heimelich in der Gegend herumsympathisieren. Mich wundert die lasche Reaktion weltweit, seit Jahren, obwohl eigentlich jede Menge Informationen vorliegen müssten. Im Moment sieht es doch wie ein Alien-Invasion-Szenario „mit Rechts“ aus, wobei Russland und USA jew. unteschiedlich geformte Schwerpunkte dazu zu bilden scheinen. USA z.T. als Geldgeber und Investor, scheinbar „gespalten“, Russland auf allen Ebenen in einer Richtung. Müsste ich jetzt einen Player wählen, würde ich ad-hoc Russland abservieren.

    Die laschen Reaktionen ließen sich wohl teils schon mit Intention erklären, z.B. der Intention, die Gesetze anzuwenden, und es dabei (hoffentlich) zu überwinden. Ich hoffe man weiß, ab wann es ein Spiel mit dem Teufel ist, sowie dass man einen guten Grund dafür hat, den Teufel im Spiel zu halten. Andererseits müsste man plötzlich ein langfristiges Konzept von Demokratie haben, geradezu von Zivilisation! Das wäre vielleicht dann auch wiederum zu viel verlangt, von all den Waschlappen…

    Grüße an ChatGPT und Watson!

  2. …und in Deutschland verschließt man die Augen vor rechtsradikalen Gewalttätern, man kaschiert es sogar.

    Man zeigt lieber mit dem Finger auf „angeblich randalierende nicht-weiße Ausländer“, die Presse hetzt 9 Tage lang mit, und am Ende kommt heraus, dass es nur 1/3 war, also von diesem besagten Ausländern, der Rest waren Deutsche.

    …und während man 9 Tage lang gegen Ausländer hetzt, kommt der Artikel von den 200 Nazis, die an Silvester randaliert hatten (Sachsen) ganz klein „auf Seite 11“.

    Wie man sieht, kann man in Deutschland auch sehr gutes Geld mit menschenverachtender Hetze verdienen, und das ganz öffentlich.

    Einfach nur noch schrecklich.

    1. „Wie man sieht, kann man in Deutschland auch sehr gutes Geld mit menschenverachtender Hetze verdienen, und das ganz öffentlich.“

      *Klima-RAF*

      Sylvester wäre damit ein Paradebeispiel kaputtgegangener Berichterstattung. Keine Einordnung, hauptsächlich die Funktionärsstimmen, ab und zu einen „Kritiker“, Stimmen von der Straße. Das noch fokussiert auf Funktionärsthemen, d.h. unter Auslassung anderer Themen. Kriterien, Recherche, Einordnung bleiben da oft unsichtbar, obwohl sicherlich einiges im Hintergrund passiert. Mir passt da die Qualität des Ergebnis‘ oft nicht.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.