Netzneutralität gefährdetEU-Kommission will Geldhahn für Netzbetreiber öffnen

Netzbetreiber wie Telekom oder Vodafone könnten von Youtube, Netflix & Co. bald Gebühren verlangen, das plant die EU-Kommission mit einem aktuellen Gesetzesvorhaben. Jetzt zeigt ein internes Dokument: Die breite Kritik stößt bei der EU wohl auf Desinteresse.

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton an einem Rednerpult
EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton gab gestern in Helskinki die Richtung vor: Europa brauche große Telekommunikationsunternehmen, um „Big Tech“ Paroli bieten zu können. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Lehtikuva; Bearbeitung: netzpolitik.org

Geht es nach Plänen der EU, könnten Online-Dienste wie Netflix oder Youtube künftig Geld dafür zahlen, dass ihre Angebote viel Bandbreite benötigen. Das Vorhaben wird nun konkreter: Noch im Februar soll eine öffentliche Konsultation starten, die den geplanten Gesetzentwurf abrunden soll. Im Vorfeld zirkuliert nun ein Entwurf des Fragenkatalogs, über den zuerst die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet hatte. Wir veröffentlichen das Dokument im Volltext.

Insbesondere große Netzbetreiber wie Telekom Deutschland oder Orange wünschen sich solche Zugangsgebühren. Ihnen zufolge müssten sie die hohen Kosten für den Ausbau von Breitbandnetzen tragen, würden aber nur geringe Erträge einfahren. Abhilfe schaffen soll eine Umverteilung, die aus Sicht der Betreiber für mehr Fairness sorgt: Demnach sollen beliebte und Bandbreiten-intensive Internet-Dienste zur Kasse gebeten werden. Das Modell heißt „Sending Party Network Pays“, kurz SPNP. Kritiker:innen warnen hingegen vor der Abschaffung der Netzneutralität, sollte dieses Modell eingeführt werden.

„In Zeiten, in denen Tech-Konzerne die meiste Bandbreite verbrauchen und die Renditen der Netzbetreiber fallen, stellt sich die Frage, wer für die Infrastruktur der nächsten Generation bezahlen soll“, sagte der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton gestern in Helsinki. Schon die jüngst verabschiedete Erklärung für digitale Grundrechte habe deutlich gemacht, dass alle Marktakteur:innen einen „fairen und angemessenen Beitrag“ leisten sollten, so Breton.

Schäden für Internet-Ökosystem befürchtet

Die Debatte hatte der Branchenverband ETNO im Vorjahr losgetreten. Seitdem wird darüber gerätselt, ob die EU-Kommission tatsächlich ernsthaft das SPNP-Modell erwägt. Diesen Ansatz hatte die Branche in der Vergangenheit wiederholt vorgeschlagen, war damit jedoch stets gescheitert. Zuletzt nahmen europäische Regulierungsbehörden im Herbst das SNPN-Modell unter die Lupe und warnten erneut vor „signifikanten Schäden für das Internet-Ökosystem“, sollte es eingeführt werden. Bereits mehrfach wurde die Vorstellung eines konkreten Gesetzentwurfs oder einer Konsultation verschoben.

Der Entwurf des Fragenkatalogs gibt nun erstmals einen konkreten Einblick, welche Richtung die EU-Kommission einschlagen will. Abgeklopft werden vor allem für die Industrie relevante Fragestellungen, etwa, um wie viel Prozent sich der jährliche Datenverbrauch erhöht hat oder wie die Umverteilung möglichst effizient ausgestaltet sein könnte. In den Katalog hat es auch eine denkbare Fonds-Lösung geschafft, die der Betreiberverband Breko (Bundesverband Breitbandkommunikation) ins Spiel gebracht hatte.

Gefahren für Netzneutralität ausgeblendet

Die Auswahl der Fragen stößt auf Kritik. „Der Fragebogen der Kommission ignoriert die vielen offenen Fragen im Interesse der Nutzer:innen“, sagt Thomas Lohninger von der Organisation für digitale Grundrechte epicenter.works. „Die Gefahren für die Netzneutralität, den Konsumentenschutz oder für Medienvielfalt bekommen keinen Platz.“ Dies sei keine öffentliche Konsultation, um etwas zu lernen und die Sinnhaftigkeit von möglichen Maßnahmen zu diskutieren, sondern nur um etwas bereits Beschlossenes zu rechtfertigen, so der Netzaktivist.

Auch der EU-Abgeordnete Tiemo Wölken (SPD) erkennt eher „Realitätsverzerrung“ als den Versuch, evidenzbasierte Politik zu machen. Die Fragen würden sich vornehmlich an große Tech-Unternehmen und große Netzanbieter richten. „Das erzeugt den Eindruck, dass es hier um einen Interessensausgleich zwischen zwei Parteien gehe“, so Wölken.

Tatsächlich kritisieren Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen den geplanten Vorschlag, von Verbraucherverbänden über Medienunternehmen bis hin zu den Netzregulierern selbst. Das Resultat sei erdrückend, so Wölken: „Außer den großen Netzanbietern scheint niemand viel von den Netzgebühren zu halten.“ Dass die Mehrheit der Kritiker:innen jetzt in der Konsultation durch tendenziöse Fragen mehr oder weniger ausgeschlossen werde, sei bedauerlich.

EU-Kommission will internationale Konzerne stärken

Offenkundig hat die EU-Kommission ein Interesse an möglichst großen, europaweit operierenden Netzbetreibern. In Helsinki kritisierte Breton die „Fragmentation in Europa mit suboptimalen Geschäftsmodellen, die auf nationalen Märkten basieren“. Das hemme das „kollektive Potenzial“ im Vergleich mit anderen Kontinenten.

Breton glaubt an einen „echten Binnenmarkt für Telekommunikationsdienstleistungen“. Dazu seien aber neue Geschäftsmodelle und eine grenzüberschreitende Konsolidierung notwendig, ohne den Wettbewerb zu beschädigen. In anderen Worten: Betreibern wie der Telekom Deutschland soll es einfacher gemacht werden, Wettbewerber aufzukaufen und weiter zu wachsen.

Für Lohninger ergeben viele der Fragestellungen nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass der wirtschaftliche Profit der Telekomindustrie überhaupt ein zentrales Anliegen der EU sein sollte. „Jedoch werden die Netze hauptsächlich von den kleineren Internetanbietern ausgebaut und eben nicht von den großen Multi-Milliarden-Konzernen, die als Aktienunternehmen jedes Jahr enorme Gewinne schreiben“, sagt Lohninger.

EU-Kommissar Breton war ehemals Chef von France Télécom – heute heißt der Konzern Orange und wäre einer der Profiteure des neuen Gesetzes. Lohninger kritisiert: Breton scheine das Interesse einer Multi-Milliarden-Industrie weitaus wichtiger zu sein als das aller anderen Stakeholder. Noch sei es aber nicht zu spät. „Breton braucht für sein Vorhaben Einstimmigkeit innerhalb der EU-Kommission und damit wäre es an allen anderen Kommissar:innen, ihn noch zu stoppen, ein Gesetz vorzuschlagen.“

9 Ergänzungen

    1. Naja, es wird doch dagegen lobbyiert, so steht z.B. im Text, dass die Gegenargumente offenbar auf taube Ohren stoßen.

      Ob das genug ist… weiß nicht. Ein Schelm, der sich „Wettbewerb“ juristisch und ohne funktionierende Wettbewerbsbehörde vorstellt. Diese Eingaben am Rande des Zerfalls… sofortige Hygienemaßnahmen erforderlich!

  1. >> Im Vorfeld zirkuliert nun ein Entwurf des Fragenkatalogs, … Wir veröffentlichen das Dokument im Volltext. <<

    Die Fragen sind relevant. Die Netz-Community (oder NP.org) sollten sich die Mühe machen, beantwortete Fragebögen mit Erläuterungen jenen zu übergeben, die letztlich entscheiden müssen, um ihnen bei ihrer Entscheidung behilflich zu sein.

    1. Das Problem steht aber schon im Text. Ohne eine andere Ebene zu betreten, wird das nichts, weil die Fragen schon Quatsch sind.

  2. Verrückter Mist. Falscher Weg, schädliche Mittel.
    „Konsumenten“ – und Rechenzentren? Wie wäre es mit Microsoft, Apple und co? NGOs und zukünftige Infrastruktur? Was ist schon viel…

  3. Bei keinem anderen Medium bin ich regelmäßig für die Inhalte so dankbar wie bei netzpolitik.org. 👍❤

  4. „Ihnen zufolge müssten sie die hohen Kosten für den Ausbau von Breitbandnetzen tragen, würden aber nur geringe Erträge einfahren.“

    Ist das nicht irreführend? Wer bezahlt denn da was!? Und wer baut irgendwo freiwillig wirklich breitbandig? (Und wer behindert das dann wiederum?)

    Wäre Irreführung strafbar…

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.