Die Bundeswehr hat am Beispiel einer Aktion der Künstlergruppe Zentrum für politische Schönheit (ZPS) eine Fallstudie erstellt, in der Empfehlungen geben werden, wie sie in Zukunft mit Desinformationen umgehen soll. Die Beobachtung einer Kunstaktion war außerhalb und innerhalb der Bundeswehr umstritten. Wir veröffentlichen jetzt die Fallstudie als komplettes Dokument (PDF).
Mit der Aktion „Wo sind unsere Waffen?“ wollten die Künstler:innen im Jahr 2020 auf Probleme mit Rechtsradikalen bei der Bundeswehr aufmerksam machen. Sie starteten eine offenkundig satiregetränkte Rückgabeaktion für vermisste Waffen der Truppe.
Im Rahmen der Aktion stellten sie einen Waffen-Sammelcontainer vor dem Bundeskanzleramt auf, veröffentlichten Schreiben an Dienststellen der Bundeswehr und gaben sich als Militärischer Abschirmdienst aus.
Künstler:innen im Visier der Bundeswehr
Schon während der Aktion gerieten die Künstler ins Visier der Bundeswehr selbst, welche die Gruppe als „feindliche Propaganda“ einstufte und monatelang jeden ihrer öffentlich zugänglichen Schritte im Internet beobachtete. Das Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr (ZOpKomBw) wertete ihre Erkenntnisse innerhalb eines „Concept Development and Experimentation (CD&E) Forschungsvorhabens“ mit dem Namen „Propaganda Awareness“ in einer Fallstudie aus. Das Forschungsprojekt bestand von 2019 bis 2022.
Die Studie bezeichnet die Kunstaktion als „Guerilla-Marketingaktion mit Elementen einer Informationsoperation“. Sie stuft die Aktion als „medienwirksam“ ein und identifiziert unterschiedliche „PR-Instrumente“ des ZPS, darunter die Webseite, Plakate oder die Inhalte in sozialen Medien.
Laut Business Insider hat die Bundeswehr die Aktionskünstler:innen systematisch beobachtet „und jeden Schritt der Gruppe im Internet analysiert“. Es habe sich dabei um öffentlich zugängliche Daten und keine Personendaten gehandelt, antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei (PDF) zum Thema.
Die Künstler vom ZPS halten es für skandalös, dass die Bundeswehr mit ihrer „Abwehr“ gegen zivilgesellschaftliche Initiativen im Inland vorgehe, so der „Eskalationsbeauftragte“ der Künstlergruppe, Stefan Pelzer. „Für eine bessere Resilienz wäre es sicher hilfreicher, wenn das Führungspersonal der Truppe in Zukunft in der Lage wäre, ihr eigenes Logo von einer schlechten Parodie zu unterscheiden.“
Die Erkenntnisse aus der Beobachtung der Kunstaktion flossen in die Fallstudie ein, in deren Rahmen auch die Reaktion der Bundeswehr analysiert und mögliche Gegenmaßnahmen vorgeschlagen werden.
Langsame Reaktion kritisiert
In der Fallstudie wird vor allem die langsame Reaktionszeit der Bundeswehr von mehr als 72 Stunden kritisiert. Die Bundeswehr habe zudem Soldaten nicht informiert und in unterschiedlichen Formaten zum Thema kommuniziert. Dabei habe es keinerlei Handlungsempfehlung für die Soldat:innen gegeben, wie diese auf Social Media reagieren sollen. Zudem habe es weder Folgekommunikation noch regionale Kommunikation zur Information der Bevölkerung gegeben.
Die Einheit bemängelt in der Fallstudie die fehlende Information der Soldat:innen und befürchtet eine Verunsicherung in der Bevölkerung und einen potenziellen Imageschaden. Sie stufte die Kunstaktion mit einem „Kernrisiko von 2“ ein, das laut der Fallstudie einen „mittelbaren Handlungsbedarf“ – nämlich „Bewusstmachen & Informieren“ auslöst. Bei einem Kernrisko ab 4 sieht die Bundeswehr einen „unmittelbaren Handlungsbedarf“, der „Direkte Abwehr“ erfordert.
Als Abwehr schlug die Propaganda-Einheit in ihrer Fallstudie folgende Gegenmaßnahmen vor:
- eine deutlich sichtbare Warnmeldung im Intranet der Bundeswehr,
- die Einrichtung eines Channels „Achtung Desinformation“ im Bw-Messenger,
- Direktnachrichten für einen Empfängerkreis der Führungsebene
- sowie Warnungen vor Desinformation in der Reservisten-App.
Wir haben beim Bundesverteidigungsministerium gefragt, inwiefern die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen aus der Fallstudie umgesetzt wurden und wie oft diese seitdem eingesetzt wurden. Ein Pressesprecher des Ministeriums beantwortete die gestellten Fragen nicht, sondern verwies auf die Antworten einer kleinen Anfrage (PDF) und auf mehrere allgemeine Artikel über Desinformation auf der Webseite Bundeswehr.de. Diese Hinweise geben keine Antwort auf die Umsetzung der Gegenmaßnahmen. Die Authentizität des Dokuments wurde bei dieser Presseanfrage nicht bestätigt.
Strafrechtliche Ermittlungen wegen Aktion
Im April dieses Jahres kam heraus, dass die Berliner Staatsanwaltschaft wegen der Kunstaktion strafrechtlich gegen das Zentrum für politische Schönheit vorgeht. Hierbei hatte die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Gründer und Leiter der Gruppe, Philipp Ruch, erhoben. Das Verfahren ist weiter anhängig, die Bürgerrechtsorganisation GFF wie auch erfahrene Strafverteidiger wunderten sich über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen eine Satire-Aktion.
Es ist nicht das erste Mal, dass das ZPS ins Visier staatlicher Stellen gerät. 2019 ermittelte die Thüringer Staatsanwaltschaft gegen die Aktionskunst-Gruppe wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, stellte die Ermittlungen jedoch nach ihrem Bekanntwerden wieder ein. 2022 kam es zu Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit der Aktion „Flyerservice Hahn“, bei der das ZPS sich als falscher Flyer-Verteilservice ausgegeben hatte und so an Millionen von Flyern der rechtsradikalen AfD gelangt war – die dann nie verteilt wurden.
Dokument
- Name: Fallstudie Abwehr und Resilienz. Guerilla-Aktion des Zentrums fürs politische Schönheit.
- Datum: November 2020
- Von: Concept Development and Experimentation (CD&E) „Propaganda Awareness“ / ZOpKomBw / Bundeswehr
- Download: PDF (18 MB)
Noch nie war diese Frage so aktuell wie heute.
Die Aktion des ZPS hat offenbar einen Volltreffer gelandet. Die Bundeswehr fühlt sich wegen ihres eigenen Versagen gegen rechtsradikale Tendenzen vrozugehen, in der Defensive. Für mich Grund genug, die Entlassung des Ministers als auch des gesamten Führungsstabes dieses Haufen zu propagieren. Bundeswehr komplett abschaffen, wäre eine der möglichen Lösungen. Jdenfalls steht diese Gruppierung nicht mit beiden Beinen auf dem Grundgesetz.
BTW: haben sie die Waffen und munition denn jetzt wieder vollständig eingesammelt?
> Im April dieses Jahres kam heraus, dass die Berliner Staatsanwaltschaft wegen der Kunstaktion strafrechtlich gegen das Zentrum für politische Schönheit vorgeht.
Und wer gab den initialen Anstoß dazu?
Muss sich eine Staatsanwaltschaft mit ihrer Dienstaufsicht abstimmen bei Angelegenheiten mit politischer Relevanz?
Das Dokument ist mit „VS offen“ gekennzeichnet. Wo kommt das zum Einsatz, und was bedeutet das eigentlich? Verschlusssache und offen verursachen zusammen kognitive Dissonanz.
Da sind wir auch drüber gestolpert, das ist auf jeden Fall keine standardmäßige Geheimhaltungsstufe (https://de.wikipedia.org/wiki/Geheimhaltungsgrad#Bundesbehörden). In einem Bundeswehrforum haben wir gesehen, dass „offen“ „bundeswehröffentlich“ bedeutet, dann wäre es sowas wie ein Traffic Light Protocol: https://en.wikipedia.org/wiki/Traffic_Light_Protocol
Falls jemand da mehr weiß, was das heißt, sagt gerne Bescheid.
um Mitteilung wurde gebeten:
standardmäßige Geheimhaltungsstufe VS-NFD >> VS offen (bundeswehröffentlich) nicht unbedingt presseöffentlich:) In Frage steht, wie die Dokumente in den Besitz von NP.org gelangt sind?
https://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/pdf/BMI-OESII5-20180810-SF-A008.pdf
Das Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr (ZOpKomBw) beantwortet im übrigen auch gern Presseanfragen. (via Pressesprecher)
> standardmäßige Geheimhaltungsstufe VS-NFD >> VS offen (bundeswehröffentlich)
Hmm. Warum wird in der BW nicht die Bezeichnung VS-NFD verwendet?
Gibt es ein Problem mit dem Begriff „Dienstgebrauch“ in der BW oder mit den Buchstaben NFD?
Kann es sein, dass das Wort „offen“ Verständnisfehler begünstigt?
Es wird sehr schön nicht auf die inhaltliche Kritik der Aktion eingegangen, sondern die Kommunikation neutral betrachtet. Besser könnte man einer solchen Aktion nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Selbst die internen Meldungen haben da eine sehr zivile, deeskalierende Sprache.
Wenn sie doch nur so kompetent beim Kampf gegen rechte Strukturen wären…