Wochenrückblick KW39Mehr oder weniger überraschende Wahlergebnisse und Horror auf Samos

Diese Woche ordnen wir das Wahlergebnis netzpolitisch ein und freuen uns über eine politisch besonders schöne Aktion. Gleichzeitig beunruhigen uns neue Überwachungstechnologien auf Samos und die Kidnapping-Pläne der CIA.

Ein Eichhörnchen nagt an einer Nuss.
Ob Eichhörnchen auch ein geheimes Versteck für AfD-Flyer haben? (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Alexas_Fotos

Diese Woche haben wir nicht nur den Nachklang zu den Bundestagswahlen, sondern einige erschreckende Meldungen zu Überwachungstechnologien. Zyniker:innen würden sagen: ein ganzes Feuerwerk der Dystopie.

So wurde jüngst auf der griechischen Insel Samos eine Art „Guantanamo für Asylsuchende“ eröffnet. Das neue Pilotprojekt arbeitet mit Wachtürmen, Videokameras, künstlicher Intelligenz und biometrischen Daten. Das Überwachungssystem soll etwa „verdächtiges Verhalten“ identifizieren. Die Verantwortung für dieses erschreckende und menschenunwürdige Projekt liegt in den Händen der EU-Kommission. Außerdem entstand ein neues Kontrollzentrum in Athen, an das die gesammelten Daten laufen. Matthias Monroy berichtet detailreich über das „Panopticon für Geflüchtete“ und wie die EU das Projekt finanziert. 

Überwachungsinstrumente von London bis zu unserem Arbeitsplatz 

In London soll die Stadtpolizei in den nächsten Monaten eine Überwachungstechnologie verwenden, die auch älteres Bildmaterial von Gesichtern auswertet. Das neue System kann mehrere Monate bis Jahre in die Vergangenheit blicken und so zu Informationen über verdächtige Personen gelangen. Die Metropole ist damit nicht alleine – insgesamt sechs Polizeieinheiten in England und Wales nutzen die Technologie.

Auch bei der Arbeit können wir von Überwachungsmethoden betroffen sein. Schließlich wächst der Markt für Kontrollsoftware seit der Corona-Pandemie. Rahel Lang berichtet über Microsofts „Productivity Score“, der die Produktivität der Beschäftigten misst und dabei sensible Daten sammelt. Zum Beispiel wie lange Angestellte ihre Kamera bei Videomeetings aktiviert haben. Gewerkschaften und Jurist:innen bezeichnen das Produkt als eine digitale Überwachungsmaßnahme der Unternehmen und warnen vor Microsofts monopolähnlicher Stellung.

In Österreich beginnen die datenschutzrechtlichen Bedenken schon bei der Arbeitssuche. Zwar sind in den meisten Fällen Fragen zu Geschlechtskrankheiten bei der Arbeitssuche absolut irrelevant, dennoch müssen sich österreichische Arbeitssuchende in Beratungsstellen des Arbeitsmarktservices (AMS) genau solchen Fragen stellen. In dem Fragenkatalog finden sich unter anderem auch Fragen zu psychischen Erkrankungen und Geburtsfehlern, wie Alexander Fanta berichtet.

Entführungspläne und jahrelanger Missbrauch

Mit der Veröffentlichung „Vault 7“ legte Wiki-Leaks streng geheime Hacking-Werkzeuge der CIA offen. Eine neue Recherche von Yahoo News bringt nun die erschreckenden Ausmaße der Rachepläne der Behörde ans Licht: der damalige CIA-Chef Mike Pompeo soll geplant haben, Wikileaks-Gründer Julian Assange aus dem Verkehr zu ziehen. Constanze Kurz berichtet über Details, die sich auf das Auslieferungsverfahren von Assange auswirken könnten.

Nach einem zehnjährigen Rechtsstreit bekam Kate Wilson schließlich Recht. Ein Gericht erklärte ihre Überwachung durch verdeckte Ermittler für menschenrechtswidrig. Sie ist eine von mindestens 27 britischen Aktivistinnen, die jahrelang von Polizisten getäuscht wurden, die mit ihnen unter falscher Identität intime Beziehungen eingingen und in einigen Fällen sogar Kinder mit ihnen zeugten. Matthias Monroy berichtet über das Urteil und die Aufarbeitung der Verfehlungen der Polizei.

Unsere netzpolitische Bilanz zur Bundestagswahl

Deutschland hat gewählt und das neue Ergebnis zur Bundestagswahl steht fest. Das verändert auch die netzpolitische Situation im Bundestag. Tomas Rudl, Anna Biselli und Chris Köver schauen sich an, welche Digitalpolitiker:innen es in den Bundestag geschafft haben und wer in der Opposition oder außerparlamentarisch an netzpolitischen Problemstellen arbeitet.

Für viel Überraschung nach der Wahl sorgte das Ergebnis der FDP bei Erstwählenden. Zusammen mit den Grünen lag sie bei der jungen Zielgruppe auf dem ersten Platz. Einige identifizierten die starke Präsenz der Partei auf TikTok als Hauptgrund für den Erfolg. Doch Chris Köver führt noch andere Gründe für das gute Abschneiden der FDP bei Erstwählenden an. Vor allem die Versprechen von Freiheit und mehr Digitalisierung scheinen im Wahlkampf bei vielen jungen Menschen einen Nerv getroffen zu haben.

Liebe für freie Lizenzen und politisch Schönes!

Im Rahmen der Wahlberichterstattung übernahm Bild TV Diagramme der Ergebnisprognosen von ARD und ZDF und rechtfertigt das mit deren zeithistorischer Relevanz. Der Sender verwendete das Material der sonst so hart kritisierten öffentlich-rechtlichen Konkurrenz offenbar ohne deren Genehmigung und erntete dafür Spott im Netz. In seinem Artikel spricht sich Leonhard Dobusch nun dafür aus, dass die Öffentlich-Rechtlichen geeignete Eigenproduktionen unter freien Lizenzen veröffentlichen. Davon würden nicht nur kommerzielle Anbieter profitieren, sondern gerade auch gemeinnützige Plattformen wie Wikipedia hätten es leichter.

Neben all den besorgniserregenden Meldungen glänzt diese Woche auch mit politischen Schönheiten. So hatte eine vermeintliche Flyerfirma der AfD einen ganz schön fetten Strich durch dessen Wahlkampf gemacht. Der fiktive Flyerservice Hahn nahm zwar die Aufträge der Partei an, lieferte die angeblich fünf Millionen gedruckten Flyer aber nie aus. Dahinter steckt eine Aktion des Zentrums für politische Schönheit (ZPS), wie Markus Reuter berichtet. Die Aktivist:innen nennen sich nun selbst „Weltmarktführer im Nichtverteilen von Nazi-Flyern“.

Online-Plattformen als psychische Belastung

Einige Online-Plattformen entwerfen kinderfreundliche App-Versionen, die sich speziell an Heranwachsende unter 13 Jahren richten. Auch Instagram wirbt mit Instagram Kids: Es soll werbefrei sein und den Erziehungsberechtigten Kontrolle über die Online-Aktivität ihrer Kinder geben. Seit Monaten kritisieren Politiker:innen, Aktivist:innen und Fachleute das Projekt. Sie äußern etwa Bedenken, dass die Plattform der mentalen Gesundheit von jungen Nutzer:innen schade. Nun reagiert Instagram auf die Kritik und pausiert seine Arbeit an Instagram Kids. Rahel Lang berichtet über die Entscheidung des Unternehmens.

Doch Online-Plattformen können nicht nur Kinder psychisch belasten. Eine Fallstudie der Panoptykon Foundation deckt auf, wie Facebook Traumata und angstvolle Gefühle in Nutzer:innen durch gezielte Anzeigen verstärken kann. Die Panoptykon Foundation verweist auf den kommenden Digital Services Act (DSA) der EU und bezeichnet ihn als „einmalige Gelegenheit, um diese Probleme zu lösen“.

Der DSA ist eine geplante EU-Richtlinie, die Regeln für den digitalen Raum festlegen und große IT-Konzerne in ihre Schranken weisen soll. Was genau drinstehen soll, steht noch nicht fest. Privatsphäre, Haftung für Inhalte, Sorge vor Uploadfiltern: Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren in einem offenen Brief mögliche Inhalte und machen Gegenvorschläge. Tomas Rudl berichtet über den Stand der Debatte.

Striktere Richtlinien

Wer Ende nächsten Jahres visafrei in den Schengen-Raum einreisen möchte, muss sich auf verstärkte Kontrollen einstellen. Dafür soll das neue Europäische Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) eingesetzt werden. Die EU möchte so Reisende auf ihr Sicherheitsrisiko, Epidemierisiko und ihre Migrationshistorie überprüfen. Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, entwickelt dazu sogenannte „Risikoindikatoren“. Die Reisenden müssen dafür online Fragen beantworten. Mattias Monroy klärt über die Hintergründe auf, wie die Prozedur abläuft und wie viel sie kostet.

Wenn euch auch unaufgeforderte Werbeanrufen nerven, habt ihr nun einen Grund euch zu freuen. Die Bundesnetzagentur darf ab dem 1. Oktober härter gegen eben jene Anrufe ohne Einwilligung vorgehen. Markus Reuter klärt darüber auf, wie ihr euch jetzt schon einmal gegen Werbeanrufe wappnen könnt und was der „Kündigungsbutton“ kann.

Auch die Videoplattform YouTube verschärft ihre Richtlinien. Seit dieser Woche toleriert die Plattform keine medizinischen Fehlinformationen zu Impfungen. YouTube unterbindet damit unkorrekten Behauptungen, etwa dass Impfungen Krebs verursachen würden. Die Plattform stützt sich bei ihrer Entscheidung auf den medizinischen Konsens von internationalen und lokalen Gesundheitsbehörden. Rahel Lang erklärt, wie YouTube schon in der Vergangenheit gegen Desinformation vorgegangen ist und was bei einem Verstoß gegen seine Richtlinien passiert.

Eine Premiere und ein Jubiläum

Was fliegt denn da am Himmel? Bisher konnten die militärisch genutzten Drohnen in Europa nur in bestimmten Gebieten fliegen, was das Training erschwert hatte. Doch nun schwingt sich die Drohne „SeaGuardian“ in die Lüfte von Großbritannien. Hergestellt und geliefert wurde sie allerdings von der USA. Matthias Monroy berichtet über die internationale Signalwirkung des Drohnenflugs. 

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wird heute 70 Jahre alt, es ist vor allem für Bürgerrechtler:innen bedeutsam. Sie vertrauen darauf, dass das Gericht angemessen überprüft, ob Gesetze mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Markus Reuter gibt einen Rückblick in die Geschichte des höchsten Gerichts Deutschlands und klärt über dessen Aufgaben auf.

Zwei Enttäuschungen bleiben

Seit einem Jahr betreibt Google das Programm Google News Showcase, durch das Presseverlage direkt für ihre Inhalte bezahlt werden. Der Konkurrent Facebook betreibt ein ähnliches Angebot. Neben den zusätzlichen Einnahmen bleibt bei den Verlagen jedoch vor allem Enttäuschung: Die erzielte Reichweite halte sich in Grenzen. Alexander Fanta und Ingo Dachwitz schreiben darüber, wie sich die IT-Riesen durch solche freiwilligen Verträge vor Rechtsansprüchen der Medienverlage schützen.

Eine Enttäuschung gab es diese Woche auch für Freund:innen des Chaos Computer Clubs. Leider kann auch der diesjährige Chaos Communication Congress wegen strenger Schutzmaßnahmen nicht in Präsenz stattfinden. Der CCC äußert sich mit den Worten: „Die notwendigen Schutzmaßnahmen und Einschränkungen würden den Geist der Veranstaltung bis zur Unkenntlichkeit verzerren.“ Doch die schönste Freude ist bekanntlich die Vorfreude und so freuen wir schon auf den nächsten geplanten Congress im  Winter 2022.

Eine Filmempfehlung am Schluss

Eine Künstler:innengruppe aus Wien und Berlin nimmt in ihrem Dokumentarfilm „Made to Measure“ den Datenschatz von Google unter die Lupe. Sie erschaffen aus den Datensätzen einer Freiwilligen ihre Doppelgängerin und erzählen in ihrem Film ihr Leben, wie es sich aus den Daten darstellt. Serafin Dinges und Chris Köver sprechen in der aktuellen Folge des Netzpolitik-Podcasts mit den Künstler:innen über deren Daten-Projekt und ihre Einschätzung zur Macht des Konzerns.

Damit beenden wir diese Woche und wünschen eine gute Erholung von der aufregenden Bundestagswahl. 

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