Mit der neu geschaffenen Marke „ALDI Gaming“ will die Discounter-Kette nach eigener Aussage „ein Förderer der deutschen Gaming-Szene werden und einen echten Beitrag für die Community leisten“. Ort des Geschehens wird das Live-Streaming-Videoportal Twitch, das sich in den letzten Jahren zu einer der beliebtesten Internetseiten der Welt entwickelt hat.
Millionen Menschen schauen auf Twitch Streamer:innen zu, meist beim Videospielen. Aber prinzipiell lässt sich auf Twitch alles streamen. Formate wie Live-Kochshows oder „Just Chatting“-Formate, bei denen sich Streamer:innen einfach nur mit ihren Zuschauer:innen per Chat unterhalten, werden immer beliebter.
Auf dem firmeneigenen Twitch-Kanal der Aldi-Gruppe soll exklusiver Content „von Streams und Tutorials bis zu Angeboten und Events“ geliefert werden. Auf die Frage, was eine Supermarktkette mit Videospielen zu tun habe, weiß Felix Falk eine Antwort: „Für Unternehmen fernab des Gamings ist es mittlerweile sehr interessant, in der Games-Community Präsenz zu zeigen“, so der Geschäftsführer von „game“, dem Verband der deutschen Games-Branche. Es hänge mit der Relevanz und Attraktivität der Community zusammen:
Hier trifft man auf wichtige Zielgruppen, die sonst nur schwer zu erreichen sind.
Immerhin tummeln sich pro Tag rund 30 Millionen Menschen aus der ganzen Welt auf Twitch. Die Hälfte aller Twitch-Nutzer:innen ist im Alter von 18 bis 34, knapp ein Viertel zwischen 13 und 17 Jahre alt. Die kaufkräftige Gruppe ist hochinteressant für ein Einzelhandelsunternehmen, das die eigene Marke in der Zielgruppe bekannter machen will und Gaming-Zubehör wie Sessel, Stühle, Tische oder Computer-Hardware verkauft. Den Online-Shop mit Lieferdienst zu bewerben, der prominent auf dem Twitch-Profil verlinkt ist, dürfte auch eine Rolle bei der neuen Marketing-Aktion spielen.
ALDI Gaming setzt auf Influencer-Marketing
Für die nötige Reichweite hat der Discounter vier erfolgreiche Influencer aus der deutschen Gaming-Szene verpflichtet: „NoWay“, „Gustaf Gabel“ und das Duo „FeelFIFA“ sind Streaming-Schwergewichte auf Twitch und versammeln auf ihren Social-Media-Kanälen hunderttausende Fans. Alleine NoWay folgen auf Twitch fast eine halbe Million Menschen. Aldi Gaming ist auf seiner About-Seite deutlich wahrnehmbar.
In den letzten Jahren ist um Twitch ein regelrechter Goldrausch entstanden. Der US-amerikanische Streamer „Ninja“ soll 2018 bis zu 10 Millionen Dollar eingenommen haben, vieles davon durch seinen reichweiten-starken Twitch-Kanal. Das Geld stammt etwa aus Werbeeinnahmen und Kooperationen mit Unternehmen wie Red Bull, Samsung oder Uber.
Das Interface von Twitch macht die Plattform attraktiv für die großen Player der Wirtschaft. Innerhalb des Livestreams können Homepage, Social-Media-Kanäle und Produkte eines Unternehmens verlinkt werden. Das Chatfenster bietet die Möglichkeit für direktes Engagement der Zuschauer:innen, bekannte Streamer:innen bauen üblicherweise starke Bindungungen zu ihrer Fanbase auf. Neben der Einblendung von Werbeanzeigen könnte sich ALDI Gaming also klassischer Instrumente des Influencer-Marketings bedienen. Dazu gehören Product Placements oder spezielle Angebote, die über Rabattcodes der jeweiligen Influencer:innen in Anspruch genommen werden können.
Doch noch ist es still um den ALDI-Gaming-Kanal, der aktuell rund 1.400 Follower:innen hat: Bisher wurde kein einziges Video über Twitch gestreamt. Das wird sich sehr wahrscheinlich ändern, sobald das hauseigene Influencer-Team gezielt mit der Bewerbung von ALDI Gaming beginnt. Bisher blenden die vier Streamer nur das Logo der Marke in ihren eigenen Videos ein.
Umstrittene Moderation
2014 hat Tech-Gigant Amazon Twitch für knapp eine Milliarde Dollar gekauft. Der Onlineversandhändler steht seit Jahren wegen fragwürdiger Praktiken in der Kritik. Dazu gehören neben schlechten Arbeitsbedinungen für Angestellte oder Kaufempfehlungen für Verschwörungsmythen-Literatur auch der Einsatz von Dark Patterns.
Das vergleichweise junge Twitch, dessen Rang als beliebteste Streaming-Plattform für Videospiele das Portfolio von Amazon bereichert, musste sich inzwischen auch mit Kritik an seinen Moderationsregeln auseinandersetzen. Dom Schott, der als freier Journalist regelmäßg zu Gamingkultur schreibt und an der Games Academy in Berlin unterrichtet, sieht zwar große Vorteile in der Nutzung von Twitch – dennoch gäbe es beständige Probleme in der Community: „Auf Twitch können sich Menschen zusammenfinden, die die gleichen Hobbys pflegen, miteinander spannende Streaming-Events verfolgen und gerade in Zeiten einer weltweiten Pandemie das Gefühl bekommen, nicht völlig alleine zu sein“, so Schott.
Doch gleichzeitig habe Twitch nach all den Jahren noch immer große Probleme, die toxischen Teile seines Mikrokosmos in den Griff zu bekommen:
StreamerInnen, die offen gegen die ohnehin bereits recht lockeren Nutzungsbedingungen der Plattform verstoßen, dürfen in manchen Fällen ungestraft weiterhin streamen. ZuschauerInnen können quasi ungestraft Hatespeech und toxische Kommentare in den virtuellen Raum werfen.
Über toxisches Verhalten und alte Klischees
Twitch sei als Plattform unbedingt ambivalent zu sehen, betont Schott. Eine deutsche Streamerin berichtete über Communities, in denen toxisches Verhalten zur Tagesordnung gehört. Mit dem Hashtag #GamerleaksDE sollte in der Szene auf Diskriminierung, Rassismus und Sexismus aufmerksam gemacht werden. Innerhalb kürzerster Zeit trendete #GamerleaksDE auf Twitter – und wurde kurzerhand von Trollen übernommen, die aus der Initiative ein Auffangbecken für hasserfüllte Kommentare machten.
Die Schuld für toxisches Verhalten nur in der Szene zu suchen, wäre dennoch zu einfach. Über lange Zeit hinweg befeuerten Medien diskriminierende Klischees über männliche Videospieler. So strahlte 2011 der Fernsehsender RTL einen Beitrag aus, der die damals noch als Minderheit geltende Videospiel-Community auf menschenverachtende Weise darstellte. Die jahrelange Stigmatisierung dürfte bei vielen Videospiel-Begeisterten einen bitteren Beigeschmack hinterlassen haben, die sich heute zum Teil in Trotzreaktionen wie der Übernahme von #GamerleaksDE entladen dürften. Trotzdem rechtfertigt das keine unkontrollierten Hassausbrüche und sexistische Statements, wie sie zu hunderten unter dem Hashtag zu finden sind.
Eine verpasste Chance
Dass gerade zum Start der „Gaming-Offensive“ vier männliche Influencer von Aldi gewählt wurden, bewertet Schott kritisch. Das könne ein Zufall sein, aber sei mit Sicherheit keine zeitgemäße Abbildung der Spielenden und Zielgruppe. Der Videospiel-Experte hätte sich mehr Umsicht und Zeitgeist bei Aldi gewünscht.
Über 34 Millionen Menschen in Deutschland spielen nach aktuellen Erhebungen des Marktforschungsunternehmens GfK im Auftrag des Branchenverbands game mindestens gelegentlich Computer- und Videospiele. Fast die Hälfte davon – etwa 48 Prozent – sind Frauen. Die Community ist also längst keine Männerdomäne mehr. Von den Twitch-Nutzer:innen sind noch 65 Prozent männlich. Angesichts der anhaltenden Debatten um fehlende Diversität und Sexismus in der Gaming-Community ist die rein männliche Besetzung seitens ALDI Gaming leider eine verpasste Chance.
Wenn aus Subkultur Mainstream wird
Der Vorstoß von finanzschweren Unternehmen wie Aldi in wachsende Subkulturen wie die deutsche Videospiel-Szene, die gerade erst am Anfang ihrer kommerziellen Erschließung steht, birgt großes Mobilisierungspotential. Dabei folgen Aldi Nord und Aldi Süd, die zu den größten Discountern weltweit zählen, einem Trend: Im E-Sport engagieren sich vermehrt deutsche Großunternehmen wie Adidas, die Deutsche Telekom oder Tchibo. E-Sport-Turniere füllen in Ländern wie Korea oder China inzwischen ganze Fußballstadien. Das Finale des League of Legends World Championship in Peking fand vor 80.000 Zuschauer:innen statt, rund 40 Millionen Menschen waren online vor ihren Bildschirmen dabei.
Währenddessen klinken sich in Deutschland auch die ersten Fußballvereine in den E-Sport-Rummel ein. Der FC Schalke 04 unterhält eigene E-Sport-Teams sowohl für das Online-Rollenspiel League of Legends, als auch für die Fußballsimulationen FIFA und Pro Evolution Soccer. Felix Falk sieht in der Entwicklung des E-Sport in Deutschland einen nicht mehr aufzuhaltenden Trend: Immer mehr Menschen schauen bei den Turnieren zu, Preisgelder und Sponsorings steigen kontinuierlich. Die Professionalisierung hat weiter zugenommen, woran auch die Corona-Pandemie nichts geändert hat.
Das sähe man laut Falk unter anderem an den großen Umsatzzuwächsen von jährlich mehr als 20 Prozent. Und auch in der Amateurklasse seien immer mehr E-Sport-Vereine vertreten. Das sei grundsätzlich positiv, ergänzt Dom Schott:
Gerade in Deutschland hat der elektronische Sport noch immer nicht die Breitenwirkung, die er im englischsprachigen Raum längst erreicht hat. Aldi hat hier die Möglichkeit, die Sichtbarkeit dieses Seitenarms der Spielkultur weiter zu erhöhen und finanziell mit Investitionen und Sponsorings von Turnieren weiter zu stärken.
Die Weichen für den kommerziellen Siegeszug des E-Sport in Deutschland sind gestellt, auch wenn die digitalen Wettkämpfe hierzulande noch nicht als offizielle Sportart anerkannt sind. Zur massentauglichen Entwicklung des E-Sports wird Twitch seinen Teil beitragen. Und es sieht so aus, als ob Aldi ein Stück vom Kuchen abhaben möchte.
Auch noch erwähnenswert ist dass Aldi letzten Monat angekündigt hat als Sponsor bei Vitality und Solary ein zu steigen (https://www.igamesnews.com/news/team-vitality-and-solary-join-forces-with-aldi/) welche in RocketLeague und League of Legends zu den erfolgreichsten Teams zählen.