Objektiv und ausgewogen? Eine quantitative Annäherung an die mediale Berichterstattung zum NSA-Abhörskandal

Dies ist ein Gastbeitrag von Thies Lindenthal und Wieland Lindenthal, Herausgeber des Nachrichten-Aggregators Newstral.com.

Wären Zeitungen objektive und neutrale Chronisten des Weltgeschehens, dann glichen sie sich inhaltlich aufs Haar. Sind sie aber nicht, wie jeder Journalist oder Nachrichtenkonsument aus Erfahrung bestätigen kann. Eine quantitative Betrachtung der Berichterstattung zum NSA-Abhörskandal zeigt exemplarisch, wie vielseitig und polarisiert deutsche und internationale Medien sich diesem Thema widmen.

Wir wollten wissen: Wie oft thematisieren große deutsche und internationale Redaktionen das illegale Anzapfen des Internet-Datenverkehrs durch amerikanischen und deutsche Nachrichtendienste? Wer schreibt über die von Whistleblower Edward Snowden ausgeplauderte Überwachung des Internets durch das sogenannte „Prism“-Program der amerikanischen National Security Agency (NSA)? Wer treibt die öffentliche Diskussion weiter und wer berichtet lieber über anderes?

Als Empiriker suchten wir eine zahlenbasierte Antwort, die intuitiv zu verstehen ist. Wir berechnen einen „NSA-Prozentsatz“ für die Topmeldungen pro Zeitung und Tag. Die Idee ist einfach: Ein Artikel gilt als NSA-bezogen, wenn er einen (oder mehrere) der Begriffe „NSA“, „Prism“ oder „Snowden“ enthält. Je mehr Zeit solche Artikel mit NSA-Bezug an einem Tag einnehmen, desto höher der Prozentsatz auf unserer Skala. Der Prozentsatz ist gewichtet nach Zeit, damit gemessen wird, wieviel „der besten Sendezeit“ dem Thema zugewiesen wird. Bleibt beispielsweise ein Artikel 12 Stunden auf der Startseite verlinkt, so zählt er genauso viel wie 3 Artikel, die jeweils 4 Stunden gebracht werden.

Über den von uns herausgegebenen Nachrichten-Aggregator Newstral.com konnten wir die benötigten Daten sammeln. Seit vielen Jahren besuchen unsere Auswertungsprogramme im 10-Minuten-Rhythmus die Startseiten der großen Nachrichtenanbieter und erkennen, welche Meldungen von den Redaktionen am stärksten priorisiert werden. Den Leitartikel und die zwei in der Wichtigkeit folgenden Artikel zeigen wir dann als Links in einer immer aktuellen Presseschau. Während Feedreader die letzten Meldungen bringen oder die Kollegen von Rivva.de die viralsten Nachrichten erkennen, spiegelt Newstral die Sicht der Redakteure wider.

Mit diesem Ansatz haben wir ein NSA-Profil für 20 deutsche und internationale Redaktionen erstellt.

Anteil der Artikel zum NSA-Skandal, gewichtet nach Dauer in den Topmeldungen der Startseiten

Hier klicken, um den Inhalt von newstral.com anzuzeigen

Eines wird sofort deutlich: Es gibt große Unterschiede in der Wichtigkeit, den die Redaktionen dem NSA-Skandal beimessen. Wir haben 5 Typisierungen ausgemacht:

1. Die Pioniere: The Guardian und Washington Post

Guardian

und Washington Post sind als – offizielle Medienpartner Edward Snowdens – nicht nur die ersten, die über das Prism-Programm schreiben, sondern sie liefern eine ausreichend große Initialzündung: Sie widmen 30 % bis 80 % Ihrer besten Artikelplätze dem Thema und stellen mit dieser geballten Berichterstattung sicher, dass auch andere Zeitungen nicht an dem Thema vorbeikommen. Immer dann, wenn Snowden in den folgenden Wochen neue Informationshappen verteilt, sind sie einen Schritt voraus und spielen groß auf, wie beispielsweise bei der Enttarnung des britischen Abhörprogrammes „Tempora“, das am 22.6. den Guardian komplett belegt.

2. Die Netz-Liberalen: Spiegel, Süddeutsche und Zeit

Spiegel

, Süddeutsche und Zeit greifen den Ball schnell auf und machen Druck: Sie berichten (fast) täglich und in großem Umfang. Es läßt sich klar erkennen, dass Netz- und Bürgerrechtsthemen sie nicht kalt lassen. Im Gegensatz zu den Pionieren haben sie jedoch keinen bevorzugten Zugang zur Hauptdatenquelle und sind daher manchmal etwas später dran. Sie decken auch die deutsche Dimension des Skandals ab.

3. Deutsche Traditionalisten

Für Welt, N-TV, FAZ, taz, Frankfurter Rundschau und Focus beginnt der Skandal eigentlich erst mit Tempora. Was vorher als ein eher amerikanisches Sicherheitsthema gesehen wurde, erreicht mit schnüffelnden englischen Nachbarn auch den deutschen Schrebergarten. Die Journalisten der Konkurrenz haben zu diesem Zeitpunkt fast schon eine Woche Vorsprung.

Weitere Höhepunkte: Die Berichterstattung rund um Innenminister Friedrichs (CSU) „Aufklärungsreise“ in die USA und das damit verbundenen Parteiengzänk (etwa ab dem 12.7.2013) und das vorläufige russische Asyl für Snowden (1.8.2013). Im Focus nimmt der Überwachungsskandal nur eine kleine Nebenrolle ein – keine große deutsche Redaktion berichtet hierzu weniger als diese Münchener.

4. Internationale Traditionalisten

Ähnlich zu ihren deutschen Pendants. Nur dass Minister Friedrich keine Rolle spielt. Innerhalb dieser Gruppe zeigt die New York Times das netzliberalste Profil.

5. Die Spezialisten: Heise, Golem, Netzpolitik.org

Es dürfte niemanden überraschen, dass Netzpolitik.org von allen hier untersuchten Quellen die höchste NSA-Quote aufweist. Mit seinem netzpolitischen Profil ist der Blog ein Sammelbecken für Internet-Aktivisten, die sich kontinuierlich an der Totalüberwachung des Netzes durch Geheimdienste abbarbeiten. Gemeinsam mit den breiteren IT-Nachrichten Heise und Golem liefern sie Informationen und Meinungen zum Thema, die oft über die Meldungen der Mainstream-Nachrichtenanbieter hinausgehen.

Ist in den USA die Debatte vorbei?

Der Blick über den Atlantik oder auch nur über den Ärmelkanal ernüchtert. Sowohl bei Washington Post, New York Times, Guardian und Independent überwiegt das Interesse am vermeintlichen Verrat. Die meisten Meldungen erscheinen vor allem in den ersten Tagen nach Snowdens Gang an die Öffentlichkeit während sich eine breite inhaltliche Debatte über das Ausmaß des staatlichen Eingriffes in die Bürgerrechte nicht entwickelt.

Abschließend sei daher die These gewagt, dass die Diskussion versanden wird, sofern Snowden nicht noch ein As aus dem Ärmel zieht und ein noch eklatanteres Abhören auch der amerikanischen Bürger belegt. Ein Abstellen der Abhörpraxis auf Druck der amerikanischen Öffentlichkeit ist nicht zu erwarten.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

18 Ergänzungen

  1. Wer das Diagramm auf seiner Seite einbinden möchte, kann das gerne mittels iFrame tun:

    <iframe src=“https://newstral.com/nsa-prism-snowden/index.html“ style=“width: 590px; height: 300px; border: none;“ scrolling=“no“></iframe>

    1. Firefox hat seit ~23 ein neues „Feature“: Wenn auf einer verschlüsselten Seite was Unverschlüsseltes eingebunden ist, dann wird nicht mehr lästig nachgefragt, sondern das betreffende Element einfach blockiert.
      In der Adressleiste ganz links kannst du klicken und das abschalten.

  2. Die Aussagekraft einer solchen Grafik könnte steigen, wenn eine Gewichtung erfolgen würde, die Unterschiede in der themenunabhängigen Seitenführung mit einbezöge. Die Dauer der Verlinkung auf der Startseite variiert doch generell sehr stark. Beim Guardian beispielsweise lässt sich beobachten, dass Beiträge länger als 24 Stunden „oben“ stehen, beim Spon mit den Kolumnen ebenso, taz.de hingegen wird kaum einen Beitrag länger als 4 Stunden in den Top5 halten (ohne behaupten zu wollen, dass die Berichterstattung zur NSA nicht von Anfang an hätte umfänglicher sein können).

    1. Dolle Auswertung.
      Bevor weitere Parameter herangezogen werden, so relevant dies für die Aussagekraft dieser quantitativen Auswertung möglicherweise wäre, würde ich eine ergänzende qualitative Betrachtung vorziehen. Denn neben Häufigkeit und Dauer von Meldungen auf Startseiten, behaupte ich, gibt es auch signifikante inhaltliche Abweichungen zwischen z.B. dem Guardian und der NYT. (Jedenfalls gemittelt.) Diese müssen ihre Ursachen ebenso in den Redaktionen haben. Nun je, war nur so ein Gedanke. Und Algorithmen, die das zu leisten im Stande wären, ob’s die jemals geben wird? Besser, man liest gleich, was Glenn Greenwald zu berichten weiß über die anderen.

  3. Nein da]v[ax, unter Ubuntu und Debian mit aktuellem FF sieht man auch kein Diagramm. Ist wahrscheinlich wieder so ein Spezialistending für das uralte BSD, das neuerdings OS X heißt. Oder schlicht etwas mit der schlimmsten Pest seit Erscheinen der biblischen Plagen: JAVA

    1. Firefox 23 hat mixed content gesperrt , und wenn man die netzpolitik Seite mit https anwählt wird die eingebettete Ressource nicht geladen.+
      Denke mal daran könnte es liegen

  4. Das deckt sich grob mit meinen eigenen Beobachtungen. Ich surfe doch recht viel am Tag (auch auf den angegebenen Newsseiten) und gerade die Welt (aus meiner Sicht einen Bild für den Mittelstand und deshalb auch problematisch) sehe ich hier als großes Negativbeispiel zum Thema Berichterstattung zur NSA Affäre.

    Am ausgewogensten und realistischsten scheinen mir faz und sueddeutsche zu sein.

    Das heise und golem natürlich stärker über die Sache berichten liegt in der Natur dieser Seiten.

    Mich würde eine noch stärkere Darstellung englischer und amerikanischer Newsseiten interessieren.

    1. Welche Quellen, die wir auf Newstral führen, interessieren Dich und sind noch nicht von uns ausgewertet? NYT, The Guardian, BBC, Washington Post, Independent sind ja bereits in der Auswertung enthalten. Welche fehlen, und welcher Vermutung sollen wir nachgehen?

  5. Ich habe schon immer gewusst, dass Welt.de, N-tv und Focus keine seriösen Nachrichtendienste sind.

    1. Hallo Martin, hallo Hans,

      gerne mache ich noch weitere Auswertungen mit schärferem Blick auf die Online-Ableger der Fernseh-Sender. Welche Quellen (die wir auf Newstral führen), interessieren euch genau? Und habt ihr schon eine Hypothese, die ihr bestätigt, oder entkräftet sehen wollt?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.