Mehr Licht als Schatten: die EU-Richtlinie zu verwaisten Werken [Update]

Im EU-Parlament steht morgen Donnerstag nach langwierigen und teilweise turbulenten Verhandlungen der Beschluss der Richtlinie „über bestimmte zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke“ unmittelbar bevor. Christ- und Sozialdemokraten haben sich auf einen Kompromissentwurf geeinigt. Christian Engström, Piraten-Abgeordneter und Schatten-Berichterstatter der Grünen Fraktion im EU-Parlament, spricht von einer „verpassten Gelegenheit“ und empfiehlt seiner Fraktion die Stimmenthaltung. Und tatsächlich ist die Kompromissfassung zwar ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch nicht der von manchen erhoffte Befreiungsschlag.

Die Möglichkeit zur Nutzung von verwaisten Werken bleibt dem Entwurf nach nur öffentlichen Einrichtungen, vor allem also Bibliotheken, Museen, Archive und Bildungseinrichtungen vorbehalten. Voraussetzung für Digitalisierung und öffentliche Zugänglichmachung ist eine „sorgfältige Suche“ („diligent search“) nach Rechteinhabern.

Positiv zu vermerken ist jedenfalls das Prinzip der „gegenseitigen Anerkennung“ einer sorgfältigen Suche nach den Rechteinhabern in jenem Mitgliedsstaat, „in dem das Werk zuerst veröffentlicht, gesendet, der Öffentlichkeit in anderer Form präsentiert oder in anderer Form an diese verteilt wurde.“ Man muss also nur in einem Mitgliedsstaat eine sorgfältige Suche vornehmen und nicht in der gesamten EU. Entscheidend dafür, ob eine Suche als „sorgfältig“ gilt, ist das „Gebot von Treu und Glauben durch Konsultation der für die betreffende Kategorie des Werks geeigneten Quellen“. Diesbezüglich wird auf ein „Memorandum of Understanding on Diligent Search Guidelines for Orphan Works“ verwiesen.

Begrüßenswert ist auch die Verpflichtung, in einem Staat als „verwaist“ klassifizierte Werke in eine zentrale und kostenlos zugängliche Datenbank eintragen zu lassen, um Doppeldigitalisierung von Werken zu vermeiden.

Ebenfalls ein Fortschritt, vor allem im Film- und Musikbereich mit regelmäßig mehreren Rechteinhabern, ist die Möglichkeit der Teilverwaisung:

„Hat ein Werk mehr als einen Rechteinhaber und wurde mindestens einer der Rechteinhaber nicht ermittelt oder, selbst wenn ermittelt, nicht ausfindig gemacht, nachdem eine sorgfältige Suche nach Artikel 3 durchgeführt und dokumentiert worden ist, gilt das Werk in Bezug auf die Rechte der nicht ermittelten oder nicht ausfindig gemachten Rechteinhaber als verwaistes Werk.“

Das bedeutet, dass nur noch die Rechte mit jenen Rechteinhabern geklärt werden müssen, die auch nach sorgfältiger Suche auffindbar sind.

Eher negativ sind vor allem zwei Punkte:

Erstens gibt es ein komplettes Verbot kommerzieller, also profitorientierter Verwertung. Das verhindert natürlich auch Kooperationen von öffentlichen Einrichtungen mit wirtschaftlichen Kooperationspartnern. Grund für diese Beschränkung auf den nicht-kommerziellen Bereich ist offensichtlich Google Books, dessen Ansatz in keinster Weise legalisiert werden soll; betroffen davon sind aber auch spezialisierte Kleinverlage und -labels oder Dokumentarfilmer, die in ihren Geschäfts- und Tätigkeitsbereichen auf verwaiste Werke zurückgreifen wollen.

Problematisch ist dieses Verbot auch deshalb, weil die Refinanzierung von Digitalisierungsaufwänden dadurch erschwert wird. Eine positive Folge könnte aber sein, dass jene dennoch digitalisierten Werke dafür freier zugänglich gemacht werden, weil ohnehin kein Geld mit ihnen verdient werden kann. Was letztendlich überwiegt, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen – die Direktive sieht eine jährliche Evaluation von ihren Auswirkungen vor.

Zweitens schützt auch eine sorgfältige Suche nicht davor, dass Rechteinhaber schließlich doch noch auftauchen und Vergütung verlangen. In der entsprechenden Passage heißt hieß es:

„Wenn Rechteinhaber die Ansprüche an ihren Werken geltend machen wollen, sollten sie berechtigt sein, den Waisenstatus dieser Werke, soweit sie betroffen sind, zu beenden. Die Mitgliedstaaten sollten dafür Sorge tragen, dass diese Rechteinhaber für die vergangene Nutzung ihrer Werke angemessen und gerecht vergütet werden.“

Dies ist wäre eine wesentliche Verschlechterung gegenüber dem Kommissionsentwurf gewesen, der noch wie folgt gelautet und keine Vergütung vorgesehen hatte, sondern nur das Recht, den Status als „verwaistes Werk“ zu beenden:

„Urheber sollten berechtigt sein, den Waisenstatus zu beenden, wenn sie die Ansprüche an ihren Werken geltend machen wollen.“

In der Kompromissfassung besteht also das Risiko, dass trotz aufwändiger Suche ex-post Vergütungen für digitalisierte Werke anfallen. Gemeinsam mit dem Verbot, Geschäftsmodelle zu entwickeln, reduziert das den Anreiz zur Digitalisierung verwaister Werke erheblich. Es birgt vielmehr sogar die Gefahr, dass Rechteinhaber bewusst nicht auf Anfragen reagieren und danach von öffentlich finanzierten Einrichtungen Vergütung einfordern könnten. Auch hier wird sich erst zeigen, wieviele Einrichtungen diese Risiken eingehen wollen bzw. können, was wiederum stark von der nationalstaatlichen Ausgestaltung der Vergütungspflicht abhängt (z.B. ob Kosten für Suche und Digitalisierung von Vergütung abgezogen werden dürfen).

Diesen Nachteilen zum trotz ist die Richtlinie jedenfalls ein Fortschritt. Sollte sie wie erwartet beschlossen werden, haben die Nationalstaaten nach Inkrafttreten zwei Jahre Zeit, sie zu implementieren.

[Update, 13.09.2012]

Die Richtlinie wurde wie erwartet mit großer Mehrheit beschlossen (531 Pro, 11 dagegen und 65 Enthaltungen), allerdings hat es offensichtlich in letzter Minute noch einige Verbesserungen gegeben (Word-File der beschlossenen Fassung auf Englisch, entnommen aus Originaldokument):

  • Öffentliche Einrichtungen dürfen nun doch Einnahmen erzielen – die offizielle Pressemeldung nennt als Beispiel Museumsshops – sofern diese Einnahmen ausschließlich der Suche und der Digitalisierung dienen.
  • Anstelle von Vergütung („remuneration“) ist in der beschlossenen Fassung nur noch von Entschädigung („compensation“) die Rede. Wie genau diese Entschädigung ausgestaltet wird, bleibt aber weiterhin den Mitgliedsstaaten vorbehalten. In den Erläuterungen zur Richtlinie heißt es diesbezüglich, dass sowohl der nichtkommerzielle Charakter und die Ziele zur Kulturförderung als auch der mögliche Schaden für Rechteinhaber Berücksichtigung finden sollte.

Es verstärkt sich also der positive Eindruck, dass die EU hier wirklich den Mitgliedsstaaten eine Tür zur substantiellen Minderung des Problems verwaister Werke eröffnet hat. Bleibt nur zu hoffen, dass Deutschland diese Chance auch möglichst rasch und umfassend ergreift.

 

5 Ergänzungen

  1. Diese Richtlinie hört sich für mich wenig brauchbar an. Es ist zwar grundsätzlich schön, daß verwaiste Werke nun zwar von öffentlichen Einrichtungen genutzt werden dürfen. Wenn allerdings stets die Gefahr besteht, daß irgendjemand hinterher noch einmal kräftig die Hand aufhält und Geld sehen will, tendiert der praktische Nutzen doch gegen NULL.

    Diese Gefahr ist sogar ganz konkret, nämlich dann, wenn verwaiste Werke plötzlich eine Art „Revival“ erleben und sich steigender Beliebtheit erfreuen. Da braucht man ja nur noch abzuwarten, bis die „kritische Masse“ erreicht ist und sich das nachträgliche Abkassieren lohnt.

    Schade, daß ein grundsätzlich richtiger Ansatz (Rechteinhaber sollen den „Verwaist“-Status beenden können) so vermurkst wurde.

    1. Ich glaube, es hängt wirklich sehr stark von der nationalen Implementierung der Richtlinie und hier der Vergütungspflicht ab. Wenn die so ausgestaltet wird, dass das Risiko für die Institutionen gering bzw. kalkulierbar ist, dann sind die Klarstellungen hinsichtlich „sorgefältiger Suche“ etc. wirklich hilfreich.
      Und da die Richtlinie in verschiedenen Ländern implementiert wird, wird man bald sehen, welche Form der Ausgestaltung zu mehr Digitalisierung und besserem Zugang führt und welche nicht.
      Wie gesagt, alles andere als ideal, aber eine Verbesserung und Chance ist es schon.

    1. [ ] Du hast den Text gelesen und verstanden.

      Es geht um verwaiste Werke. Also solche wo der Autor nicht aufzufinden ist. Die zu nutzen ist wohl kaum „Klauen“ das bestraft werden muss.

  2. Also theoretisch kann ein großes deutsches Literaturarchiv einige unveröffentlichte Romane, welche in der Vergangenheit zur Archivierung abgelehnt, aber trotzdem sicherheitshalber kopiert wurden, als verwaist herausgeben, wenn deren Autor inzwischen verstorben ist und andere eventuelle Inhaber von Ansprüchen keine nähere Kenntnis von den Vorgängen haben? Und eventuell anfallende Gewinne kassieren dann jene, die einst die Veröffentlichung bzw. Archivierung ablehnten? Na ja, ist besser als gleich in den Ofen, oder? Namen sind Schall und Rauch!

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