Mehr als 470 Wissenschaftler:innen aus 34 Ländern stellen sich gegen den aktuellen Vorschlag zur Chatkontrolle, den die dänische Ratspräsidentschaft am 24. Juli im EU-Rat eingebracht hat.
Die EU-Kommission versucht seit mehreren Jahren ein Vorhaben umzusetzen, das verschlüsselte Kommunikation in der EU durchleuchten würde, etwa auf Messengern wie Signal. Auf diesem Weg will sie nach Darstellungen von sexualisierter Gewalt an Kindern (CSAM) suchen.
Die EU-Staaten können sich bisher nicht auf eine gemeinsame Position zu dem umstrittenen Vorhaben einigen. Eine Mehrheit unterstützt die Pläne der EU-Kommission, eine Sperrminorität von Staaten blockiert jedoch und setzt sich für die überwachungskritische Position des Parlaments ein. Mehrere Präsidentschaften sind bislang daran gescheitert, eine Einigung im Rat zu organisieren– zuletzt Polen. Die Position Deutschlands könnte entscheidend sein für den Fortgang der Verhandlungen, weil Deutschland als bevölkerungsreiches Land die bislang vorhandene Sperrminorität alleine kippen kann.
In ihrem Brief begrüßen die Unterzeichnenden zwar die Aufnahme von Bestimmungen, die eine freiwillige Meldung illegaler Aktivitäten erleichtern, sowie die Forderung, die Bearbeitung dieser Meldungen zu beschleunigen. Sie richten sich aber entschieden gegen das Durchsuchen der Endgeräte sowie gegen Alterskontrollen im Netz.
„Beispiellose Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur“
Es sei einfach nicht möglich, bekanntes und neues Bildmaterial von sexualisierter Gewalt (CSAM) für Hunderte Millionen Nutzer:innen mit einer akzeptablen Genauigkeit zu erkennen, unabhängig vom spezifischen Filter. Darüber hinaus untergrabe die Erkennung auf dem Gerät, unabhängig von ihrer technischen Umsetzung, den Schutz, den eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung gewährleisten soll. Die Änderungen im Vorschlag würden zudem die Abhängigkeit von technischen Mitteln erhöhen und so die Sicherheits- und Datenschutzrisiken für die Bürger:innen verschärfen, ohne dass eine Verbesserung des Schutzes für Kinder garantiert sei.
Im offenen Brief, der auf deutsch und englisch vorliegt, heißt es:
Der neue Vorschlag würde – ähnlich wie seine Vorgänger – beispiellose Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur schaffen und birgt ein inhärentes Risiko für den Missbrauch durch weniger demokratische Regime. Das heute erreichte Sicherheits- und Datenschutzniveau in der digitalen Kommunikation und in IT-Systemen ist das Ergebnis jahrzehntelanger gemeinsamer Anstrengungen von Forschung, Industrie und Politik. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Vorschlag diese Sicherheits- und Datenschutzmaßnahmen, die für den Schutz der digitalen Gesellschaft unerlässlich sind, vollständig untergräbt.
Weiterhin weist der Brief auf Widersprüche im neuen Vorschlag hin: Dort heißt es, dass die CSAM-Detektionstechnologie nicht zu einer „Schwächung des durch Verschlüsselung gebotenen Schutzes” führen dürfe. Es sei jedoch unmöglich, Material zu erkennen und entsprechende Berichte zu übermitteln, ohne die Verschlüsselung zu unterminieren. Zu den zentralen Gestaltungsprinzipien eines sicheren Ende-zu-Ende-Verschlüsselungsschutzes (E2EE) gehöre nämlich die Gewährleistung, dass einerseits nur die beiden vorgesehenen Endpunkte auf die Daten zugreifen können, und andererseits die Vermeidung eines Single Point of Failure.
Zwangs-Detektion und Verschlüsselung schließen sich aus
Wenn aber ein Detektionsmechanismus die Daten vor ihrer Verschlüsselung scanne, wie der aktuelle Vorschlag der Dänen es vorsieht – mit der Möglichkeit, sie nach der Überprüfung an die Strafverfolgungsbehörden zu übermitteln –, verstoße das gegen beide Grundsätze: Sie untergrabe die zentrale Kerneigenschaft von E2EE, indem sie über den Detektionsmechanismus auf die privaten Daten zugreife, und schaffe zugleich durch die erzwungene Detektion einen einzelnen Fehlerpunkt für alle sicheren E2EE-Systeme.
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sei aber unerlässlich, damit EU-Bürger:innen sicher und privat online kommunizieren können, insbesondere wenn man bedenke, dass Kernteile unserer Kommunikationsinfrastruktur von US-amerikanischen Big-Tech-Unternehmen kontrolliert würden. Verschlüsselung schütze nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch EU-Politiker:innen, Entscheidungsträger, Strafverfolgungsbehörden und Verteidigungskräfte. Sie seien in hohem Maße auf Verschlüsselung angewiesen, um eine sichere Kommunikation gegen interne und externe Bedrohungen zu gewährleisten.
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Mehr Aufklärung gegen Missbrauch gefordert
Weiterhin wenden sich die Forscher:innen auch gegen die Erzählung, dass CSAM-Darstellungen nur mit technischen Mitteln zu begegnen sei:
Wir erinnern daran, dass CSAM-Inhalte stets das Ergebnis von sexuellem Kindesmissbrauch sind. Ihre Beseitigung setzt daher die Bekämpfung des Missbrauchs selbst voraus, nicht alleine die Verhinderung der digitalen Verbreitung von Missbrauchsmaterial.
Deshalb solle die Politik nicht weiterhin auf Technologien mit zweifelhafter Wirksamkeit wie CSAM-Erkennungsalgorithmen und Altersüberprüfungen setzen, welche die Sicherheit und Privatsphäre erheblich schwächen. Stattdessen sollte sie den von den Vereinten Nationen empfohlenen Maßnahmen folgen. Zu diesen gehörten unter anderem Aufklärung über Einwilligung, Normen und Werte, digitale Kompetenz und Online-Sicherheit und umfassende Sexualaufklärung sowie Hotlines für Meldungen.

Keine Ergänzung.
Aber meine persönliche Meinung.
Ich würde einfach mal sagen/vermuten die Chatkontrolle wird durchgedrückt egal was irgendwelche Wissenschaftler_innen usw sagen.
Weil CDU/CSU und auch SPD für denn Einsatz von Palantir oder Vorratsspeicherung sind.
AfD befürwortet ja auch Palantir.
Wenn wir schon beim Fingerzeigen sind, wer für die Chatkontrolle ist, dann bitte die Ampelregierung nicht vergessen. Auch die Zugeständnisse der Grünen nicht vergessen.
Und somit sind CSU/CDU, SPD, FDP, Grüne, AfD im Bot der Kontrolle.
Das stimmt nicht. Die FDP und auch die Grünen hatten sich klar gegen die Chatkontrolle ausgesprochen, bei der verschlüsselte Dienste ins Visier geraten. Das muss man jetzt nicht im Nachhinein geschichtsklittern.
wann haben denn gross die meinungen von experten und besonders die der bürger je die politiker interessiert? das ist ja das besonders schlimme an dem ganzen in der eu. gefühlt hat sich die eu-politik mit ihren politikern was bürger- und menschenrechte angeht völlig von diesen abgekehrt.
Da war ja der Chaos Computer Club Frankfurt auf der Höhe der Zeit:
https://ccc-ffm.de/2025/09/digitalpolitischer-abend-am-9-9-um-1900-uhr/
Das wievielte mal ist das inzwischen, dass Wissenschaftler aus aller Welt zurecht vor diesem Irrsinn warnen?
Scheinen ja ähnlich viel Gehör bei den EU-Überwachungsfanatikern zu finden wie juristische Dienst des EU-Rats…
Ich hab ohnehin das Gefühl, EU-Politiker hören grundsätzlich nur dann auf Wissenschaftler, wenn sie ihre Meinung bestätigen.
Ansonsten wäre das ganze Chatkontrolle- Thema längst auf dem Müll, wo es hingehört.
Die Arbeitsweise der Wissenschaft lautet, evidenzbasiert zu einem Ergebnis zu kommen, wohingegen die Politik ergebnisbasiert zu Herleitungen kommt. Wissenschaft bedeutet auch, von bisherigen Standpunkten abzurücken, wenn neue Erkenntnisse diese widerlegen – auch das ist keine Stärke der Politik. Ergo ist Politik das Gegenteil von Wissenschaft.
Die Befürworter zeigen mit dem konsequenten Ignorieren aller Warnungen und Kritik, dass sie eben nicht ein Problem erkannt („Kindesmissbrauch“), verschiedene Ansätze geprüft haben und dadurch zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Chatkontrolle die beste Lösung sei. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Sie wollen die Chatkontrolle um jeden Preis und haben sich dafür die Begründung zurechtgelegt, die ihnen am akzeptabelsten erscheint und praktischerweise auch besonders manipulativ wirkt („Wollen Sie etwa Täter statt Kinder schützen?!“).