Bei all den Gesetzen, welche die Bürger angeblich vor Terror und Kriminalität schützen sollen, kann man schnell den Überblick verlieren. Eine der Kernforderungen von Datenschützern und Bürgerrechtlern ist daher die Evaluation von Sicherheits- und Anti-Terror-Gesetzen. Allerdings, eine solche Evaluation von staatlicher Seite findet fast nie statt.
Deswegen hat der österreichische AK Vorrat gestern das „Handbuch zur Evaluierung von Antiterrorgesetzen“ (HEAT) vorgestellt. In der mehr als 230 Seiten starken Publikation werden alle Gesetze, die Überwachungsbefugnisse enthalten, aufgelistet, beschrieben und analysiert. Zu den Beschreibungen kommen noch parlamentarische Anfragen zu den jeweiligen Gesetzen. Trotz der aufwendigen Beschäftigung mit den Gesetzen bleibt bei vielen Überwachungsbefugnissen weiterhin nur der Blick von außen, sagen die Autoren. Schuld daran sei, dass weder die Behörden noch die österreichische Bundesregierung zu tieferen Analysen und der Preisgabe von Zahlen bereit sind. Diese wären jedoch nötig, um die Effizienz von Überwachungsmaßnahmen wirklich zu evaluieren. Der Kriterienkatalog von HEAT gebe Politikerinnen und Politikern und auch der Zivilgesellschaft Instrumente in die Hand, wie Sicherheitsgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit verfassungsmäßig garantierten Grundrechten überprüft werden können.
Bewertung aller Überwachungsmaßnahmen in einer Gesamtschau
Der AK Vorrat beschreibt den Zweck des Handbuches folgendermaßen:
Für die Politik ist HEAT ein Leitfaden zur Ausarbeitung grundrechtskonformer Gesetze und für eine wirkungsorientierte Folgenabschätzung, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient. Für zivilgesellschaftliche Initiativen bildet es eine Grundlage, sich fundiert in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Für die Gesellschaft ist es der Rahmen für eine Gesamtrechnung, die alle Überwachungsmaßnahmen in einer Gesamtschau bewertet. Die zugrundeliegende Methodik und die ausgearbeiteten Kriterien sind nicht nur auf Österreich anwendbar.
Die Überwachungssituation in Österreich bezeichneten die Herausgeber als „Dammbruch“. Neuerdings dürfe sogar schon bei Verwaltungsdelikten überwacht werden. Mit der jüngsten Novelle des Börsegesetzes sei erstmals eine Auskunft über Daten einer Nachrichtenübermittlung bei einer vermuteten Verwaltungsübertretung, konkret beim Missbrauch von Insiderinformationen und Marktmanipulation, zulässig. Man sehe sich mit einer Situation konfrontiert, in der die Politik Überwachungsgesetze im Blindflug beschließe.
Evidenzbasierte Sicherheitspolitik statt Blindflug
Das Buch ist eine wichtige Arbeit, die erstmals das gesamte Ausmaß österreichischer Überwachungsgesetze und -instrumente in einem Kompendium versammelt. Angesichts dieser Überwachungsgesamtrechnung kommt Reinhard Kreissl, einer der Autoren, sogar zum Schluss, dass „staatliche Überwachung bei einer wachsenden Zahl von Menschen, die mit dieser Politik geschützt werden sollen, selbst terroristische Effekte erzeugt: die Angst immer und überall Opfer von staatlichen Angriffen auf die eigene Privatsphäre zu werden“.
Das Projekt HEAT ist mit der Veröffentlichung der Publikation nicht abgeschlossen und soll weiterentwickelt werden. Insbesondere erhoffen sich die Autoren jedoch, dass das Buch zum Einsatz kommt – und dass Politik und Zivilgesellschaft mit diesem Leitfaden in der Hand eine Evaluierung der Sicherheitsgesetze fordern.
Der Schlüssel zum Phänomen Überwachung liegt mMn im Phänomen Hierarchie.
Letztlich fußt jedes Rationale (wenn man denn da überhaupt von „Ratio“ sprechen will) pro Überwachung auf der überaus staatstragenden impliziten Prämisse, dass die Initiatoren, also die jeweils aktuell faktisch Oberen, a priori als gut anzunehmen sind, und zwar samt ihrer Helfershelfer und Vollstrecker.
Die Gültigkeit jener Prämisse wird mit dem vollen Instrumentarium des Informations- und Meinungsmanagements¹ nicht nur gegen Falsifikation, sondern schon gegen Falsifikationsversuche geschützt; auch Überwachung selbst ist übrigens auch ein Mittel dazu.
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Die interessante Frage dabei ist aber nicht, wie die Oberen dies Informations- und Meinungsmanagement implementiert, sondern ob der jetzt real existierende Bürger² mit Führungskräften, die ihr eigenes Gut-Sein, und damit ihren Führungsanspruch, relativieren und überprüfbar machen würden, überhaupt klarkommen könnte.
Will nicht jener real existierende prototypische Bürger² letztlich sogar eine Führungselite, die für ihn soweit ikonisiert wird, dass er selbst gar nicht mehr zu glauben wagen kann, dass irgendeine der Maßnahmen jener (oder ihrer Vollstrecker) nicht mehr seinem (des Bürgers) ureigenstem Wohl dienen könnte?
¹ vgl. Rainer Mausfeld „Warum schweigen die Lämmer?“
https://www.youtube.com/watch?v=Rx5SZrOsb6M)
² gerne mit der Einschränkung auf Bürger von Staaten mit einer Amtssprache aus der deutschen Sprachfamilie
Hatte ich vergessen:
@Markus Reuter:
ich hoffe, Sie verzeihen mir obige Abschweifung.
Da die Schnüffelei in Europa mittlerweile ein Ausmaß annimmt, das die dunkelsten diesbezüglichen einstigen Utopien wie Kindergeschichten wirken lässt, scheint es es mir geboten, die Analyse der Phänomene um den soziologischen und systemischen Aspekt zu erweitern.
Um das Schnüffeln effektiv einzudämmen, muss man sich imho auch mal an die Wurzel des Übels herantasten.
Ein wichtiges Papier. Insbesondere auch die Einführungen zu den einzelnen Kapiteln sind sehr anschaulich und allgemeinverständlich.
Es gibt einen kleinen Punkt, den ich vermisse (oder übersehen habe?): Was ist mit einer Zwangsherausgabe (unter Strafandrohung) von Passwörtern zu eigenen verschlüsselten Daten…
a) im Rahmen einer Ermittlung/Strafverfolgung – oder
b) im präventiven Bereich, zB bei Routinekontrollen auf der Strasse oder an Grenzen, Flughäfen, etc?
Gibt es das in Österreich, und wie wird das ggf bewertet?