Trollen zum TrotzHier kann man noch über Politik diskutieren

Wo im Netz kann man heute noch mit Fremden über Politik diskutieren, ohne danach Beruhigungstee zu brauchen? Im Vorfeld der Bundestagswahl stellen wir Orte vor, die ihre Diskussionskultur gegen Hetze verteidigen – und fragen die Menschen dahinter, wie sie das schaffen.

Illustration im Bauhaus-Stil zeigt zwei Personen, die an einem Tisch sitzen und diskutieren.
Sprechen und zuhören (Symbolbild) – Public Domain DALL-E-3 („two people in a constructive debate, bauhaus style reduced minimalist geometric shape“); Montage: netzpolitik.org

Viele Jahre lang waren Facebook und Twitter Orte, um sich mit Fremden im Netz über Politik auszutauschen, Ansichten zu erproben oder sich gepflegt zu echauffieren. Motiviert durch Likes, Shares und algorithmische Sortierung ging beim Diskutieren die Post ab, etwa über das satirische WDR-Kinderlied „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“ (2019) oder über den Mittelfinger des damaligen griechischen Finanzministers (2015).

Schon früher arbeiteten organisierte Gruppen von Rechtsaußen daran, die Debattenkultur zu vergiften. Gerade wenn es um Klimakrise, Gendern oder Migration ging, war es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Pöbeleien in den Drukos – den „Drunter-Kommentaren“ – auftauchten. Und doch hat sich seitdem einiges verändert.

Facebook gilt für viele Nutzer*innen als tot. Twitter existiert nicht mehr; der Nachfolger „X“ ist ein Nest für Rechtsradikale. Debatten wie jene über die Umweltsau-Oma erscheinen im Rückblick als Luxusproblem, während vielerorts Demokratien Richtung Faschismus kippen oder akut von Rechtsradikalen bedroht sind.

Der Rückzug aus Online-Debatten ist messbar

Bereits Anfang 2024 zeigte eine repräsentative Umfrage, dass sich Nutzer*innen in Deutschland aus Online-Debatten zurückziehen. 55 Prozent der Befragten sagten: Ich beteilige mich wegen Hass im Netz seltener an Diskussionen im Internet. Noch drastischer war die Lage bei Menschen, die selbst von Hass betroffen sind. Von ihnen sagten 70 Prozent, sie ziehen sich zurück.

Mit Fremden im Netz über Politik diskutieren – sollte man es vielleicht einfach bleiben lassen?

Genau diesen Ratschlag gaben uns Leser*innen, als wir auf der Suche nach funktionierenden Debattenräumen um Tipps baten. Lieber im vertrauen Kreis mit Bekannten sprechen, etwa per Messenger-Gruppe.

Für manche kann das ein guter Weg sein. Dennoch haben wir Orte im Netz gefunden, in denen noch möglich ist, was viele inzwischen aufgegeben haben: Mit Fremden über Politik zu diskutieren, und zwar ganz gezielt, weil man sich dafür interessiert und sich gerne einbringen möchte. Das klappt jedoch nur unter besonderen Bedingungen, wie unsere Gespräche mit den Menschen zeigen, die diese Orte am Leben erhalten.

(1) r/de auf Reddit: Moderation und Moratorien

👀 Was ist das? r/de ist die größte, deutschsprachige Community im US-amerikanischen sozialen Netzwerk Reddit. Die sogenannten Subreddits verpassen sich eigene Community-Guidelines, gepflegt und durchgesetzt von ehrenamtlichen Moderationsteams.

🌅 Was erwartet mich da? An einen Nachmittag Mitte Februar sind rund 2.000 Community-Mitglieder online. Gepostet werden hauptsächlich Artikel seriöser Nachrichtenmedien. Zu den Themen gehören die Münchner Sicherheitskonferenz und Proteste gegen Rechts. Auch Satire vom Postillon oder ein aktuelles Foto einer verschneiten Straße ist zu sehen. Unter den Artikeln entspinnen sich Gespräche mit Dutzenden, teils Hunderten Kommentaren.

☔ Was passiert, damit die Debatte nicht kippt? Das ehrenamtliche Moderationsteam hat um die 25 Mitglieder, die sich über Slack organisieren, berichtet uns Subreddit-Moderator Patrick. Die aktivsten würden 10 bis 15 Stunden pro Woche in die Moderation investieren. Links zu einigen rechten Nachrichtenmedien seien generell blockiert; Einreichungen neuer Accounts würden händisch geprüft. Für die meisten abgelehnten Einreichungen legt das Moderationsteam eine Begründung vor, so Patrick.

„Hinzu kommen gelegentliche Soft-Moratorien“, erklärt der Moderator. Das bedeutet: Einige Themen werden eingeschränkt. Damit stoppt das Moderationsteam die Flut an Links zu besonders heiß diskutierten Themen. „Das betrifft derzeit alles, was Elon Musk von sich gibt. Wenn es für jeden Furz Musk-Schlagzeilen in allen Medien gibt, ist das der Punkt, wo wir sagen, das müssen wir nicht auch noch tun.“ Zu welchen Themen ein solches Soft-Moratorium verhängt wird, ist öffentlich einsehbar.

Die Hausregeln des Subreddits haben rund 13.000 Zeichen, hinzu kommen Unterseiten. Gleich zu Beginn heißt es: „Keine persönlichen Angriffe auf andere User.“ Und: „Kein Rassismus, Homophobie, Transphobie, Sexismus, Misogynie oder andere herabwürdigende Äußerungen.“

👥 Wer ist dort aktiv? Das Subreddit ist einst als männliche geprägte Nerd-Community gestartet und hat sich seitdem geöffnet, wie Patrick erklärt. Dennoch würden einige Nutzerinnen lieber darauf verzichten, sich als weiblich zu outen. Die Community könne durchaus Empathie und ernst gemeinte Ratschläge liefern, aber auch hämische Kommentare. „Wer politische Themen diskutieren will, sollte robust sein“, sagt Patrick. Er vergleicht die Stimmung mit einer größeren Gruppe am Kneipentisch.

💸 Wer bezahlt das? Reddit ist ein börsendotierter Konzern und schaltet Werbung. Außerdem hat Reddit einen Deal mit Google gemacht, um Inhalte von Nutzer*innen fürs KI-Training zu recyceln – zum Unmut vieler Reddit-User*innen.

(2) PolitPro: Gezielte Fragen, begrenzte Zeichenzahl

👀 Was ist das? PolitPro ist auf den ersten Blick ein übersichtliches Dashboard für Wahltrends, hat aber auch eine eigene Community. Jeden Tag gibt es schlicht gehaltene, politische Fragen mit vorgegebenen Antwortoptionen – verbunden mit der Möglichkeit, darüber zu diskutieren.

🌅 Was erwartet mich da? An einem Nachmittag Mitte Februar waren in der PolitPro-Community gerade zehn Umfragen offen, zum Beispiel „Sind kleine Parteien für euch eine echte Wahlalternative?“ oder „Welchen Einfluss haben die TV-Duelle auf eure Wahlentscheidung?“ Jeweils Hunderte bis Tausende Nutzer*innen habe ihre Stimmen abgegeben. Danach kann man seine Position begründen. Mitlesen geht im Browser ohne Login; zum Mitmachen braucht es einen Account in der PolitPro-App für Android oder iOS. Angemeldete Nutzer*innen können freiwillig offenlegen, wo im politischen Spektrum sie sich verorten würden.

☔ Was passiert, damit die Debatte nicht kippt? PolitPro begann als Hobby-Projekt von Manuel Gutsche, der bei Jodel und Reddit Erfahrungen im Community-Aufbau gesammelt hat. „Wir müssen uns wieder mehr zuhören“, sagt er über seine Motivation. Inzwischen betreibt er PolitPro hauptberuflich. Das Rezept der Plattform ist die sehr klare Begrenzung der Kommunikation.

Pro Umfrage können Nutzer*innen nur einen Beitrag zur Begründung ihrer Meinung posten, begrenzt auf 1.000 Zeichen. Zusätzlich kann man pro Umfrage nur zu einer begrenzten Zahl fremder Meinungsbeiträge eigene Kommentare hinterlassen. Auf diese Weise will Gutsche verhindern, dass eine Handvoll dominanter User die Community mitreißt und den Eindruck erweckt, dass extreme Positionen dominieren. „Meinungsvielfalt findet zwischen den Extremen statt. Das Entscheidende sind die Grautöne“, sagt er.

Optional können Nutzer*innen ihre Beiträge direkt in der App mithilfe von ChatGPT aufpolieren lassen. Dabei gehe es um Rechtschreibung und Leserlichkeit. „Gerade durch krumme Formulierungen wird aneinander vorbeigeredet, obwohl Leute dasselbe meinen“, sagt Gutsche.

Texttafel mit Text: Schon wieder Databroker Files! Wir lassen nicht locker und enthüllen weitere Akteure. Nur möglich dank deiner Unterstützung. Spende jetzt.

👥 Wer ist dort aktiv? Gutsche spricht von einer niedrig fünfstelligen Zahl aktiver Nutzer*innen pro Monat. Gerade im Vorfeld von Wahlen sei das Interesse höher. In den Diskussionen sieht er einen Querschnitt der Gesellschaft abgebildet, von Schüler*innen und Studierenden über Azubis, Arbeitnehmer*innen und Rentner*innen. Auch einzelne Lokalpolitiker*innen seien dabei. Gutsche hofft darauf, dass auf PolitPro Menschen zusammenkommen, die in der Realität nie miteinander diskutieren würden.

💸 Wer bezahlt das? PolitPro gibt es erst seit Ende 2018 und ist noch nicht profitabel, wie Gutsche erklärt. Etwas Geld komme derzeit durch Werbung und Premium-Funktionen herein. Zahlende Nutzer*innen können sich etwa anzeigen lassen, wie die Ergebnisse der Umfragen aufgeschlüsselt nach Parteienspektrum aussehen.

(3) PolitikSim: Fiktive Politik, echte Gedanken

👀 Was ist das? PolitikSim ist ein Rollenspiel, dessen Teilnehmer*innen mithilfe der Team-Software Discord das politische Deutschland simulieren. Nutzer*innen erfahren zum Beispiel via Instagram von der Simulation und kommen auf den Discord-Server. Sie lesen sich ins dort Regelwerk ein und treten dann einer der simulierten Parteien bei. Es gibt simulierte Sitzungen von Bundestag, Bundesrat und Landesparlamenten. Simulierte Nachrichtenmedien schreiben Artikel; auf einem simulierten Twitter kursieren Parolen. In separaten Diskussionsräumen können sich die Teilnehmer*innen aber auch außerhalb ihrer Rollen miteinander unterhalten.

🌅 Was erwartet mich da? Auf den ersten Blick kann einen die Simulation etwas erschlagen. Es gibt zig Unterkanäle und Tausende Nachrichten von Hunderten Nutzer*innen. „Man kann sich so viel einbringen, wie man Zeit und Lust hat“, erklärt Johannes im Gespräch. Er ist ehemaliger Bundestagspräsident der Mitte-Links-Partei „Bündnis Demokratie Europa“ – innerhalb der Simulation. Im echten Leben ist er Schüler und macht demnächst Abitur.

In der Simulation könne man viel über Politik lernen und sich ausprobieren, wie Johannes erzählt. Wie viele Stunden pro Wochen man einplanen sollte, damit es sich überhaupt lohnt, das ließe sich schwer beantworten. „Gerade in der Landtagspolitik gibt es weniger zu tun als in der Bundespolitik“, sagt Johannes.

Im simulierten Deutschland gibt es nur vier Bundesländer mit in der Regel 15 Abgeordneten. Der simulierte Bundestag habe 41 Abgeordnete und tage alle eins bis zwei Wochen. Die Sitzungen würden ein bis zwei Stunden dauern, „je nachdem wie viele Drucksachen eingereicht wurden“. Für Gesetzentwürfe gebe es Vorlagen, sogar deren Rechtsform werde geprüft. Johannes sagt: „Wir sehen das als so eine Art Bildungsauftrag.“

☔ Was passiert, damit die Debatte nicht kippt? Die Community verwaltet sich durch ihre eigenen Mitglieder. Um die sieben Leute seien in der Moderation tätig, wie Johannes erzählt. Bei gewissen Themen koche die Stimmung auch mal über und es würden harte Worte gewählt – wie im realen Bundestag. „So lange es in einem gewissen Rahmen bleibt, ist das in Ordnung. Wichtig ist, dass man sich danach wieder verträgt“, sagt Johannes. Die simulierten Parteien würden das Spektrum im Bundestag abbilden, von der „Einheitlich-sozialistischen Partei“ (links) bis hin zur „Republikanischen Partei“ (rechts).

👥 Wer ist dort aktiv? Die meisten Teilnehmenden bei PolitikSim seien jung, sagt Johannes, vor allem Schüler*innen und Studierende. „Wir haben aber auch Leute, die schon arbeiten.“ Und die meisten seien männlich – „leider“. Es gebe aber auch Frauen; eine davon in der Projektleitung. Das Team hoffe, dass es mehr werden.

💸 Wer bezahlt das?  In die Simulation selbst fließt vor allem sehr viel Zeit. Discord wiederum ist ein US-Konzern und verdient Geld mit Premium-Funktionen.

(4) „Talk der Nation“: Flucht in die Podcast-Nische

👀 Was ist das? „Talk der Nation“, oder auch: das Lage-Forum ist das Online-Forum für Hörer*innen des Politik-Podcasts „Lage der Nation“ mit Ulf Buermeyer und Philip Banse. Zunächst ist es ein Ort für Themenvorschläge und Feedback rund um den Podcast. Auf dieser Grundlage entspinnen sich aber auch immer wieder Debatten. Ulf Buermeyer schreibt uns hierzu: „Unter der Überschrift eines Themenvorschlags kann man so gut wie jedes politische Thema zur Diskussion stellen.“

🌅 Was erwartet mich da? An einem Nachmittag Mitte Februar besprechen die Foren-Mitglieder zum Beispiel die Rolle der Linkspartei vor dem Hintergrund der Bundestagswahl, Datenschutz bei der elektronischen Patientenakte und den möglichen Bedarf europäischer Soldat*innen in der Ukraine. Zum Mitlesen muss man sich nicht einloggen; Mitdiskutieren geht nur mit einem kostenlosen Account.

☔ Was passiert, damit die Debatte nicht kippt? Fünf Nutzer*innen begleiten das Forum als Moderationsteam und schalten eingereichte Beiträge frei. Die FAQ beginnen mit dem Satz: „Bitte behandle dieses Diskussionsforum mit dem gleichen Respekt wie einen öffentlichen Park.“ In den Leitlinien für die Moderation heißt es unter anderem:

„Wir betrachten (…) alle Beiträge, die an das Lage-Forum geschickt werden, als Leser:innen-Briefe: Wir veröffentlichen eine Auswahl der Beiträge, die wir für besonders wertvoll halten. Das bedeutet, dass es Gründe für die Veröffentlichung geben muss, nicht dagegen. Deswegen werden Entscheidungen der Moderation auch nicht begründet.“

👥 Wer ist dort aktiv? Das Forum ist ein Ort für engagierte Lage-Hörer*innen, also für Menschen, die gerne wöchentlich ein bis zwei Stunden lang zuhören, wenn ein Jurist und ein Journalist die politische Lage durchkauen. Entsprechend nachrichtenaffin und sprachfertig ist das Publikum. Laut öffentlicher Website-Statistiken waren Mitte Februar rund 800 Nutzer*innen in den vorigen sieben Tagen aktiv und haben 1.400 Beiträge geliefert.

💸 Wer bezahlt das? Hinter dem Lage-Podcast steckt die „Lage der Nation Media GmbH & Co. KG“. Zur Finanzierung gibt es etwa Werbung innerhalb des Podcasts und ein Abo-Angebot.

Es gibt noch viele weitere Orte

Die hier vorgestellten Orte sind nur eine Auswahl – und zugleich eine Inspiration, um sich weitere Orte zu erschließen. Zum Beispiel wird auf Reddit auch unter r/Politik über Politik diskutiert. Eine Art Ableger von r/de hat sich im Fediverse gebildet und diskutiert als c/dach auf feddit.org weiter.

Ähnlich wie PolitPro funktioniert „Spiegel Debatte“. Dort können zahlende Spiegel-Abonnent*innen zuerst über eine klare Fragestellung abstimmen und dann über die Begründungen ihrer Entscheidung miteinander ins Gespräch kommen.

Viele empfinden etwa Mastodon im Fediverse oder Bluesky als Alternativen für Twitter, wie es früher war. Wer hier neu einsteigt, muss jedoch zunächst Accounts folgen und sich Stück für Stück eine Timeline aufbauen.

Es gibt auch weitere Politiksimulationen außer PolitikSim, allerdings sind sie nicht immer leicht zu finden und teils nicht mehr aktiv. Interessierte können etwa auf Instagram oder in Discord-Server-Listen danach stöbern.


Kennt Ihr weitere Orte im Netz, wo man mit Fremden über Politik diskutieren kann? Schreibt Eure Empfehlungen gerne als Ergänzung unter diesen Artikel!

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