Panik, Provokation, SchallwaffenWas geschah bei der Großdemo in Belgrad?

Am Samstag hatte der mutmaßliche Einsatz einer mysteriösen Waffe eine Massenpanik und den Abbruch einer Großdemo in Belgrad ausgelöst. Die serbische Regierung gibt mittlerweile den Besitz von LRAD-Schallwaffen zu. Es gibt Hinweise auf einen koordinierten Angriff und ein weiteres Waffensystem. Eine Spurensuche.

Foto zeigt einen Landrover Defender mit einem LRAD 450XL auf der Motorhaube
Vor dem Parlament steht am 15. März ein Landrover mit einer Schallwaffe vom Typ LRAD 450XL. Screenshot

Die serbische Regierung hat mittlerweile zugegeben, dass sie Schallwaffen vom Typ LRAD (Long Range Acoustic Device) besitzt. Am Mittwochmorgen sind ein Video und Fotos aufgetaucht, die eine Soundwaffe des Herstellers Genasys, mit der man über sehr weite Strecken Töne ausgeben kann, vor dem Parlament zeigen.

Ob ein LRAD-System aber allein den Effekt auf die Menschenmenge auslösen konnte, der am Samstag in Belgrad beobachtet wurde, ist fraglich. Gegen 19:11 Uhr liefen Menschen auf einer Länge mehrerer Hundert Meter und entlang einer geraden Linie panisch auseinander. Zahlreiche Hinweise deuten inzwischen auf eine Koordination verschiedener Störaktionen und Provokationen zu diesem Zeitpunkt hin, bei der mutmaßlich auch Schallwaffen oder gar eine Vortex-Kanone involviert gewesen sein könnten.

Serbiens Regierung führt, was den Besitz von Schallwaffen angeht, einen veritablen Eiertanz auf. Am Samstag hatte das Innenministerium noch behauptet, es habe keine Schallwaffen. Präsident Aleksandar Vučić hatte den Einsatz von LRAD am Samstagabend ausgeschlossen. Dann hatte es geheißen, dass diese Geräte nur eingepackt in Lagerhallen liegen würden. Am Dienstagabend hatte Präsident Vučić den Einsatz von Schallkanonen ein weiteres Mal ausgeschlossen.

Serbien besitzt offenbar 16 LRAD-Schallwaffen

Dann waren am Mittwochmorgen die Fotos des Systems auf einem Fahrzeug vor dem Parlament aufgetaucht. Die Abgeordnete Marinika Tepić von der Oppositionspartei SSP präsentierte am Mittwochmittag Dokumente, die den Kauf von 16 LRAD-Systemen der Firma Genasys durch Serbien beweisen sollen. Von den 16 gekauften Geräten sind sieben vom größeren Typ 450XL und neun vom Typ 100X. Das serbische Innenministerium präsentierte daraufhin bei einem Medientermin die LRAD-Systeme als ganz normale Lautsprecher für Durchsagen.

Solche LRAD-Systeme können jedoch mit sehr hohen und lauten Tönen als Waffe gegen Menschenmengen eingesetzt werden. Laut einem Medienbericht hat Serbien die Schallwaffe schon 2023 gegen Geflüchtete eingesetzt. Eine gesetzliche Grundlage für den Einsatz von Schallwaffen gibt es in Serbien nicht.

Interaktive Karte

Wir haben im Nachgang der Ereignisse vom Samstag zusammen mit Hackern, Aktivisten und Journalisten aus Deutschland und Serbien spontan eine Ad-Hoc-Recherchegruppe gebildet. Diese Gruppe hat eine interaktive Karte der Ereignisse erstellt, die fortlaufend erweitert wird. Die Karte trägt verfügbares Material zusammen und soll helfen, die Vorgänge am 15. März in Belgrad zu rekonstruieren. Die Karte ist Work-in-Progress, sie enthält auch nicht-verifiziertes Material. Sie ist deswegen mit Vorsicht zu genießen und wird nicht alleine von netzpolitik.org befüllt.

Rot = Ereignisse.  Blau = Kameraaufnahmen des Vorfalls. Gelb = Verdächtiges / Auffälliges / Hinweise.

Polizist berichtet von mehreren und mobilen Schallwaffen im Einsatz

In einem Artikel der serbischen Zeitung Danas berichtet ein namentlich nicht genannter Polizist, dass die Polizei bei den Massenprotesten am vergangenen Samstag mehrere LRAD-Systeme im Einsatz gehabt hätte, darunter auch mobile Systeme, die nicht auf ein Auto verbaut waren. Er sagte nicht, ob sie auch eingesetzt wurden.

„Uns wurde auch gesagt, dass ein Gerät im oder in der Nähe des Präsidialgebäudes aufgestellt wurde und dass die am Park der Pioniere geparkten Traktoren speziell dafür vorgesehen waren, die Auswirkungen der Kanone abzufedern, falls sie eingesetzt würde, da wir Personal im Park hatten“, fügte er hinzu. Unklar ist, ob es sich dabei um die gleichen Systeme handelt, denn die Wirkung und den Ton der eher hochfrequenten LRAD-Systeme würden Traktoren kaum abfedern – und der Effekt auf die Menschenmenge spricht auch nicht für eine klassische LRAD-Waffe alleine.

Menschenmenge in Panik versetzt

Am vergangenen Samstag hatten in Belgrad mehr als 300.000 Menschen gegen die Regierung von Präsident Vučić protestiert. Gegen 19:11 Uhr, inmitten von Schweigeminuten, wurden die Menschen auf dem Terazije-Platz und auf der Straße Kralja Milana von Panik erfasst. An dieser Straße liegt auch der Präsidentenpalast.

In sozialen Medien sind zahlreiche Videos aufgetaucht, die ein panisches Auseinanderlaufen der Menschenmenge entlang einer Linie zeigen (Sammlung von Videos auf Bluesky). Videos von Überwachungskameras ohne Ton, die auf Reddit gepostet wurden und deren Echtheit netzpolitik.org nicht verifizieren konnte, zeigen, wie die Menschen plötzlich auseinanderlaufen und dann schnell wieder zum Stillstand kommen.

Die Mehrheit der Augenzeugen berichtet von Angst, Panik und Schock, mit schnellem Herzschlag, Zittern, Orientierungslosigkeit und einem Gefühl des Kontrollverlusts. Einige berichten von Kopfschmerzen, Druck oder Summen in den Ohren, Übelkeit, Gedächtnisverlust und starkem Druck im Kopf und dass sie das Gefühl eines Strudels im Körper spürten.

A rough synchronization of 24 separate videos recording the crowd response to the use of alleged sonic weapons on the evening of March 15th in Belgrade

[image or embed]

— Jack Sapoch (@jacksapoch.bsky.social) 18. März 2025 um 16:21

Hinweise auf verschiedene koordinierte Störaktionen

Der Klang der eingesetzten Waffe ist auf den Videos nicht klar zuzuordnen. Menschen beschreiben ihn als angsteinflößend. Manche sagen, sie hätten einen hohen Ton gehört, andere ein nahendes Flugzeug oder einen Ton, den sie nicht einordnen konnten. Es sei wie im Traum gewesen, wie ein Auto oder ein Lastwagen, der durch die Menge rast.

Zusätzlich zu der mysteriösen Waffe sollen nach einem Bericht des Magazins Vreme exakt um 19:11 Uhr Personen von einer Baustelle Feuerwerkskörper in die Menschenmenge geworfen haben. Zeitgleich warfen laut dem Bericht auch Regimeanhänger aus dem Pionirski Park Böller und Flaschen auf die Demonstration.

Eine weitere Theorie, die netzpolitik.org nicht verifizieren konnte, geht davon aus, dass mobile LRAD-Systeme in Rucksäcken genutzt worden sein könnten. Vreme berichtet zudem von drei verdächtigen weißen Lieferwagen ohne Nummernschild, die direkt am Präsidentenpalast parkten. Es gibt also jede Menge Puzzlestücke zum Angriff auf die größte Demonstration in der Geschichte Serbiens.

Der US-Hersteller Genasys verbreitete unterdessen eine Stellungnahme, dass die bisherigen Video- und Audiobeweise den Einsatz eines LRAD am 15. März in Belgrad im Moment der Massenpanik nicht stützen würden.

Zivilgesellschaft verurteilt Verletzung der Menschenrechte

Bei einer Bürgerrechtsorganisation haben mittlerweile 3.000 Menschen Zeugenaussagen abgegeben, laut Medienberichten wurden mehr als 50 Menschen mit Beschwerden im Krankenhaus behandelt. Die serbische Zivilgesellschaft fordert in einer Petition, eine (internationale) Aufklärung und das Verbot solcher Waffen.

Wie die Dialektika berichtet haben 1500 Universitätsprofessor:innen und Intellektuelle – unter ihnen Nobelpreisträger – einen Offenen Brief verfasst, in dem sie den Angriff als „schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte [..] einschließlich des Rechts auf friedliche Versammlung, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und letztlich des Rechts auf Leben“ verurteilen.

Banner mit Text: Finanziert durch euch! Journalismus mit Haltung. Garantiert nicht neutral. Nur möglich dank deiner Unterstützung. Spende jetzt.

Das Geräusch der Vortex-Kanone

Audioexperten, die netzpolitik.org befragt hat, hatten aus einem Video einen Ton ähnlich einem Windstoß (MP3) extrahiert. Später hat die Nichtregierungsorganisation Earshot zwölf Videos analysiert und auf vieren ein charakteristisches Geräusch gefunden. In einer auf X veröffentlichten Aufnahme und einem Statement heißt es:

[Diese] Videos enthalten ein Geräusch, das mit dem Lärm einer Vortex Ring Gun oder Vortex Cannon übereinstimmt. Da diese Waffe Gas mit einer Geschwindigkeit von 185 Meilen pro Stunde aus ihrem Zylinder drückt, erzeugt ihr Ausstoß ein heulendes Geräusch, das mit einem Düsentriebwerk verglichen wurde, zusammen mit Wirbelringen [..]

[..] Sollte es sich hierbei um die Vortex-Kanone handeln, wären diese Aufnahmen mehr als 700 m von ihr entfernt. Bei dieser Entfernung ist der Abschuss der Waffe nicht mehr hörbar; nur das deutliche Pfeifen der Druckwelle, die sich vom Schützen weg und auf die Menge zu bewegt, ist zu hören und löst eine Massenpanik aus.

Hinweise auf einen möglichen Standort der Vortex-Kanone oder Bilder derselben gibt es derzeit nicht. Eine Vortex-Kanone muss recht groß sein, um den in den Videos gesehenen Effekt zu erreichen. Ton- und Videoaufnahmen weisen aber auf eine Vortex-Kanone hin sowie das Verhalten der Menschen in manchen Videos. Die drehen sich schon vor der Fluchtbewegung nach hinten um, wohl weil sie Schreie hören und weil sich der Schall der Schreie schneller ausbreitet als die Welle der Vortex-Kanone.

Im Rahmen der Recherche tauchten auch weitere mögliche Soundquellen und Waffen auf, wie eine chinesische tragbare Infraschall-Waffe, die zum Einsatz gegen Demonstrationen entwickelt wurde. Bilder in der South China Morning Post zeigen ein handliches Gerät. Video-, Bild- oder Audio-Material, wie diese Waffe im Einsatz wirkt oder klingt, konnte netzpolitik.org jedoch nicht herausfinden.

Hinweise: 
Gegenüber der ersten Version wurde noch ein Satz und ein Link zum Einsatz aus dem Jahr 2023 von serbischen Schallwaffen gegen Geflüchtete  hinzugefügt sowie das lange Zitat von der NGO Earshot etwas gekürzt. 

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

0 Ergänzungen

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.