Liebe Leser*innen,
es ist mein letzter Monat als Praktikant bei netzpolitik.org, und diese Woche war endlich mal wieder so richtig was los im Büro. Nachdem zusätzlich zur Saure-Gurken-Zeit letzte Woche auch noch das Chaos Communication Camp einen großen Teil unserer Redaktion in Beschlag genommen hatte, kehrte nun wieder Leben bei uns ein. Der Meetingraum war morgens voll bis auf den letzten Platz, die Kolleg*innen tuschelten hitzig über anstehende Artikel und die Siebträgermaschine gab alle paar Minuten ihr sinnliches Surren von sich. Einfach schön.
Diese Woche ist außerdem mein erstes, größeres Rechercheprojekt bei netzpolitik.org erschienen. Zusammen mit Sebastian und Ingo habe ich mich nochmals auf den Xandr-Datensatz gestürzt, über den Ingo im Juni erstmals berichtet hatte. Das ist eine riesige Tabelle, die der Datenmarktplatz Xandr versehentlich ins Netz gestellt hatte. Sie gibt einen beispiellosen Einblick in die Geschäfte der Werbeindustrie. In unserem Follow-up haben wir erstmals auf EU-Ebene gezeigt, wie persönlich die Daten sind, die die Werbeindustrie trotz Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) über uns sammelt und zu Geld macht.
Dabei war ich als Datenjournalist besonders gefragt: Die Aufgabe war es, aus rund 650.000 Zielgruppen, sogenannten Segmenten, jene zu finden, die sich erstens auf EU-Bürger*innen beziehen und zweitens auf persönliche Eigenschaften. So ein Segment handelt zum Beispiel von Witwen auf dem Land in Frankreich – und ja, man kann an diese Zielgruppe gezielt Online-Werbung ausspielen.
Tagelang haben wir gefiltert und sortiert, zuerst maschinell, dann händisch. Zuletzt haben wir über einzelne Segmente diskutiert: Halten wir es für eine gesundheitlich relevante, persönliche Eigenschaft, wenn jemand Alkohol trinkt – oder muss es schon „überdurchschnittlich“ viel Alkohol sein? Und warum gibt es ein Segment über „unsichere“ Menschen, die „unnötige Ausgaben“ machen?
Mein Zwiespalt mit der DSGVO
Ich war erschrocken, wie feinkörnig wir in manchen Bereichen unseres Lebens vermessen werden. Wie sehr einige der Segmente vor Missachtung gegenüber den Betroffenen strotzen: „Geringverdiener ohne Orientierung“ zum Beispiel. Etliche Male habe ich mir in den letzten Wochen an den Kopf gefasst und laut ausgerufen: Das kann doch einfach nicht sein!
Ich war auch erschrocken, wie leichtfertig einige der Datenbroker jegliche Verantwortung von sich weisen – etwa, indem sie auf unsere Presseanfrage nicht einmal antworten. Und nicht zuletzt war ich erschrocken, wie vielen Menschen das alles komplett egal ist.
Zugleich war ich überrascht, wie viel mehr bedenkliche Segmente wir beispielsweise in den USA fanden, wo der Datenschutz rechtlich eine deutlich kleinere Rolle spielt. Vieles deutet darauf hin, dass die DSGVO uns durchaus vor Schlimmerem bewahrt. Andererseits läuft die Durchsetzung der Gesetze so zäh ab, dass es einen manchmal in die Verzweiflung treiben könnte. Seit Jahren tänzelt etwa Meta der EU auf der Nase herum, weil uns Konzern nicht ordentlich nach Erlaubnis fürs Verknüpfen und Sammeln von Daten bitten möchte.
So bliebt am Ende der Recherche ein Zwiespalt: Sollte ich dankbar sein, dass uns die DSGVO zumindest etwas schützt? Oder sollte ich mich trotzdem alle paar Tage darüber aufregen, dass es das ganze System überhaupt noch gibt?
Ein trackingfreies Wochenende wünscht euch
Johannes