Die Gefahren des Microtargeting sind nicht nur dank Jan Böhmermann einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Das Team des ZDF Magazin Royale zeigte in Kooperation mit der Organisation „Who Targets Me“ im vergangenen September und damit kurz vor der Bundestagswahl eindrücklich, wie alle im Bundestag vertretenen Parteien während des Wahlkampfs auf Facebook sogenanntes Microtargeting einsetzten und welche Risiken dies für eine demokratische Gesellschaft bergen kann.
Beim Microtargeting, also der zielgerichteten, auf persönlichen Verhaltensdaten basierenden Werbung, werden Menschen mit bestimmten Interessen ein- oder ausgeschlossen, ohne dass das transparent ist. Auf diese Weise haben Parteien beispielsweise widersprüchliche Werbebotschaften an unterschiedliche Gruppen versendet. Und die Transparenzversprechen von Unternehmen wie Facebook halfen offenbar kaum, das zu verhindern.
So umwarb etwa die FDP gezielt Menschen mit „grünen“ Interessen ebenso wie „Vielreisende“, die Tempolimits befürchten. Und ein Abgeordneter der Linkspartei richtete seine Facebook-Werbung an Menschen, die sich für „Russia Today“ (heute: „RT“) und Ken Jebsen interessieren. Das ist an sich für viele nicht unbedingt verwerflich, wird aber problematisch, wenn es auf intransparenter Nutzung personenbezogener Daten basiert. Auch Ministerien nutzten das Microtargeting: Das SPD-geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat nachweislich Facebook-Anzeigen für Menschen geschaltet, die sich für die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ interessieren. Das von Grünen geführte Klimaschutzministerium in Rheinland-Pfalz adressierte Menschen, die sich für „Bündnis 90/Die Grünen“ interessieren.
In den vergangenen Monaten ist in Deutschland wenig passiert, um Menschen vor dieser Form des Microtargeting zu schützen oder wenigstens für bessere Transparenzmaßnahmen zu sorgen. Das Klimaschutzministerium in Rheinland-Pfalz hat zumindest reagiert, allerdings weisen die Maßnahmen einige Schwächen auf. Ansonsten: Es gab weder ein nennenswerte Debatte dazu im Bundestag noch Ideen für klare Regeln für Parteien und Plattformen. Vielleicht gehört Microtargeting schon so sehr zum Standardrepertoire ihrer Kampagnen, dass politische Werbetreibende lieber kein Aufheben darum machen. Vielleicht wartet Deutschland aber auch einfach auf eine Verordnung der EU. Denn in Brüssel wird derzeit heftig über Regeln zu politischer Werbung diskutiert. Die geplanten Vorgaben zu Targeting gehören zu den umstrittensten Teilen des Vorschlags, und der Riss verläuft dabei vor allem zwischen der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament.
Wie (stark) soll Targeting eingeschränkt werden?
Der vorliegende Kommissionsentwurf sieht nur vergleichsweise geringe Einschränkungen des Microtargeting vor. Demnach sollen dafür künftig keine sensiblen personenbezogenen Angaben wie etwa zur Gesundheit oder zur Weltanschauung genutzt werden dürfen – es sei denn, die Nutzer:innen stimmen dem zu. Das aber schließt eine strenge Regulierung faktisch weitgehend aus. Gerade großen Werbeplattformen wie Facebook oder YouTube wird es nicht allzu schwerfallen, die Einwilligung ihrer Nutzer:innen zu erhalten. Die zuständige Kommissarin Věra Jourová bekräftigte jüngst, dass striktere Vorgaben nicht vorgesehen sind.
Dementgegen fordert die Berichterstatterin im Europäischen Parlament, Anna Donáth, deutlich strengere Regeln für politische Werbung: So solle Targeting nur anhand weniger demografischer Daten wie der Sprache der Nutzer:innen und ihres ungefähren Wohnorts möglich sein – und das auch nur, wenn diese dazu ausdrücklich ihre Erlaubnis erteilen. Ein Targeting, das auf persönlichen Daten basiert, die aus dem Onlineverhalten der Menschen abgeleitet werden, sollte hingegen gänzlich verboten sein. Der Gedanke dahinter: Je unspezifischer die Datenprofile sind, desto weniger kleinteilig lässt sich die Wählerschaft anhand dieser segmentieren. Das könnte dazu beitragen, dass politische Kommunikation, die teils mit öffentlichen Mitteln bezahlt wird, sich nicht nur an eine nach politischen Überzeugungen zusammengestellte Gruppe richtet, sondern an alle Bürger:innen gleichermaßen.
Gerade weil diese Diskussion um Targeting (in Artikel 12 des Entwurfs) zu einem der größten Konflikte der Verordnung gehört, sollte die Bundesregierung sich im Rat der EU dafür einsetzen, dass es klare Regeln ohne weit gefasste Ausnahmen gibt.
Reicht der Fokus auf Targeting aus?
Politische Werbung auf Facebook und ähnlichen Plattformen funktioniert aber nicht nur über die Auswahl einer Zielgruppe. Vielmehr bestimmen zudem die Algorithmen einer sozialen Plattform, wem die Anzeige eingeblendet wird.
Ein Beispiel: Eine Partei möchte Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren erreichen, die in Städten leben und sich für Ernährung interessieren. Diese Zielgruppe umfasst 10.000 Leute. Welche Nutzer:innen dieser Gruppe jedoch die Anzeige in den Feed gespült bekommen, bestimmen nicht die Werbetreibenden, sondern die Algorithmen der Plattformen – wiederum anhand von personenbezogenen Daten, mit denen auf das Interesse und „Engagement“ der Nutzer:innen geschlossen wird.
Fachleute weisen seit Jahren auf die Bedeutung dieser sogenannten „ad delivery“ hin. Erst im Juli haben Forschende und zivilgesellschaftliche Expert:innen deren Bedeutung im Rahmen einer Anhörung im Europäischen Parlament einmal mehr betont. Demnach müsse es auch für die Ausspielung von Werbeanzeigen Vorgaben geben, welche Daten dafür eingesetzt werden dürfen.
Die Mahnungen scheinen allmählich Gehör zu finden: Die EU-Kommission führte für diese Form der Werbeausspielung, die nicht in der Hand der Partei oder Kandidierenden liegt, den Begriff der „Amplifizierung“ ein. Das ist ein wichtiger Fortschritt bei der Gesetzgebung zu politischer (Online-)Werbung, der unbedingt beibehalten werden sollte. Und im Parlament ist bereits ein Komplettverbot jeglicher Nutzung persönlicher Daten bei politischer Werbung im Gespräch. Die Bundesregierung sollte sich hier für datenschutzfreundliche Regeln einsetzen.
Welche Transparenzpflichten gibt es noch?
Die geplante Verordnung will das Targeting bei politischer Werbung aber nicht nur einschränken, sondern auch transparenter gestalten. Wer wirbt? Wer zahlt dafür? Und wie viel? Antworten auf diese Fragen sollen laut Entwurf künftig bei allen Anzeigen leicht einsehbar sein. Solche Transparenzangaben sollten jedoch auch die Zielgruppenauswahl und Werbeausspielung umfassen. Zumindest Ersteres wird bereits diskutiert: Wer wird gezielt in der Kommunikation angesprochen, wer ausgeschlossen? Es gibt noch viele Details zu den Transparenzpflichten, die geklärt werden müssen, aber der grundsätzliche Offenlegungsgedanke scheint auf Zustimmung zu stoßen: Wenn jemand Geld dafür ausgibt, Leute von politischen Ideen oder Personen zu überzeugen, muss dies transparent erfolgen.
In diesem Zusammenhang haben Abgeordnete des Europäischen Parlaments – auch aufgrund von Hinweisen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft – die Einführung einer Datenbank für politische Werbung ins Spiel gebracht. Mit einer umfassenden, gut zu durchzusuchenden und ständig gepflegten Datenbank könnten sich die Öffentlichkeit, insbesondere aber Forschende und Journalist:innen, einen Überblick über politische Werbung verschaffen, inklusive Targeting und Ausspielung. Missstände wie jene, die das Team um Böhmermann und Who Targets Me aufgedeckt hat, könnten so leichter erkennbar sein.
Zwar haben Facebook, Instagram und YouTube bereits ähnliche Datenbanken eingeführt – allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Dank des Digitale-Dienste-Gesetzes der EU („Digital Services Act“, DSA) sind große Plattformen nun dazu verpflichtet, verbesserte Werbearchive für jegliche Werbung einzuführen. Allerdings fehlt selbst dann eine plattformübergreifende Datenbank, die auch kleinere Unternehmen umfasst. Wenn es nach den beiden berichterstattenden EP-Abgeordneten geht, könnte das für politische Werbung in Reichweite rücken. Die Bundesregierung sollte den Aufbau einer solchen Datenbank unterstützen.
Bis zur nächsten Wahl des Europa-Parlaments soll das Gesetz stehen
Die nächste Bundestagswahl scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Doch die Weichen für faire, transparente, datenschutzfreundliche politische Wahlwerbung werden jetzt gestellt. Außerdem geht es bei politischer Werbung nicht nur um Wahlen: Politiker:innen, Parteien und Organisationen werben ständig und können dabei auch auf die Targeting- und Ausspielwerkzeuge großer Werbeunternehmen setzen. Statt sich dabei auf freiwillige Maßnahmen der Unternehmen oder einzelner Ministerien zu verlassen, braucht es EU-weite Regeln.
Im Herbst 2022 werden die Diskussionen dazu fortgeführt. Das Gesetz soll nach Wunsch aller Beteiligten noch vor der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament, die im Jahr 2024 stattfindet, in Kraft sein. Die EU-Regeln werden dann den Rahmen vorgeben, in dem bezahlte politische Kommunikation offengelegt wird. Das wiederum hat Einfluss auf die politische Willensbildung von Millionen Menschen in der EU. Und gerade deshalb ist es so wichtig, kluge und konsistente Antworten auf die offenen Fragen zu Transparenz- und Targetingregeln, aber auch zur Definition und Durchsetzung zu finden.
Microtargeting läutet das Ende der Demokratie ein. Genauso wie jedes Angebot das auf detaillierten Informationen von Personen ausgesprochen wird.
Demokratie erfordert permanente Gegenüberstellungen oder auch Erörterungen. Mir persönlich geht Werbung schon seit Jahren auf den Geist. Zumal in den seltensten Fällen zutreffende Eigenschaften beworben werden.
Aber das ist anstrengend. Ständig abwägen, ständig lesen.
Grundsätzlich aber habe ich nichts gegen Werbung, solange auch sichergestellt ist, das diese keinerlei Targeting unterliegt.