Menschenrechtsverstöße in MaltaGrundrechtsbüro bei Frontex kritisiert eigene Luftüberwachung

Ein Seenotfall vom Mai belegt, wie maltesische Behörden seeuntüchtige Boote passieren lassen, damit Geflüchtete erst vom Nachbar Italien gerettet werden. Der amtierende Grundrechtsbeauftragte von Frontex findet dafür deutlichere Worte als seine Vorgängerin.

Eine verschwommene schwarz-weiß-Luftaufnahme eines Schlauchootes, daneben ein Kreuz des Kamera-Displays.
Aufnahme des Mehrzweck-Luftüberwachungsdienstes der EU-Grenzagentur. Frontex

Seit 2017 überwacht die in Warschau ansässige Grenzagentur der Europäischen Union die Migrationsroute im zentralen Mittelmeer mit eigens dafür geleasten Flugzeugen. Inzwischen wird der Dienst von Malta und Kreta durch zwei große Drohnen unterstützt. Die Einsätze der Luftfahrzeuge öffnen eine Hintertür für völkerrechtswidrige Zurückweisungen: Frontex übernimmt die Luftüberwachung für die Küstenwache aus Tripolis, damit diese die entdeckten Geflüchteten nach Libyen zurückholt. Das geschieht sogar regelmäßig auch dann, wenn sich Boote in der Seenotrettungszone von Malta befinden.

Jonas Grimheden, der Grundrechtsbeauftragte bei Frontex, findet deutliche Worte für diese Praxis. So steht es in einem „Bericht über einen schweren Vorfall“, den die Agentur auf eine Informationsfreiheitsanfrage herausgeben musste. Den Frontex-Mitarbeiter:innen mangelt es demnach an Kriterien für die Einstufung, wann ein Boot unverzüglich von Einheiten in der Nähe gerettet werden muss. Die Grenzagentur soll deshalb einen „Dialog“ über Definitionen von Schiffen in Seenot mit Malta beginnen, das in dem Bericht ebenfalls für seine Untätigkeit kritisiert wird.

Malta rettet Boot in Seenot nicht

Ein „Bericht über einen schweren Vorfall“ ist die Vorstufe einer Untersuchung und kann von allen Frontex-Bediensteten angeregt werden, wenn ein Verdacht auf einen Verstoß gegen die Frontex-Verordnung oder internationale Konventionen vorliegt. Das vorliegende Dokument bezieht sich auf einen Seenotfall in der Nacht vom 12. auf den 13. Mai dieses Jahres.

Das im Rahmen des Mehrzweck-Luftüberwachungsdienstes (MAS) im Frontex-Auftrag operierende Flugzeug „Eagle 1“ hatte ein Holzboot mit 24 Insass:innen entdeckt und an die zuständige Rettungsleitstelle in Malta gemeldet. Der in der Nähe befindliche Öltanker „Ross Sea“ hätte die Menschen an Bord nehmen können, wurde aber von der maltesischen Küstenwache zum Abwarten aufgefordert.

So berichtete es die Seenotrettungsorganisation Sea-Eye auf Twitter, nachdem ihr Schiff „Sea-Eye 4“ mit dem unter singapurischer Flagge fahrende Tanker Kontakt aufnahm und Kurs auf das Holzboot nahm. Die Geflüchteten wurden anschließend von den privaten Retter:innen an Bord genommen. Laut Aussagen der Menschen an Bord seien diese bereits vier Tage auf dem Wasser gewesen.

Grimhedens Büro bestätigt dies in dem Bericht mangels eigener Kenntnisse nicht, geht jedoch von mindestens zwei Tagen aus. Denn bereits am 11. Mai hatten die Bootsinsassen die italienische Seenotleitstelle um ihre Rettung gebeten.

Küstenwache muss Zustand der Bootsinsassen überprüfen

Malta ist dafür bekannt, Geflüchtete ungeachtet ihres Zustandes in Richtung Italien weiterfahren zu lassen – solange der Motor der Boote noch funktioniert. Die maltesische Küstenwache hält in diesen Fällen die Seenotleitstelle in Italien für zuständig. Der „Bericht über einen schweren Vorfall“ kritisiert diese Untätigkeit und fordert, dass Behörden in derartigen Fällen „unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um die Rettung zu koordinieren“.

Eine ähnliche Situation, in der Malta 400 Geflüchtete eines im Sinken begriffenen Bootes nicht rettete, hat 2013 zu einem der größten Bootsunglücke im Mittelmeer geführt, bei dem mehr als die Hälfte der Insass:innen ertrank. Dies führte ein Jahr später zum Start der ersten Frontex-Mission im zentralen Mittelmeer. Anfangs war diese noch mit Schiffen ausgestattet.

Inzwischen überwacht Frontex dort nur noch aus der Luft. Flüge erfolgen vorwiegend in der libyschen Seenotrettungszone. Auf dem Weg in dieses weit von den EU-Außengrenzen entfernte Einsatzgebiet durchqueren die Flugzeuge und Drohnen von Frontex auch jene Zonen, für die Italien oder Malta zuständig sind.

Malta zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass nicht alle Boote in ihrer Seenotrettungszone tatsächlich in Seenot sind, da diese noch manövrierfähig seien. Allerdings wird dies von der Küstenwache häufig nicht vor Ort überprüft. Denn auch der Gesundheitszustand der Geflüchteten oder die Anwesenheit von Kindern kann ausschlaggebend dafür sein, dass ein Notfall vorliegt. So regeln es auch Konventionen wie das Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See.

Malta dementiert Vorwürfe

Darauf verweist auch der Grundrechtsbeauftragte Grimheden. Sein Amt sei „generell“ der Ansicht, dass die nationalen Behörden bei der Beurteilung der Dringlichkeit eines Falles „neben den Kriterien der Seetüchtigkeit des Bootes auch den Zustand und die Gesundheit der Migranten berücksichtigen müssen“. Jede Gefahr des Verlusts von Menschenleben muss demnach ausgeschlossen werden.

„Die Verantwortlichen wissen aus ihrer langjährigen Verantwortung sehr wohl, dass die Personen an Bord nicht über seetüchtige Boote, die nötigen nautischen Kenntnisse oder die Hilfsmittel verfügen, die es braucht, um das Mittelmeer sicher zu überqueren“, sagt auch Gorden Isler, der Vorsitzende der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye.

Für den „Bericht über einen schweren Vorfall“ wurde auch Malta um eine Stellungnahme gebeten. In der Antwort heißt es, Behauptungen, dass Boote „sinken, treibend zurückgelassen werden oder Rettung behindert werden, sind falsch“. Die maltesischen Behörden seien überdies der Ansicht, dass „das Grundrechtebüro oder Frontex“ nicht das Recht hätten, hierzu überhaupt Fragen zu stellen.

Dessen ungeachtet fordert Grimheden die Behörden in Malta auf, bei Such- und Rettungsaktionen transparenter zu werden, die im Zusammenhang mit Frontex-Sichtungen stehen. Insbesondere bei schweren Zwischenfällen sollten die Behörden mehr kooperieren. Gegenüber seinem Büro habe Malta sogar falsche Angaben zu dem Seenotfall vom 12./13. Mai gemacht.

Frontex meldet 433 Fälle von Seenot

Die im Jahr 2019 erneuerte Frontex-Verordnung gibt der Agentur deutlich mehr Fähigkeiten und Kompetenzen, die auch mit einer Aufwertung der Grundrechtebeobachtung einhergehen sollten. Dies wurde jedoch vom damaligen Direktor Fabrice Leggeri verschleppt. Erst nach etlichen Medienberichten über die Mithilfe bei gröbsten Menschenrechtsverletzungen und auf öffentlichen Druck hin haben die EU-Mitgliedstaaten im Frontex-Verwaltungsrat eine „Grundrechtestrategie“ auf den Weg gebracht.

In einem dazugehörigen „Aktionsplan“ ist auch die Luftüberwachung erwähnt. Jede Notlage muss demnach an die zuständige Seenotleitstelle gemeldet werden. Benötigt ein Boot sofortige Hilfe, muss ein Funk-Notruf an alle in der Nähe befindlichen Schiffe und Flugzeuge erfolgen.

Erst kürzlich hat Frontex in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage versichert, sich an diese Vorgabe zu halten. Demnach erfolge die Beurteilung eines Seenotfalls gemäß einschlägiger, internationaler Konventionen. 2021 will Frontex 433 Fälle mit 22.696 Personen als „Such- und Rettungsaktionen“ klassifiziert und an die zuständigen Seenotleitstellen gemeldet haben.

Beobachtung im „Surveillance Room“

Vage bleibt Frontex hinsichtlich der Frage, ob die maltesische Küstenwacheaus Sicht der Agentur seeuntüchtige Boote ihre Seenotrettungszone durchfahren lässt, ohne notwendige Maßnahmen zu deren Rettung zu ergreifen. Mit Stand von Ende Juli seien zu derartigen Fällen aber drei „Berichte über ernste Vorfälle“ eingeleitet worden.

Vermutlich ist es Grimheden zu verdanken, dass sein Büro seit einem Jahr auch die Luftüberwachung von Frontex beobachtet. Die möglichen Grundrechtsverletzungen des Flugdienstes werden somit ebenso genau dokumentiert, wie dies für die einzelnen EU-Mitgliedstaaten erfolgt. Laut dem Jahresbericht für 2021 sind dafür inzwischen vier Mitarbeiter:innen zuständig.

Die Beobachter:innen sind demnach auch bei Einsätzen der Flugzeuge und Drohnen im „Surveillance Room“ des Mehrzweck-Luftüberwachungsdienstes anwesend. In den ersten vier Monaten des vergangenen Jahres wurden bereits fünf Berichte über „ernste Zwischenfälle“ erstellt, zwei davon aber nicht mehr weiterverfolgt.

Büro des Grundrechtsbeauftragten bleibt zahnlos

Über das Ergebnis der Berichte oder etwaige Konsequenzen nach Ende der Untersuchungen ist nichts bekannt. Ohnehin ist das Amt des Grundrechtsbeauftragten zahnlos, sein Büro kann allenfalls beraten und Empfehlungen aussprechen.

Nach seiner Amtsübernahme beschwerte sich Grimheden in dem Magazin Euobserver, dass die Agentur seine Ratschläge ignoriert. Gegenüber Abgeordneten hatte der Grundrechtsbeauftragte zuvor erklärt, dass Frontex in einigen Mitgliedstaaten „in Grundrechtsverletzungen verwickelt sein oder diese unterstützen könnte“. Auch dies ist ein anderer Tonfall, als er von Grimhedens Vorgängerin bekannt war.

„Das Büro des Grundrechtsbeauftragten ist falsch konstruiert“, erklärt Arne Semsrott von der Transparenzorganisation Frag den Staat, die einst 600 „Berichte über ernste Vorfälle“ von Frontex ausgewertet hatte, auf Anfrage von netzpolitik.org. „Wären der EU die Grundrechte an ihren Außengrenzen ein echtes Anliegen, müsste der Grundrechtsbeauftragte eigenständig werden und die Macht erhalten, bei Fehlverhalten in die Arbeit von Frontex einzugreifen“.

1 Ergänzungen

  1. Über die im Artikel angesprochenen Geschehnisse und deren Rechtsauffassung lässt sich streiten. Jedoch ist zuerst die Notlage der entsprechenden Boote festzustellen. Dies kann allerdings rechtlich bindend nicht die Frontex als Privat-Unternehmen tun, sondern nur eine öffentliche Stelle – also hier das entsprechende Schifffahrtsamt oder adäquate Stelle des angerenzenden Staates.
    Eine im Text genannte offizielle Seenot-Rettungszone gibt es überhaupt nicht. Es existieren See-Hoheitsgebiete, welche einem Staat zugehörig sind und internationale Gewässergebiete – mehr nicht.
    Auch spielt in der Seenot-Rettung die Frage des Eigenschutzes und Sicherheit eine gewichtige Rolle. Wie soll z. B. ein Öltanker mit etwa 5 Besatzungsmitgliedern ein in Seenot geratenes Boot mit 300 Flüchtlingen aufnehmen? Das ist logistisch überhaupt nicht machbar – zumal den Rettungsbedürftigen dieses Risiko auch bewusst ist.

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