Am 2. März hat die Europäische Union die Verbreitung der russischen Staatsmedien RT und Sputnik verboten. Wie das Magazin The Conversation feststellt, hat Russland indes einen Weg gefunden, diese Einschränkungen zumindest auf Twitter zu umgehen: Die Regierung verwendet Accounts russischer Botschaften, Missionen und Kommissionen, um die eigene Kampagne fortzuführen. Diese Accounts nehmen als Regierungs-Accounts eine Sonderrolle bei Twitter ein.
In einer Analyse von 75 dieser Accounts stellten die Wissenschaftler:innen des Magazins fest, dass die Mehrheit ihrer Tweets falsche Informationen enthalten. Diese können die Botschaftsaccounts recht einfach verbreiten. So verzichten sie darauf, russische Staatsmedien zu verlinken, während sie aber sehr ähnliche Narrative verbreiten. Dabei haben sie eine beträchtliche Reichweite: Alleine zwischen dem 25. Februar und dem 3. März haben die Accounts 1157 Tweets abgesetzt. Seit ihrem Bestehen sollen sie zusammen 35,9 Millionen Retweets, 29,8 Millionen „Gefällt mir“-Angaben und 4 Millionen Antworten erhalten haben. Insgesamt folgen ihnen 7,3 Millionen Nutzer:innen.
Laut den Wissenschaflter:innen behandelten über 30 Prozent der Tweets den Ukrainekrieg und verbreiteten dabei das russische Narrativ von der „Sonderoperation“ oder einem Kampf gegen eine angeblich neonazistische Regierung in der Ukraine.
Koordiniertes Retweeten mit Folgen
Die Accounts sollen den Wissenschaftler:innen zufolge aktiv zusammenarbeiten, indem sie bestimmte Tweets gemeinsam retweeten. Ihrer Analyse zufolge, weisen die Accounts dabei ein koordiniertes Vorgehen auf. So sollen die Accounts bestimmte Inhalte oft zu fast gleichen Zeitenpunkten retweetet haben.
Diese Form des massenhaften Retweetens ordnen die Wissenschaftler:innen als „Astroturfing“ ein. Der Begriff leitet sich von der Kunstrasen-Marke „Astroturf“ ab und meint eigentlich das künstliche und verdeckte Erschaffen einer „Graswurzelbewegung“, die für oder gegen etwas eintritt. Ziel von klassischem Astroturfing ist es, es auf diese Weise vorzutäuschen, dass eine bestimmte Haltung gesellschaftlich weit verbreitet ist.
Es ist allerdings nicht ohne Weiteres klar, ob sich der Begriff auf das aktuelle Verhalten der russischen Staatsaccounts übertragen lässt. Schließlich ist im Falle der Retweets klar, wer hinter den Accounts steckt. Beim klassischen Astroturfing würde dies verschleiert, um größtmögliche Authentizität vorzutäuschen. Außerdem werden im Rahmen einer modernen Astroturfing-Kampagne meist massenhaft pseudonymisierte Meinungsäußerungen verfasst. Auch das ist hier nicht in entsprechender Form gegeben. Nichtsdestotrotz verbreiten die Regierungsaccounts offenbar Falschinformationen. Die Anstrengungen sind damit zumindest als staatliche Desinformationskampagne einzuordnen.
Twitter sperrt andere Accounts
Im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg insgesamt gibt Twitter in einem Blogpost an, seit Kriegsbeginn über 75.000 Accounts wegen Verstößen gegen die „Richtlinie zu Plattformmanipulation und Spam“ gesperrt zu haben. Außerdem hat Twitter nach eigener Auskunft über 50.000 irreführende oder falsche Inhalte mit einem entsprechenden Hinweis versehen oder gelöscht. Weiter warnte Twitter im Falle von über 61.000 Tweets, dass jene auf russische Staatsmedien verlinken.
Details zu den Inhalten der Sperrungen sind allerdings kaum verfügbar. So veröffentlicht Twitter aktuelle Daten erst mit einigen Monaten Verzögerung. Nichtsdestotrotz wurde am 4. März bekannt, dass Twitter unter anderem über hundert Accounts gelöscht hat, welche unter „koordiniertem, un-authentischen Verhalten“ den Hashtag #Istandwithputin verbreitet haben sollen.
Twitter bekundet gegenüber netzpolitik.org, dass der Konzern am 27. Februar einige desinformierende Accounts gelöscht habe. Nach ersten Erkenntnissen würden jene Accounts aus Russland stammen.
Staatsaccounts weitgehend unberührt
Außerdem sagt Twitter gegenüber netzpolitik.org, dass es „weiterhin proaktiv beobachtet, ob neue Narrative entstehen, die gegen die Twitter-Regeln verstoßen“. Damit bleibt allerdings offen, welche Strategien und Maßnahmen das Unternehmen im Fall von Desinformationskampagnen durch Regierungsaccounts verfolgt.
Twitter hat bisher erst in einem Einzelfall gehandelt: Die Plattform hatte einen Tweet der russischen Botschaft in Sri Lanka und drei der britischen Botschaft aufgrund von „missbräuchlichen Verhalten“ gesperrt. In den Tweets hatten die Botschaften behauptet, dass das zerstörte Kinderkrankenhaus Mariupols gar nicht in Betrieb gewesen sei. Die Behauptung hat offenbar eine Rote Linie überschritten.
Möglichkeiten zur Eindämmung von Falschinformation gäbe es verschiedene: Für Warnhinweise auf Fehlinformation müsste Twitter die Tweets aber erst einmal überprüfen und bewerten. Eine zusätzliche Option wäre die Beschränkung von Twitter, Tweets von Staatsmedien nicht zu verstärken und weiterzuempfehlen, auch auf Regierungsaccounts generell auszuweiten.
Twitter – kein russisches Neuland
In der Vergangenheit hat Twitter beachtliche russische Desinformationskampagnen aufgedeckt. Da Twitter die zugehörigen Daten veröffentlicht hat, ist diese Kampagne der russischen Propaganda-Organisation Internet Research Agency (IRA) wissenschaftlich umfassend aufgearbeitet.
Vergangene Kampagnen hatten eine enorm große Reichweite. So haben Anwälte von Facebook, Google und Twitter vor dem US-Kongress ausgesagt, dass wahrscheinlich mehr als 150 Millionen Menschen der russischen Desinformationskampagne zur US-Präsidentschaftswahl 2016 ausgesetzt waren.
Wie Wissenschaftler:innen in einer quantitativen Analyse aller Tweets feststellen, waren davon allerdings nicht nur englischsprachige Personen betroffen. Neben den knapp drei Millionen englischen Tweets, um welche sich der US-Kongress sorgte, wurden in dem Zeitraum 5,6 Millionen Tweets in anderen Sprachen verbreitet – auch auf Deutsch.
Die Wissenschaftler:innen stellten zudem fest, dass die IRA im Rahmen dieser Kampagne, neben der Spaltung der westlichen Gesellschaften, schon seit Jahren Desinformation zur Ukraine verbreitet. Inhaltlich sei es dabei um angebliche Kriegsverbrechen sowie Atomreaktorunfällen in der Ukraine gegangen.
In Chats ist russische Propaganda von Pro-Trump-Propaganda kaum zu unterscheiden. Teils auch nicht von allgemeinen Faktrensammlungen ohne Vergleichsbezug.
Die Botschaft der Russischen Föderation in London ist eine in Großbritannien, keine britische.