"Made to Measure"Die Doppelgängerin

Das Doku-Projekt „Made to Measure“ will untersuchen, ob man das Leben eines Menschen anhand seiner Google-Daten nachspielen kann. Das Experiment zeigt, wie wenig wir inzwischen noch überblicken, was Konzerne aus unseren Datenspuren alles herauslesen können.

Wer bin ich und wer ist der Mensch, den Google sieht? Die Protagonistin im Angesicht ihrer Doppelgängerin. – Alle Rechte vorbehalten Konrad Waldmann

Am Anfang war ein Versprechen: „Du gibst uns deine Daten und wir sagen dir, wer du wirklich bist.“ Mit diesem Versprechen haben Hans Block, Cosima Terrasse und Moritz Riesewieck im Sommer 2020 auf Facebook nach Menschen gesucht, die ihnen ihre Daten überreichen würden. Daten, die in der EU nach geltender Rechtslage jede und jeder bei Unternehmen wie Facebook oder Google einfordern kann.

Mehr als Hundert Menschen sind ihrem Aufruf gefolgt und haben ihnen Datensätze geschickt. Darin: Suchanfragen aus den vergangenen Jahren, die tief blicken lassen, aber auch Metadaten: Von wo aus haben sie gesucht, um welche Uhrzeit, wie oft? Auch Spuren aus Apps und von Webseiten, auf denen Google sie getrackt hat.

Terrasse, Riesewieck und Block kommen eigentlich vom Theater. Unter dem Namen Gruppe Laokoon arbeiten sie aber im Grunde investigativ. Und diesmal wollten sie untersuchen, ob es stimmt, was Studien in den vergangenen Jahren immer wieder behaupteten: dass sich anhand dieser Datenspuren mehr und Genaueres über die Ängste, Schwächen und Sehnsüchte eines Menschen erfahren lässt, als Partnerinnen oder Freunde über ihn je sagen könnten. Würden Sie es schaffen, mit Hilfe der Datenmuster einen Doppelgänger zu bauen, „der mehr über sich weiß als das Original“?

Datendrehbuch als Thriller

Das Ergebnis dieses Experimentes ist seit diesem Sonntag auf einer Webseite zu sehen und parallel als 45-minütiger Dokumentarfilm „Made to Measure“ in der ARD-Mediathek. Es ist ein beeindruckendes Zeugnis, selbst für Menschen, die sich vermeintlich lang und abgeklärt mit Themen wie Datenhandel, Profilerstellung und Microtargetting beschäftigt haben. Wie ein Thriller wird man hineingezogen in das Leben der Protagonistin, die sich erst nach und nach aus dem Drehbuch der Daten abzeichnet, erst nur eine Silhouette, dann immer deutlicher. „Nach Bremsbelegen gesucht“, „nach Kondomen gesucht“, „nach Lidschattenpalette für blaue Augen gesucht“.

Vor drei Jahren hatten Gruppe Laokoon mit ihrem Debutfilm „The Cleaners“ auf Filmfestivals einen großen Auftritt, darin ging es um Löscharbeiter*innen auf den Philippinen, die die Drecksarbeit für Facebook erledigten.

Ähnlich aufwändig ist ihr neues Mammut-Projekt „Made To Measure“. Denn die Regisseur*innen nehmen die Sache mit dem Drehbuch der Google-Daten ernst. Sie casten eine Schauspielerin, die junge Österreicherin Nathalie Köbli. Sie soll sich mit Hilfe der Daten so tief wie möglich in die unbekannte Protagonistin einfinden, versuchen ihr innerlich wie äußerlich denkbar nah zu kommen. Welche Frisur hat sie, wie groß und schwer ist sie?

All das lässt sich erahnen anhand der mehr als Hunderttausend Datenpunkte, die Google über einen Zeitraum von fünf Jahren über diesen Menschen gesammelt hat. Die Protagonistin arbeitet zu Beginn offenbar als Pâtissier in einem Londoner Sterne-Restaurant. Vor Sonnenaufgang googelt sie schon: „Rezept für Pistaziencreme“, „Anleitung Eis-Nocken abstechen“. Kulissen werden nachgebaut, Szenen in der Küche und in ihrer Wohnung nachgespielt – der genaue Standort und die Fassade dank Google leicht auszumachen -, alte Beziehungen, in denen sie gesteckt haben könnte, wiederbelebt.

Ängste, Süchte, Katastrophen

Das ist mal zum Schreien komisch, etwa wenn die Unbekannte nachts einem Gekko hinterher googelt, der sich offenbar in ihr Zimmer verirrt hat. Beißt er, ist er giftig? An anderen Stellen wird es beängstigend. Ängste, Süchte, persönliche Katastrophen und Verletzungen treten in den Suchanfragen so offen zur Schau, dass es in einem Moment selbst der Schauspielerin zu viel wird und die Tränen rollen. Um dieses Drama in all seinen Facetten aufzunehmen, empfiehlt es sich, die Webseite zu erforschen. Sie erzählt die Geschichte zwar ebenso linear wie der Film, bietet aber mehr Details und vor allem lässt sie die Zuschauer*innen selbst in den Datenpunkten suchen.

Im Hinterkopf bei all dem: Der ungute Gedanken, was Unternehmen, die mit Hilfe dieser Daten Geld verdienen, alles über uns wissen, wie sie diese Schwächen gegen uns wenden und ausnutzen können, um Essgestörten Diätprodukte unterzujubeln, ungewollt Kinderlosen Werbung für Fruchtbarkeitsmittel zu zeigen oder das Verhalten von Menschen auf andere Arten zu manipulieren. Als Überbringerinnen dieser unguten Gedanken kommen zwischendurch immer wieder auch Datenschutz-Expert*innen zu Wort, darunter etwa Frederike Kaltheuner.

Das große Finale des Experimentes wird die Begegnung von Doppelgängerin und Original. Die Anspannung aller Beteiligten in diesem Moment ist geradezu elektrisch. Und ohne zu viel zu verraten: Es wird gelacht, geweint und umarmt. Am Ende wird immer unklarer, wo die Grenzen liegen zwischen dem, was sich tatsächlich zugetragen hat in einem Leben, und dem, was Google – und die Filmemacher*innen – daraus gemacht haben. Dafür wird umso deutlicher: Die Deutungsmacht zurückzuholen über die eigene Identität, ist etwas, was uns alle noch beschäftigen wird.

Made To Measure. ARD (Mediathek): 29. August 2021, WDR Fernsehen: 01. September 2021 um 22.15 Uhr. Erstausstrahlung SRF Sternstunde Philosophie, linear und in der Mediathek: 29. August 2021. Webseite: www.madetomeasure.online.

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17 Ergänzungen

  1. „Du gibst uns deine Daten und wir sagen dir, wer du wirklich bist.“

    Das wäre einem Philosophen allerdings nie so herausgerutscht.

  2. „Die Deutungsmacht zurückzuholen“

    Die andere Richtung ist ja auch Folter. „Mehr wissen als“ funktioniert ja nur durch Oktruieren dessen, was die Person nun gefälligst sein soll, spätestens wenn sie es auf Bestätigung anlegen. Eine halbtote Katze lässt grüßen.

    Das ist ungefähr das gleiche, wie Flussbegradigung. Bis zur nächsten Flut!

  3. Ist die Premiere Teil des Experiments? „Come to the Premiere on Sunday at 6pm on Zoom“
    Da wäre den Macher:innen mehr kritische Distanz zu wünschen.

    1. „Ist die Premiere Teil des Experiments? „Come to the Premiere on Sunday at 6pm on Zoom““

      Wärest Du den Informationen gefolgt, – ein klick hätte genügt – wärest Du schlauer.
      Da ist noch eine Menge Hintergrund mit dran.

      Zitat:
      „Zum Launch der Storytelling-Webseite von MADE TO MEASURE lädt die Kulturstiftung des Bundes im Zuge der fünften Ausgabe der Reihe „Labore des Zusammenlebens“ zum Gespräch mit dem Künstlerkollektiv und weiteren Beteiligten. In Video-Chat Sessions in jeweils kleiner Runde können Fragen diskutiert werden, die das Experiment aufgeworfen hat. Außerdem führen LAOKOON die Besucherinnen durch den Parcours ihrer Webseite, bevor diese später am Abend freigeschaltet wird.“

      https://laboredeszusammenlebens.liteproject.de/

      Die Site wird betrieben und zur Verfügung gestellt durch die Kulturstiftung des Bundes.

      1. Krass:

        „Die Veranstaltungen, die online über das Tool „Zoom“ der Zoom Video Communications, Inc. stattfindet, wird aufgezeichnet. Ausschnitte der Ton-, Bild- und/oder Filmaufnahmen der Veranstaltung werden im Nachgang im öffentlich zugänglichen Bereich der Website der Kulturstiftung des Bundes, auf verschiedenen Social-Media-Kanälen wie YouTube, Facebook, Instagram u. Ä. sowie in Publikationen veröffentlichen bzw. zitieren. Zweck dieser Datenverarbeitung ist die Information der Öffentlichkeit über die Veranstaltungen. Weitere Informationen zum Datenschutz bei der Nutzung des Videokonferenzdienstes „Zoom“ finden Sie hier.“

        Danke schön.

    2. Das dachte ich mir auch :D
      Also Zoom geht halt leider garnicht.. Abgesehn davon konnte ich mich leider nirgends für die Premiere anmelden. Wird das heute noch auf dem YT Channel „Labore des Zusammenlebens“ erscheinen? Wir sind soo gespannt :-)

  4. Super Film. Danke für die Empfehlung. Warum nur zwei Tage online laut Mediathek, verstehe ich nicht – würde sich sicher länger lohnen.

    Könnte man bei Netzpolitik nicht mal eine Liste aller jemals empfohlenen Filme, verlinkten Projekte usw. zur Verfügung stellen?

  5. Schöner Werbefilm für Google. Solange wir mit den Daten versuchen etwas positives zu erreichen bspw. das Verhindern eines Suizids, ist es egal wie viele Daten gesammelt werden.
    Die Frage, ob das Datensammeln an Sich denn nötig is wurde nicht erörtert.
    Wirklich Schade das für so etwas hier Werbung gemacht wird

  6. Ohne zu spoilern: unbedingt (alleine) bis zum Ende ansehen! Sowas in der Form hab ich noch nicht gesehen obwohl ich schon ein Doku-Fan bin. Hut ab – bin gespannt wie das im TV nur annähernd so rübergebracht werden sol

  7. Ich war von der Doku eher entäuscht. Sie hat mir leider keine neue Erkentniss gebracht! Und wenn ich versuche mir vorzustellen wie der Film aus Sicht eines Ottonormalverbrauchers aussieht war er einfach nicht schockend und aufklärend genug! Er hätte ruhig länger, detailreicher und aufklärender sein können. 3/5

    1. Ich glaube das ist auch immer eine Gratwanderung. Zu Viel Details auf ein mal läßt viele ONU’s das Interesse verlieren. Und wer beim sehen nicht den Wunsch nach mehr Infos und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten und deren Marktmacht verspürt dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. Und „mehr Details“ bietet; wie oben genannt; die webseite. Der Film ist; so gesehen; wie eine Werbung. Erst anlocken und dann einfangen. Und genau das vermittelt die Webseite mit dem Film ja auch, nur ganz offen und man muß bis zum Schluß gucken. [Spoiler-Alarm] :-)

  8. Ich mußte unwillkürlich an den (ähem Fiktionalen?) Dystopischen Roman „Qualityland“ denken. Der Protagonist dort hat das gleiche Problem, der Allmacht der Algorithmen zu entfliehen die ihm nur eine Wahl lassen wollen: Konsumieren. In diesem Sinne haben wir alle schon „Peter’s Problem“ und das ist nicht mehr zum lachen.

  9. NICHTS rechtfertigt die Datensammelwut von Google. Das brauch man gar nicht schön zu reden.
    Die Kritik an Google und anderen Konzernen wird durch evtl positive Extrembeispiele abgeschwächt. In einer Utopie in der es eine vollkommen neutrale nicht auf Profit oder Kontrolle ausgerichtete Instanz die gesammelten Daten nutzt um Menschen zu helfen wäre wünschenswert.
    Aber kein Unternehmen was hinter 0,1% guter Taten, 99,9% skrupellose Gewinnmache verbirgt.
    In diesem Sinne Idee war gut Umsetzung verbesserungsfähig :)

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.