In einem Interview spricht Gerhart Baum über Freiheit, Sicherheit, Bürgerrechte und Datenschutz. Geführt wurde das Gespräch von Stefan Brink, dem Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg, der eine neue Interviewreihe gestartet hat: In der Videoserie „B.sucht Freiheit“ wird ebenjene Freiheit in den Vordergrund gerückt.
Wir veröffentlichen einen Teil des fünfzigminütigen Gesprächs, in dem Baum und Brink über Grundrechte unter den heutigen digitalen Bedingungen sprechen, aber auch Einblicke in die Geschichte des Datenschutzes geben.
Gerhart Baum ist FDP-Politiker, Sozialliberaler und war ab 1978 bis zum Bruch der sozialliberalen Koalition Chef des Bundesinnenministerium. Heute ist er noch immer bundesweit bekannt durch sein langjähriges Engagement für Bürgerrechte und seine klare Positionierung für mehr Datenschutz.
„Ich war der Sicherheitsminister“
Stefan Brink: Sie haben die juristische Laufbahn eingeschlagen, haben Jura studiert, waren Rechtsanwalt. Von 1972 bis 1982 waren Sie in Bonn damals zunächst als Staatssekretär, später als Minister im Kabinett Helmut Schmidt. Gab es da schon Bezüge zur Thematik Datenschutz?
Gerhart Baum: Ja natürlich! Wir haben das erste Bundesdatenschutzgesetz gemacht …
Stefan Brink: … 1978 …
Gerhart Baum: … das hatte angefangen in Hessen. Beispielhaft. Wegweisend! Wir haben das erste Bundesdatenschutzgesetz gemacht, haben auch Experten ins Ministerium geholt. Ich habe das betreut im Parlament für die Regierung, musste dafür werben. Vielen Kollegen war das Thema gar nicht präsent. Die wussten gar nicht, was das ist.
Und dann gab es dieses Spannungsverhältnis. Wir waren das Sicherheitsministerium. Ich war der Sicherheitsminister, ich konnte überhaupt nur überleben, mit der damaligen Gefährdungssituation, mit dem Vertrauen der Sicherheitsbehörden. Ich musste mir das Vertrauen erarbeiten. Es war ein großes Misstrauen da: „Wer ist dieser Mann? Ein Linker? Wie wird der mit uns umgehen?“ Ich glaube, ich habe das geschafft. […] Das ist ja übrigens auch bis heute angelegt im Innenministerium, nur wird das nicht ausgelebt: das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit; zwischen den Sicherheitsbehörden und dem Datenschutz. Es gibt ja Widerstände bei den Sicherheitsbehörden.
Und dann gab es die Polemik in den Wahlkämpfen: „Datenschutz ist Täterschutz“. [Franz Josef] Strauß und vor allen Dingen die CSU, aber auch die CDU versuchten mich dann in diese Ecke zu schieben: „Der Mann ist unfähig! Der Datenschutz behindert die Fahndung! Dann laufen die Täter frei herum!“ Bis hin – zum Beispiel – zu dem Versuch, mir das Oktoberfestattentat von 1980 in die Schuhe zu schieben: „Die Toten, das habt ihr der Untätigkeit des ‚Unsicherheitsministers‘ Baum zu verdanken!“ Ich war also ein sehr umstrittener Minister, schon damals, mit Datenschutz.
Der Datenschutz war auch angelegt in dem Programm der FDP. Ich habe mal einen Programmentwurf entwickelt, der dann nur zum Teil akzeptiert worden ist. Die Partei wurde nach der [sog. Bonner] Wende 1982 stark wirtschaftspolitisch aktiv, wurde zur Wirtschaftspartei. Und das Freiburger Programm wurde ersetzt durch das Lambsdorff-Papier. Das Freiburger Programm war die Sozial-Liberalität, also die Verantwortung für die ganze Gesellschaft und nicht nur für irgendwelche Klientel. Und wir haben in diesem Programm auch den Datenschutz schon damals zur Geltung gebracht. 1977 haben wir damals schon den Finger auf die Gefährdungen gelegt, die wir heute diskutieren. Das ist dann in der FDP etwas in den Hintergrund geraten, aber damit hat es begonnen.
Stefan Brink: Sie waren mit dem Ende der Sozialliberalen Koalition 1982 nicht glücklich …
Gerhart Baum: Nein.
Stefan Brink: … sind aber noch bis 1994 als Abgeordneter im Bundestag geblieben. Und danach vielen auch heute Jüngeren in Erinnerung geblieben als ein Kämpfer für Bürgerrechte auf verschiedenen Ebenen. Mit Ihnen verbinden sich sehr viele Beschwerden nach Karlsruhe, eine Vielzahl von erfolgreichen Verfahren, die Sie durchgeführt haben. Der Große Lauschangriff ist ein Thema. Die Online-Durchsuchung und die Vorratsdatenspeicherung waren Ihre Themen. Interessanterweise hat ja das Bundesverfassungsgericht Ihnen sehr häufig recht gegeben.
Gerhart Baum: Ja. Es war im Grunde ein jahrzehntelanger Kampf im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit. Der begann eigentlich schon dramatisch zu werden mit der Bekämpfung der RAF. Da ist der Staat zum Teil ausgerastet und ist über die Grenzen gegangen. Nicht nur mit Gesetzen, sondern vor allen Dingen auch mit Verhandlungsmethoden, die Unbeteiligte einbezogen.
Das ist ja das Hauptproblem: Die Täter zu verfolgen ist nicht das Problem, sondern Unbeteiligte ihrer Bürgerrechte zu berauben. Wir haben dann einen jahrzehntelangen Prozess der sicherheitspolitischen Aufrüstung erlebt. Da gab es einen Kampf gegen das organisierte Verbrechen, das war mal ein großes Thema, dann der Kampf gegen die Vermummung. Und immer wieder: Asyl.
Wir haben der Verhunzung unseres Grundrechts, Artikel 16, praktisch der Abschaffung des Asylrechts, als Minderheiten-FDP, [Burkhard] Hirsch, ich und andere nicht zugestimmt. Es war immer ein Einsatz eher für die Freiheit, und wir haben uns heftig gewehrt, auch gegenüber [Otto] Schily, dem Innenminister und anderen, die dann plötzlich ein Grundrecht auf Sicherheit erfunden haben. Und auch gegen Theoretiker in der Wissenschaft, die gesagt haben: „Der Staat ist nicht gerüstet. Wir müssen andere Prioritäten setzen. Die Gefahren werden nicht mehr beherrscht. Wir müssen das geltende Recht verlassen!“ Gegen all diese Tendenzen haben wir ununterbrochen gekämpft. Nach jedem Terroranschlag ging es erneut los: „Wir brauchen neue Gesetze, wir brauchen strengere Regeln und der Datenschutz hindert uns daran!“
Stefan Brink: Wenn Sie „wir“ sagen, meinen Sie Burkhard Hirsch in erster Linie …
Gerhart Baum: … und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und eine ganze Reihe von Freunden in der FDP. Ein Teil ist leider 1982 gegangen, und das hat mich geschmerzt. Ich bin mit Hirsch und Frau Hamm-Brücher und anderen geblieben; nach einer Demütigung, dass [Friedrich] Zimmermann, der CSU-Mann, mein erbittertster Gegner, dann mein Nachfolger wurde. Das empfand ich als Demütigung. Und damit ist auch übrigens das Umwelt-Thema aus den vordersten Reihen der FDP-Politik verschwunden. Wir waren Umweltminister. Man wollte das nicht mehr.
Freiheit in der Corona-Krise
Stefan Brink: Wir machen einen großen Sprung in die aktuelle Zeit und werfen einen Blick auf die Corona-Krise. Wir haben jetzt September 2021. Nach Auffassung des RKI stehen wir am Beginn der vierten Welle, was Corona angeht, und erfahren alle die letzten anderthalb Jahre viele Einschränkungen, was unsere Freiheit angeht. Maskentragen ist vielleicht noch ein kleinerer Punkt, aber natürlich was den Austausch angeht, was die Mobilität angeht, bis hin zu Kulturfragen gibt es massive Einschränkungen und nicht wenige, die dafür ein böses Wort finden, nämlich „Corona-Diktatur“. Was würden Sie sagen: Wie zufrieden sind Sie mit der Reaktion unseres Staates auf diese, sie nennen es: „Jahrhundertkrise“?
Gerhart Baum: Im Kern gab es nichts anderes zu tun. Man musste dieses gefährliche Phänomen, eine weltweite Seuche, in den Griff kriegen. Und da sind Fehler gemacht worden. Da gab es Übertreibungen. Aber im Kern sind wir im Rahmen unseres Grundgesetzes geblieben. Es gibt, glaube ich, 130 oder mehr Beschwerden in Karlsruhe. Nur zwei sind, im Eilverfahren, akzeptiert worden. Das bezog sich auf das Versammlungsrecht. Halte ich für richtig. Und auf noch eine andere Situation: Religionsfreiheit. […]
Stefan Brink: Sie sagen, der Staat hat im Großen und Ganzen seine freiheitliche Ordnung bewahrt. Es gibt, Sie haben es schon angesprochen, aus meiner Sicht drei Institutionen, die unter Druck gekommen sind in besonderer Weise. Das Bundesverfassungsgericht hat, sagen viele, relativ zurückhaltend agiert, jedenfalls nicht nach vorne gedrängt, was die Maßnahmen angeht. Der Föderalismus ist unter Druck gekommen, ganz offensichtlich, dass man meint, von Bundesebene aus vieles besser regulieren zu können. Und die Parlamente sind unter Druck gekommen in ihrer Funktion, auch in ihrem Selbstverständnis. Auch und gerade als Landesbeauftragter sehe ich, dass sich natürlich auch die Landesparlamente, die sich sehr schnell in einen gewissen Krisenmodus begeben haben, aus vielen Entscheidungen herausgehalten haben, wo sie doch eigentlich gerade in der Pandemie auch Bürgerrechte hätten vertreten können – auch gegenüber der Regierung. Womit hängt das zusammen? Warum ist da diese Zurückhaltung in den Parlamenten, stärker gegenüber der Regierung aufzutrumpfen?
Gerhart Baum: Also ich finde das besorgniserregend, diese Zurückhaltung der Landesparlamente. Das heißt, sie haben sich an den Rand des Geschehens als Zuschauer begeben. Das heißt, sie sind diesen Krisensitzungen im Bund gefolgt, die präsidiert wurden von der Bundeskanzlerin, die auf diesem Feld so gut wie keine Zuständigkeiten hatte. Sie konnte den Rahmen bestimmen im Infektionsschutzgesetz, das langsam verbessert, langsam konkretisiert wurde […]
Zuständig waren, was viele Leute nicht verstanden haben, die Länder. Und das ist ja auch notwendig! Sie haben die Möglichkeit, das umzusetzen. Der Bund hatte überhaupt keine Möglichkeiten, das zu exekutieren. Bis heute nicht. Und darin entstand eben das Bild: Die Politiker wissen nicht, was sie wollen. Das ist ein mangelndes Verständnis des Föderalismus, der auch hier zu einer besseren Kommunikation und Kooperation hätte führen müssen. Aber es ist eben auch das mangelnde Verständnis dafür, dass in einer solchen Situation Patentlösungen sehr schwierig sind. Dass immer revidiert werden muss. Alle haben in der Einschätzung Fehler gemacht. Hier fehlt auch die Selbstkritik. Hätten wir nicht im Herbst 2020 plötzlich nachgelassen, wären wir noch besser durch die Pandemie gekommen. Und jetzt fahren wir auf Sicht. Immer fahren wir auf Sicht.
Gibt es ein Grundrecht auf Sicherheit?
Stefan Brink: Die Corona-Pandemie, die Corona-Krise, lässt sich ja im Prinzip auch einordnen in das Hauptthema unseres heutigen Gesprächs: das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Es geht natürlich bei der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung immer auch um angstbesetzte Themen, um die Frage: Wie gehe ich mit Risiken um, auch als Bürger? Wie akzeptiere ich die? Und es gibt einen sehr, sehr starken Drang nach immer mehr Sicherheit. Bis hin – Sie haben es vorhin schon erwähnt – zu Äußerungen von Innenministern, Ihren Nachfolger*innen im Amt, die auf einmal von einem Grundrecht der Sicherheit oder auf Sicherheit gesprochen haben und damit ein ganz neues Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit etablieren wollten. Ich wage es kaum, Sie zu fragen, für wie überzeugend Sie es halten, von einem Grundrecht oder vielleicht sogar Super-Grundrecht auf Sicherheit zu sprechen?
Gerhart Baum: Nein. Gibt es nicht. Der einzige Bezugspunkt, der für mich zählt, ist die Freiheit. Wenn wir die Freiheit einschränken, müssen wir sie ernst nehmen und müssen uns fragen: Ist das wirklich notwendig? Ist das effizient? Und welche anderen Grundrechte verletzen wir? Das müssen wir uns ganz genau bewusst machen.
Es gibt immer nur den Bezugspunkt der Freiheit […], immer den Ausgangspunkt: Was geschieht mit der Freiheit? Wie geht man mit der Freiheit um? Oder Menschenwürde, dem bestimmten sittlichen Prinzip unseres Grundgesetzes? Und da gibt es eben Wankelmütige. Da gibt es Leute, die andere Rechte dagegen ausspielen. Also, zum Beispiel, wenn ich Einschränkungen der Freiheit ins Auge fasse, wie alle in Sachen der Klimabekämpfung, muss ich auch diese Frage stellen: Was geschieht mit der Freiheit?
Stefan Brink: Wir sehen als Datenschützer in dieser Sicherheitsdebatte, dass es ein gewisses Paradoxon gibt in der Wahrnehmung, auch in der persönlichen Wahrnehmung von Sicherheit. Wir sehen bei den objektiven Zahlen, wenn wir uns die Kriminalitätsstatistiken anschauen, dass wir in eigentlich immer sichereren Zeiten leben. Trotzdem scheint das Bedürfnis nach noch mehr Sicherheit, dann möglicherweise eben auch schon wieder digital unterstützte Sicherheit, sozusagen unersättlich zu sein …
Gerhart Baum: Ja! Also zunächst gibt es natürlich ein allgemeines Sicherheitsbewusstsein und einen Wunsch, sicher zu sein. Und zwar auch im sozialen Bereich. Im Bereich der Bedrohung, möglicherweise durch Kriege, durch Terrorismus. Es gibt ein meines Erachtens gewachsenes Sicherheitsgefühl. „Wie sichert uns der Staat gegen die Pandemie?“ Wir sichern uns selbst, aber dieses Sicherheitsgefühl kann zu einer Droge werden. Dass man sich zu stark auf den Staat verlässt und sich nicht fragt: Ist das wirklich notwendig, und was können wir selbst dazu tun? Die Selbstverantwortung. Wir übergeben ja, wir ermächtigen den Staat. Aber wir bleiben diejenigen, die den Staat ermächtigen. Wir tragen den Staat. Er ist nicht von uns entfernt. Von uns, den freien Individuen.
„Wir werden frei geboren“, sagt Hannah Arendt, „um frei zu leben“. In vielen Staaten der Welt, wo die Freiheit unterdrückt wird, werden Sie frei geboren und sobald Sie für die Freiheit kämpfen, verlieren Sie die! Kommen ins Gefängnis!
Die Frage der Sicherheit ist eine sehr stark subjektiv bestimmte. Da spielt die Angst eine große Rolle. Ich habe mal den Erich-Fromm-Preis bekommen, der darüber redet, wie wir mit Risiko umgehen in unserem Leben. Sind wir wirklich risikobereit? Risiko ist ein tragendes Element der Freiheit. Der von mir hochgeschätzte Soziologe Zygmunt Bauman hielt das wirklich für die größte Gefahr der freien Gesellschaft. Es gibt berechtigte Ängste, Abstiegsängste zum Beispiel, Ängste vor unheilbaren Krankheiten, alle möglichen Ängste. Aber wir müssen den Mut behalten.
Wenn die Angst anfängt, unser Leben zu bestimmen, dann leidet die Freiheit. Und bei dem Gefühl: „Wie sicher leben wir eigentlich?“, ist es ganz erstaunlich, dass die Kriminalstatistiken immer besser werden und dass die Angst immer größer wird. Das ist ein merkwürdiges Phänomen. Und das Schlimme ist, dass viele Politiker nicht dagegen ankämpfen, sondern es benutzen. Sie instrumentalisieren, immer sagen sie: „Jawohl, es besteht Terrorismus! Ganz schlimm!“ Oder die Angst vor Einwanderern. Aber: „Wir sind die Retter! Wir helfen Euch!“ Die Angst wird hochgespielt und dann kommt der Retter, der mit Scheinlösungen, Symbolhandlungen, neuen Gesetzen, Strafverschärfungen glaubt, das Problem zu lösen, und dem Publikum sagt: „So, ihr müsst mich nur wählen, dann wird alles besser!“
Stefan Brink: Umso besser, dass wir in diesem Szenario eine Institution wie das Bundesverfassungsgericht haben, das auf Beschwerde hin eben sozusagen überbordende Sicherheitsgesetze immer wieder einfangen kann, zurückschneiden kann. Ein bisschen verbunden mit der Problematik, dass in Karlsruhe natürlich in gewisser Weise auch die Sicherheitsgesetze so zugeschnitten werden, dass sie gerade noch verfassungsgemäß sind, und da kein großer Schlag, kein Befreiungsschlag, aus Karlsruhe zu erwarten ist, sondern immer nur ein „Zurechtstutzen“ der Sicherheitsgesetze.
Gerhart Baum: Ja. Das ist eine ganz falsche Sicht der Dinge, die viele Menschen haben. Es bleiben die Politiker verantwortlich. Sie werden zurechtgestutzt, wie sie sagen, aber ihr Spielraum ist sehr viel größer als der, den das Gericht als Mindestmaß aufzeigt. Das heißt, sie müssen eigentlich selbstverantwortlich entscheiden und nicht nur im engsten Rahmen der Verfassung.
Stefan Brink: Politiker müssen auch mutig sein, sozusagen!
Gerhart Baum: Politiker müssen mutig sein und müssen zu Entscheidungen stehen.
Bewusstsein über Grundrechte
Stefan Brink: Wir haben die Rolle des Bundesverfassungsgerichts angesprochen, eine segensreiche Rolle in sehr vielen Bereichen, aber auch eine kreative Rolle in gewisser Weise. 1983 war es das Bundesverfassungsgericht, das anlässlich der Volkszählung die Idee der informationellen Selbstbestimmung, und zwar mit Grundrechtscharakter, entwickelt hat. Einige Jahre später, 2008 müsste es gewesen sein, das IT- Grundrecht, auch nach einer Verfassungsbeschwerde aus Ihrer Feder mit weitreichenden Folgen. Wir arbeiten übrigens als Datenschützer sehr wohl mit diesem IT-Grundrecht. Wir haben nicht nur im Bereich des automatisierten Fahrens zum Beispiel oder im Bereich der Corona-Warn-App immer wieder Anwendungsfälle von diesem …
Gerhart Baum: … dem ganzen „smarten“ Bereich!
Stefan Brink: Ja! Anwendungsfälle von diesem Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Sicherheit informationstechnischer Systeme. Jüngst hatten wir einen besonderen, fast einen schönen, Fall. Studenten haben sich darüber beschwert, dass sie in den Zeiten, wo sie Prüfungen an der Universität nicht mehr vor Ort ablegen konnten, sondern zu Hause am Rechner, in ihrer eigenen Studentenbude, zu stark überwacht werden. Da gibt es das sogenannte „Proctoring“, also der Versuch, die im eigenen heimischen Kreis geschriebenen Prüfungen genauso zu überwachen wie die Präsenzprüfungen. Das heißt, am Laptop, an dem geschrieben wird, ist die Kamera an, das Mikrofon ist an und man notiert, protokolliert jeden Tastenschlag mit, um zu sehen, ob da gepfuscht wird, ob da irgendwas reinkopiert wird, ob Kontakt mit anderen aufgenommen wird. Ein Standard-Anwendungsfall fürs IT-Grundrecht. Der Student ist nicht nur bei sich zu Hause …
Gerhart Baum: Was haben Sie gemacht?
Stefan Brink: Wir haben eine Handreichung rausgegeben, um den Hochschulen ganz klar zu machen, wo die Grenzen sind. Ganz klar zum Beispiel gesagt haben: „Ein dauerhaftes Einschalten der Videokamera ist nicht drin!“ Auch die Überprüfung zum Beispiel des Raumes, in dem sich der Student befindet, dass er erstmal einen Kameraschwenk machen muss, um zu beweisen, dass er allein ist, ist auch unzulässig …
Gerhart Baum: … in der Wohnung?
Stefan Brink: Ja, in der Wohnung! Und auch das Mitprotokollieren, also dass man sich sozusagen jeden Tastenschlag anschaut, das sind deutlich zu weit gehende Aspekte. Wir haben eine Handreichung rausgegeben für die Universitäten. Wir werden das jetzt kontrollieren müssen, wie weit sie sich daran halten. […] Also Karlsruhe hat eine ganze Reihe an Impulsen gesetzt und einen ganz entscheidenden in Richtung Datenschutz.
Sie haben es vorhin schon erwähnt: Seit 1970 haben wir die Idee des gesetzlich geregelten Datenschutzes in Deutschland, entwickelt in Hessen. Eines der ersten Datenschutzgesetze weltweit. Ist der Datenschutz in der Ausprägung, wie wir ihn heute kennen und wie er sich heute im Prinzip europaweit auch durchgesetzt hat, ist das eine deutsche Idee? Was ist deutsch an dem Datenschutz? Oder kann man das gar nicht so sagen?
Gerhart Baum: Das weiß ich nicht. Wir sehen es natürlich durch die deutsche Brille, unsere Situation. Wir sehen es durch die Brille des Verfassungsgerichts, eine wunderbare Einrichtung, jetzt gerade im Jubiläum. Das Grundgesetz ist zum Sprechen gebracht worden durch das Gericht. Der Datenschutz hat hier eine starke Vertretung in unserem Land, auch im Vergleich, glaube ich, zu anderen europäischen Staaten. Das Bewusstsein ist sehr stark.
Stefan Brink: Vielleicht auch gerade durch die deutsche Geschichte?
Gerhart Baum: Ja, durch die deutsche Geschichte, durch zwei Unrechts-Regime. Das Stasi-Regime darf man da nie vergessen, die Nazis sowieso nicht. Unsere Verfassung ist eben auch Abwehr, eine Reaktion auf das Verbrecher-Regime der Nazis, geprägt durch einen absoluten Freiheitswillen, Grundrechte mit Ewigkeitscharakter, einklagbar. Also das gibt uns schon einen Vorsprung.
Stefan Brink: Obwohl ich glaube, dass das Bewusstsein für die Problematik, für die Thematik des Datenschutzes in der Bevölkerung sehr hoch ist, hört man trotzdem immer wieder standardmäßig, wenn es um Datenschutz geht, den Einwurf: „Datenschutz ist Täterschutz!“
Gerhart Baum: Ich habe meine Zweifel und bin eigentlich nicht zufrieden mit dem Bewusstsein der Bevölkerung. Ich merke, dass Datenschutz immer wieder zum Buhmann wird: „Wir können das und das nicht machen, was alle als nützlich ansehen, zum Beispiel ein Register über bestimmte medizinische Behandlungen. Da hindert uns der Datenschutz!“ Und das nehmen die Leute sofort ab. Man muss immer dagegen kämpfen, dass der Datenschutz wirklich nützliche Entwicklungen auf allen Feldern der Wissenschaft oder wo auch immer, der Politik, verhindert.
Das zweite, was mich stört, ist, dass die Leute die Gefährdungen nicht sehen. Sie nehmen das nicht wahr. Und ich habe mich x-mal gefragt: „Warum?“ 1983 gab es eine „Ortsgruppe Datenschutz“ hier in Köln in der Südstadt, wo ich lebe. Die haben sich organisiert. Die Eingriffe der damaligen Volkszählung, das war ja harmlos! Bis zum Geht-nicht-mehr harmlos! Und heute: Die Gefahren sind unglaublich groß für die Privatheit. Und ein Empfinden für die Gefahren ist nicht da.
Eine Erklärung könnte sein, dass die Vorteile des Internets eben so toll sind, dass die Leute darüber alles andere vergessen. Und das tut auch die Politik leider.
Datenschutz gehört zur Digitalisierung dazu
Stefan Brink: Damit sind wir eigentlich schon mittendrin im Thema „Datenschutz und Digitalisierung“. Welche Rolle hat der Datenschutz? Sie haben es angedeutet: Mit Sicherheit bekommen wir neue Aufgaben, auch neuen Druck in das Thema rein durch die um sich greifende Digitalisierung. Sie haben das in Ihrem Buch „Freiheit. Ein Appell“ so ausgedrückt: „Der Datenschutz ist die Antwort auf die Nachtseiten der Digitalisierung“. Und damit widersprechen Sie all denjenigen, die sagen: „Der Datenschutz ist eigentlich in der digitalen Gesellschaft überhaupt nicht mehr nötig. Alles ist sozusagen offen. Alle Daten liegen verarbeitungsbereit vor“, und sagen stattdessen: „Nein, im Gegenteil. Der Datenschutz gehört zur Digitalisierung dazu.“
Gerhart Baum: Ich bin hochsensibilisiert. Ich habe in meinem Buch viel zu viel darüber geschrieben. Meine ganzen Befürchtungen haben sich da ausgebreitet. Und ich bin seit langem sensibilisiert. Einer, mit dem ich darüber ganz früh gesprochen habe, war Frank Schirrmacher von der FAZ, der das in seinem Feuilleton zum Thema gemacht hat. Andere und ich haben auch darüber geschrieben. Er hat ganz früh publiziert, er hat ganz früh die Sorge gehabt, dass die Menschen das nicht begreifen. […] Ich habe mich mal gefragt: „Wie würde Marx sein Kapital heute schreiben? Was ist das heutige Kapital?“
Stefan Brink: Wenn man die Börse fragt, ist das eindeutig: Das sind genau die großen Datenverarbeiter, die großen privaten Internetkonzerne, die offensichtlich den größten wirtschaftlichen Wert darstellen.
Gerhart Baum: Ja, ja! Das ist das Kapital. Und das ist Kapital, das wir liefern. Wir liefern und wir nutzen es auch. Und was mich also umtreibt, sind die Wirkungen auf unsere Menschenwürde. Um es ganz deutlich zu sagen: Datenschutz ist Menschenwürde-Schutz. Und die Wirkung auf die Gesellschaft: Was ändert sich in den Gesellschaften? Was kann da manipuliert werden? Was wird da schon manipuliert? Welche Strukturen verändern sich?
[Wolfgang] Hoffmann-Riem hat dazu mal eine sehr gute Ausarbeitung geliefert. Das geht sehr viel weiter als wir uns das je vorgestellt haben, also die Strukturveränderung. Mal ganz abgesehen von solchen Phänomenen wie Hackerangriffe, das nehmen die Leute noch wahr. Oder Cyberwar, das wird auch noch wahrgenommen. Aber ein weltweites Bewusstsein dafür, dass wir diese Entwicklung einhegen müssen nach ethischen Gesichtspunkten, ist nicht vorhanden, obwohl – das weiß auch kaum einer – sich die Vereinten Nationen immer wieder mit dem Thema befassen. Es gibt im Menschenrechtsrat, wo ich mal Deutschland sechs Jahre vertreten habe, einen Berichterstatter zu Datenschutz. Es gibt Berichte. Aber es müsste sich natürlich auch im Völkerrecht niederschlagen und im allgemeinen Bewusstsein. […]
Stefan Brink: Ein Zitat, das ich in Ihrem Buch über die Freiheit gefunden habe, ist von Friedrich Schiller: „Kunst ist die Tochter der Freiheit.“
Gerhart Baum: Ja. Das ist uns ja in der Pandemie etwas bewusster geworden, welche Rolle die Kunst, die Freiheit der Kunst, nach dem Grundgesetz „Die Kunst ist frei“, in unserer Gesellschaft spielt. Wir haben sie vermisst. Wir haben wahrgenommen, wie wichtig sie ist, und ich hoffe, dass eine Folge der Pandemie ist, dass dieses Bewusstsein bleibt. Die Demokratie braucht die Freiheit der Kunst, und die Kunst braucht die Demokratie. Das ist eine Wechselwirkung. Diktaturen schränken sofort die Meinungsfreiheit ein, die Kunstfreiheit ein: entartete Kunst bei den Nazis, Bücher wurden verbrannt, Zensur in der DDR und in anderen autoritären Staaten. Die Diktatoren, die Autoritären, fürchten die Freiheit der Kunst.
Und sie hat ein wunderbares Element: Sie ist weltoffen. Sie zieht uns raus aus der Enge des nationalstaatlichen Denkens. Weltoffen. Grenzüberschreitend. Und sie stört oft. Sie verstört. Sie scheitert oft. Und dennoch ist sie wichtig. Sie ist für die geistige Überlebensfähigkeit unserer Gesellschaft unverzichtbar. Wenn wir Menschen ertüchtigen wollen, befähigen wollen, ihnen helfen wollen, selbständig zu denken, spielt die Kunst eine große Rolle. Darauf spielen Sie an, dass man Ihnen die Möglichkeit gibt, Ihre Kreativität zu entdecken. In Bereiche zu gehen, die Ihnen fremd sind, die auch nicht ökonomisch messbar sind. Kunst kann helfen, dazu beizutragen, dass die Menschen sich orientieren.
Viel ist verloren gegangen an Orientierung. Die Welt ist aus den Fugen: Globalisierung, Digitalisierung, Flüchtlingsprobleme, Finanzkrisen. Alles ist für viele Menschen beängstigend. Es hat sich sogar ein Gefühl ausgebreitet gegen den Fortschritt. Der Fortschritt wird als Gefahr angesehen. Der richtig in die Wege geleitete Fortschritt ist unverzichtbar. Aber um aus dieser Situation herauszukommen, hilft die Freiheit der Kunst. Und deshalb haben wir uns, auch ich als Vorsitzender des Landeskulturrats habe ich mich in den letzten zwei Jahren intensiv gekümmert um die Überlebensfähigkeit der Kunst: die Kunst überlebensfähig zu machen. Insbesondere den einzelnen Künstler, der nicht irgendwo angestellt ist. Der ins Leere fällt. Und deshalb brenne ich auch, diese Themen in einem Zusammenhang zu sehen. Und die Klammer ist, wie Sie immer mit Recht sagen, die Freiheit.
Stefan Brink: Lieber Herr Baum, ganz herzlichen Dank für das wunderbare Gespräch zur Freiheit. Dankeschön!
Gerhart Baums Buch Freiheit – Ein Appell ist im März 2021 beim Verlag Benevento erschienen, 176 Seiten, ISBN 13 9783710901249.
Das Interview ist gekürzt. Eine vollständige Version als Transkript gibt es hier zu lesen (pdf).
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