Überwachungsausbau in FrankreichVon Krieg und Schutzengeln

In der Corona-Krise baut Frankreich Überwachungsmaßnahmen aus. Es wird mit Gesichtsmaskenerkennung und Drohneneinsätzen experimentiert. Der Gesundheitsnotstand öffnet die Türen für technologische Maßnahmen.

Gemalte Szene aus Paris mit Überwachungskameras
Überwachungskameras überall (Symbolbild) CC-BY 2.0 Mike Licht

Luc Schmidt ist Medienaktivist und Landwirt in der Nähe des in Lothringen geplanten Atommüllendlagers CIGEO bei Bure. Seit vielen Jahren setzt er sich mit Umwelt-, Ernährungs- und sicherheitspolitischen Kämpfen auseinander und veröffentlicht unregelmäßig Beiträge auf unabhängigen Medienplattformen.

Zurzeit rüstet sich die französische Innenpolitik mit einer Vielzahl neuer Mittel aus. Mehr intelligente Videoüberwachung und neue Aufrüstung für die Polizei sind die wesentlichen Innovationen der letzten Wochen. Die „Grande Nation“ gehört zu den Staaten, die in der Krise Überwachungsmöglichkeiten ausbauen und sämtliche Maßnahmen mit der Covid-19-Bekämpfung begründen. Reformen erfolgten wiederholt per Dekret und im Schatten der Pandemie, ohne dass Protest dagegen möglich ist.

Viel Bewegung bei Polizei und Justiz

Macron ließ zu Beginn der Ausgangssperren keinen Zweifel am Ernst der Lage aufkommen. Er erklärte gleich sechsfach, wir befänden uns im „Krieg“. Die Nation müsse „sämtliche Mittel“ mobilisieren, um der Lage Herr zu werden und entsprechende Veränderungen stünden an.

Infolge der Notstandsverkündung am 16. März wurde sehr schnell von Drohnenflügen mit Durchsagen berichtet, die die Bevölkerung aufforderten, nach Hause zu gehen. Alle Bürger*innen bekamen von der Regierung eine „Warn-SMS“ zur Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen. In den folgenden zehn Tagen gab es rund 1,8 Millionen Corona-bezogene Polizeikontrollen, mittgeteilt wurden dabei gut 90.000 überwiegend geringfügige Verstöße.

Das Innenministerium verkündete im April Erwerb von über 600 neuen Überwachungs-Drohnen für insgesamt vier Millionen Euro – auch wenn diese mit Beschluss vom 18. Mai zumindest in Paris nicht filmen dürfen.

In der Praxis wird völlig unabhängig davon von Verfahren wegen Corona-Verstößen berichtet, die ausschließlich über Videodokumentation auf den Weg gebracht werden. Der medizinische Notstand öffnet weitere Türen und befördert „neue Technologien“.

An der Riviera sonnt sich die Welt

Smart“ und „Safe Cities“ sind in Frankreich, seit den Jahren der Angst vor terroristischen Anschlägen, „en vogue“. Bei Spitzenreiter Nizza verschlingt das dreijährige „Safe City“-Programm NGOs zufolge 25 Millionen Euro bis 2021. Ziel ist die Vernetzung möglichst aller Geräte im Stadtgebiet – das Wachstum und die Dichte der Überwachung Nizzas suchen ihres gleichen. Erst kürzlich eröffnete das „Haus der Künstlichen Intelligenz“ in Sophia Antipolis an der französischen Riviera – „c‘est un booming buisness“.

Die Entwicklungen sind auch auf Forschungsebene spektakulär: Neben dem Aufbau von neuen KI-Zentren, neben Paris besonders im Süden (Nizza, Grenoble und Toulouse), sollen frankreichweit 40 Lehrstühle geschaffen werden. Ein Teil der Arbeit wird auch in die Erforschung neuer Sicherheitstechnologien fließen. Auch die Bundesrepublik ist bei der Entwicklung nicht unbeteiligt und strebt an, den KI-Bereich in Kooperation mit Frankreich auszubauen, auch um den Anschluss nicht zu verlieren. Im Rahmen des Aachener Abkommens vor über einem Jahr wurde eine bilaterale Roadmap für ein KI-Innovationsnetzwerk der beiden Staaten vereinbart.

Doch nicht nur die Kooperation zwischen den Staaten nimmt zu, auch der Privatsektor spielt eine immer stärkere Rolle. Das Marktwachstum befördert neben dem für Rüstungsinnovationen berüchtigten National-Matador „Thales“ die Beteiligung von Unternehmen aus der ganzen Welt. Etwa mit „Anyvision“ in Nizza, „IBM“ in Toulouse oder „Huawei“ im nordfranzösischen Valenciennes kommen neue Player in den Genuss der französischen Experimentierfreude. In St. Etienne ist jüngst sogar ein Freiluftlabor für keineswegs freiwillige akustische Überwachung mittels „fest- und nicht-fest-installierten“ Mikrofonen entstanden. Doch die Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur kämpft wacker um einen Führungsanspruch in der Branche.

Bedrohlicher Ausbau macht Schule

Auch die jüngsten sollen offenbar von der Entwicklung profitieren. Bereits 2019 hätten die Gymnasien „Les Eucalyptus“ (in Nizza) und „Ampère“ (in Marseille) zum Testfeld von Gesichtserkennungstechnik zwecks Gefahrenabwehr werden sollen. Das Projekt scheiterte jedoch im Winter an Bedenken der französischen Datenschutzbehörde CNIL.

Doch der Bürgermeister von Nizza Estrosi hat weiterhin große Pläne und Ideen, um die Bedenken zu lindern: Er möchte zeitnah einen Gesetzentwurf zur Reform der bestehenden Datenschutzgesetze von 1978 und 1995 vorlegen und Voraussetzungen schaffen, die für das ganze Land gelten sollen. Seit dem Attentat von 2016, (Nizza war damals schon mit 2.000 Kameras ausgestattet), wird in unbekanntem Ausmaß überwacht und für die Akzeptanz gebuhlt. 2019 wurden 5.000 Gesichter während der Karnevalsfeiern gescannt. 1.000 Freiwillige beteiligten sich am „großen Test“ zur Nutzung KI-gestützter Videoüberwachung während des Großevents. Mittlerweile wird fast das gesamte Überwachungsarsenal der Stadt KI-gestützt.

Von der Provinz nach Paris

Während der Fall Nizza bereits internationale Beachtung erfährt, gibt es auch weniger berühmte Projekte zum Ausbau von KI, etwa in der Pariser Metro. Ein im April 2020 im südfranzösischen Cannes getestetes Überwachungssystem hält aktuell Einzug in der Hauptstadt. Unter dem Vorwand, das Maskentragen zu überprüfen, soll vor allem der ÖPNV-Knotenpunkt Châtelet-Les Halles zum Experimentierfeld KI-gestützter Videoüberwachung werden.

Schon jetzt verfügen die Verkehrsbetriebe der RATP über 51.000 Kameras, von denen rund 15.000 fest an Bahnhöfen und in deren Umfeld installiert sind. Bis zu 320.000 Menschen nutzen Châtelet-Les Halles im Normalbetrieb täglich. Schon 2017 waren rund 458 Kameras installiert.

Seit 2016, dem Jahr der Herren-Fußball-EM, wurde ein kleiner Teil der Pariser Metro mit KI-Experimenten ausgerüstet. Diese sollen „anormale Situationen“ erkennen. Etwa schlägt das auch in Châtelet-Les Halles installierte System seit Jahren Alarm, wenn Menschen über 300 Sekunden reglos bleiben oder sich besonders schnell fortbewegen.

Immer mit der Gunst der Stunde

Die aktuelle Situation könnte die Gelegenheit bieten, mit dem „Versuchs“-Argument technische Voraussetzungen zu schaffen, die albtraumhaft sind. Schon seit letztem Jahr ist die Verwendung der umstrittenen, vom Staat entwickelten Anwendung „Alicem“ beschlossen und soll eine angeblich sichere biometrische Identifizierung bei Behörden ermöglichen. Sie gehört zu den Werkzeugen, die im Zuge der Covid-19-Krise neue Möglichkeiten eröffnen könnten.

Sicherheitspolitische Reformen der letzten Jahre waren in Frankreich selten nur vorübergehender Art. Zahllose Aspekte der „zeitweise“ eingeführten Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen nach den terroristischen Angriffen von 2014 und 2015 wurden schrittweise in die normale Gesetzgebung überführt. Dass Parlament bei unliebsamen Reformen zu umgehen und den Notstandsparagrafen zu bemühen, haben sich seit der Präsidentschaft des Sozialdemokraten Hollande normalisiert.

Gute Miene, böses Spiel

Es scheint angesichts der Heftigkeit, mit welcher die Pandemie Frankreich getroffen hat, schwer zu vermitteln, dass mehr Investitionen in neue Sicherheitstechnologien und Polizei priorisiert werden, während das Gesundheitssystem am Boden liegt.

Zuletzt wurde Gesetzesnovellen und Techniken der inneren Sicherheit immer wieder mit „Schutzengeln“ in Verbindung gebracht. Ein Spitzname, den Gesundheitsminister Veran und Innenminister Philippe auch den neuen Brigaden geben wollen, welche in den Landkreisen das Contact Tracing umsetzen werden. Diese neue Rhetorik, sei es die betonte Verniedlichung oder die Häufung von Anglizismen, überzeugt nicht alle.

Der gegen die Verwendung der Drohnen durch die Menschenrechtsliga LDH und die Gruppe „La Quadrature du Net“ initiierte Rechtsstreit steht als Beispiel für erfolgreichen Widerstand in dieser Krise. Doch solche Teilerfolge vermögen es kaum, einen Trend zu stoppen, der in Frankreich von Krise zu Krise mehr Kontrollmittel implementiert.

Manche sehen in der Stärkung der Exekutiven Frankreichs eine bedrohliche (Fortführung der) Militarisierung der Innenpolitik und eine sukzessive Entgleitung in einen Überwachungsstaat. Trotz schrittweiser Lockerungen im Alltagsleben lassen Innen- und Justizministerien nicht locker, was den Ausbau ihrer Befugnisse betrifft.

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