Die gemeinnützige britische Organisation The Citizens hat ein unabhängiges Facebook-Aufsichtsgremium gegründet. „The Real Facebook Oversight Board“ soll aktuell vor allem Desinformation, Unterdrückung der Stimmen von Minderheiten und Gewalt im Vorfeld der US-Wahlen vorbeugen, kündigte The Citizens am Freitag auf seiner Website an. Das Gremium setzt sich aus Journalist:innen, Professor:innen und Bürgerrechtsexpert:innen zusammen, die sich in ihrer Arbeit mit Meinungsfreiheit und Diversität im Internet beschäftigen.
Das „Real Facebook Oversight Board“ versteht sich als Alternative zu einem von Facebook selbst aufgestellten Aufsichtsgremium. Konzernchef Mark Zuckerberg hatte bereits im November 2018 eine unabhängige Kommission angekündigt, die Inhalte auf Facebook prüfen und freie Meinungsäußerung sicherstellen soll. Die ersten 20 Mitglieder gab das Unternehmen im Mai 2020 bekannt, viele von ihnen sind Juraprofessor:innen und Jurist:innen.
Die Entscheidungen dieses Facebook-eigenen Verfassungsgerichts sollen transparent und verbindlich sein und grundsätzliche Fragen klären, über die Moderator:innen sonst binnen Minuten entscheiden müssen. Die von Facebook nominierten Jurist:innen urteilen allerdings auf Basis der unternehmenseigenen Gemeinschaftsstandards. Bei deren Umsetzung verstrickt sich das Unternehmen immer wieder in Widersprüche.
Aufsichtsgremium mit echter Unabhängigkeit
Auch behält sich der Konzern vor, die Entscheidungen des Aufsichtsgremiums nur umzusetzen, wenn sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Hier könnte sich Facebook wiederum Spielraum in der Auslegung internationaler Gesetzgebung verschaffen.
Zwar soll Facebooks Gremium noch kurz vor den US-Wahlen, im Oktober, seine Arbeit aufnehmen. The Citizens dauern dessen Verfahren jedoch zu lange. Für eine Entscheidung haben die Jurist:innen bis zu 90 Tage Zeit. „Das kratzt nicht einmal an der Oberfläche der vielen drängenden Risiken, die die Plattform für die bevorstehenden Wahlen darstellt“, schreibt The Citizens.
Während man bei der Präsidentschaftswahl 2016 noch nicht gewusst habe, wie Wahlbeeinflussung auf Facebook funktioniert, gebe es jetzt keine Entschuldigung mehr. Die Organisation bezweifelt zudem die Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit der von Facebook nominierten Jurist:innen. Sie hätten keine echte Befugnis darüber zu entscheiden, ob Inhalte, die einmal von der Plattform genommen wurden, wieder hochgeladen werden können.
Das „Real Facebook Oversight Board“ wird nach Informationen von NBC News aus 25 Expert:innen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Journalismus bestehen. Unter ihnen sind demnach
- Shoshana Zuboff, Autorin des Sachbuchs „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“
- Maria Ressa, Mitgründerin der unabhängigen philippinischen Nachrichtenseite „Rappler“
- Rashad Robinson, Präsident der gemeinnützigen Organisation „Color of Change“
- Derrick Johnson, Präsident der „National Association for the Advancement of Coloured People“
- Reed Galen, Mitgründer der konservativen Anti-Trump-Lobbygruppe „The Lincoln Project“
- Ruha Benjamin, außerordentliche Professorin für Afroamerikanistik an der Princeton Universität
- Marietje Schaake, niederländische Politikerin, International Policy Director am Cyber Policy Center der Stanford Universität
- Toomas Hendrik Ilves, ehemaliger Präsident von Estland
- Safiya Noble, außerordentliche Professorin für Informationswissenschaft und Afroamerikanistik an der University of California, Los Angeles, Autorin von „Algorithms of Oppression“
- Damian Collins, Mitglied im britischen Parlament (Konservative Partei)
- Roger McNamee, Tech Investor, Facebook-Kritiker
- Yael Eisenstat, ehemalige CIA-Mitarbeiterin, ehemalige Facebook-Mitarbeiterin für Wahlintegrität bei politischer Werbung
Lob und Kritik an neuem Gremium
Das Gremium will in öffentlichen Zoom-Meetings wöchentlich über eine breite Palette an Problemen auf Facebook beraten. Dazu zählen politische Werbung, Netzwerke von Bot-Aktivitäten, die Organisation von gewaltbereiten Milizen über Veranstaltungsseiten, die Verbreitung von QAnon-Verschwörungstheorien durch Gruppen und die Verbreitung von Desinformation durch Algorithmen.
Die Entscheidungen des „Real Facebook Oversight Board“ werden jedoch nicht bindend sein für den Konzern. Wie das Gremium entsprechenden Druck auf Facebook ausüben will, schreibt es in seiner Ankündigung nicht.
David Kaye, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter zum Schutz der freien Meinungsäußerung, sprach sich auf Twitter für das neu gegründete Aufsichtsgremium aus. Er sehe den Wert unabhängiger Aufsichtsgremien vor allem darin, öffentliche Instrumente zu schaffen, um Konzerne in ihrem Handeln zu kritisieren und zu bewerten.
Die Aktivistin Jillian York von der Electronic Frontier Foundation kritisierte hingegen die Zusammensetzung des Gremiums. Aktivist:innen von mehr als 100 Organisationen weltweit arbeiteten seit Jahren täglich daran, Facebook zur Rechenschaft zu ziehen. Keine dieser Menschen sei Teil des Gremiums, obwohl sie womöglich mehr Expertise hätten als die nun Ausgewählten.
https://twitter.com/jilliancyork/status/1309544554765352961
Facebook vor US-Wahlen unter Druck
Die Gründung des neuen Aufsichtsgremiums erwischt Facebook in einer kritischen Phase. Der Konzern steht wegen der mutmaßlichen Einmischung Russlands in die letzten US-Wahlen unter Druck, denn jetzt stehen die nächsten Wahlen an und die Bevölkerung ist tief gespalten. Immer wieder wird dem Konzern vorgeworfen, dass er Desinformation, Hassrede und diskriminierenden Inhalten eine Plattform biete.
Anfang September hatte Mark Zuckerberg bereits angekündigt, politische Werbung kurz vor den Wahlen einzuschränken. Ob die vage geschilderten Maßnahmen ausreichen werden, um die US-Wähler:innen vor falscher Beeinflussung zu schützen, bleibt jedoch fraglich.
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