Big Brother Award 2020Die Geschichtsvergessenheit der Innenminister:innen

Es sind die Oscars der Überwachung, die Goldene Himbeere des Datenschutzes. Auch im Corona-Jahr 2020 haben es sich Projekte, Gesetze und Initiativen redlich verdient, beim Big Brother Award ins Rampenlicht zu rücken.

Drei Personen, die statt eines Kopfes je einen Bildschrim mit einem Mund, einem Auge oder einem Ohr tragen.
Der Big Brother Award richtet seinen Blick auf die Akteure, die sich am wenigsten um den Datenschutz verdient gemacht haben. – Vereinfachte Pixabay Lizenz succo

Zur Stunde werden in Bielefeld die diesjährigen Big Brother Awards verliehen. Der Preis zeichnet Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus, die sich im vergangenen Jahr am allerwenigsten um den Datenschutz verdient gemacht haben. Eine Jury aus fünf Bürgerrechtlern und einer Bürgerrechtlerin hat die schlimmsten Datensünder:innen des vergangenen Jahres ausgemacht und ehrt sie am heutigen Abend mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Hier kann man die Verleihung im Livestream verfolgen.

In diesem Jahr darf sich Tesla über eine Auszeichnung in der Kategorie Mobilität „freuen“. Mit dem Kauf würden Kund:innen die Einwilligung geben, den Innenraum und die Umgebung des Autos von Kameras und Sensoren überwachen zu lassen, so die Begründung. Tesla argumentiert, die Daten seien notwendig, um assistiertes oder autonomes Fahren zu ermöglichen. Doch Datenschützer:innen meldeten in dieser Woche ernste Zweifel an, ob eine solche Praxis mit dem Datenschutzrecht vereinbar sei. Die Überwachungsfantasien des Firmengründer Elon Musk gehen aber noch viel weiter. Deswegen meint die Jury: unbedingt preiswürdig!

Eine Ziffer, sie zu knechten, zu finden…

In der Kategorie Geschichtsvergessenheit zeichnet die Jury die Innenministerkonferenz (seit April diesen Jahres eigentlich Innenminister:innenkonferenz, endlich) der Bundesrepublik Deutschland aus. Mit gutem Grund sollte es in Westdeutschland nach 1945 und in Ostdeutschland nach 1989 keine zentralen Personenkennziffern mehr geben.

Doch jüngst wurden die Pläne der Innenminister:innen bekannt, die Steuer-ID zu einer solchen Kennziffer auszubauen. Für die Steuer-ID selbst wurde 2007 schon der damalige Finanzminister Peer Steinbrück mit dem Big Brother Award ausgezeichnet. Die Datenschutzbehörden von Bund und Ländern haben schon verlauten lassen, dass sie den Vorschlag einer Personenkennziffer für verfassungswidrig halten. Bei Gesetzen aus dem Innenministerium weiß man ja aber nie so genau, ob das ausreicht, um ein Gesetzesvorhaben nochmal zu überdenken.

Man möchte herzlich zum Preis gratulieren, doch wenn deutsche Innenminister:innen für ihre Geschichtsvergessenheit ausgezeichnet werden, bleibt einem das irgendwie im Halse stecken.

Der brandenburgische Innenminister Michael Stübgen darf sich sogar noch über eine zweite Auszeichnung freuen. Gemeinsam mit seinem Vorgänger Karl-Heinz Schröter triumphierte er in der Kategorie Behörden und Verwaltung für das dauerhafte Speichern von Autokennzeichen.

Dauerbrenner Microsoft geht leer aus

Wenn ein Negativ-Preis für Datenschutz verliehen wird, ist es eigentlich wenig überraschend, dass die Firma Microsoft irgendwo auftaucht. Bereits 2002 durfte das Unternehmen sich über den Lifetime-Award freuen. Was bei Schauspieler:innen oft als Hinweis gedeutet wird, dass so langsam keiner mehr die Stirn runzeln würde, wenn man sich zur Ruhe setzt, nahm Microsoft als Ansporn und setzte sich 2018 in der Kategorie Technik erneut gegen die knallharte Konkurrenz durch.

Umso enttäuschender, dass in diesem Jahr für die Firma selbst kein Preis vorgesehen ist. Stattdessen geht der Preis in der Kategorie Digitalisierung an Susanne Eisenmann, Bildungsministerin in Baden-Württemberg. Verdient hat sie sich das durch ihre geplante Zusammenarbeit mit, Überraschung, der Firma Microsoft bei der Digitalen Bildungsplattform des Landes.

Visionäre Fragwürdigkeiten

Wenn man schon dabei ist, die Schulen mit datenschutzmäßig fragwürdigen Konzepten zu digitalisieren, kann man doch gleich noch einen Schritt weitergehen. Dachten sich die Firma BrainCo und der Leibniz Wissenschaftscampus Tübingen und qualifizierten sich damit gemeinsam für den Big Brother Award in der Kategorie Bildung.

Mit EEG-Scannern wollen die Wissenschaftler:innen die Gehirnströme von Schüler:innen messen und daraus den Grad der Konzentration ableiten. Lehrer:innen können das dann auf Stirnbändern ablesen, die die Schüler:innen tragen. In den USA und in China werde diese Technologie schon in Klassenzimmern eingesetzt, so die Begründung.

Man könnte meinen, dass hierzulanden die Pädagog:innen mit der korrekten Bedienung des Tageslichtprojektors ausgelastet sind und erstmal nichts zu befürchten ist. Doch warum nicht auch einmal visionäre Fragwürdigkeiten auszeichnen?

Weitere Preise gingen an die Bundesregierung in der Kategorie Politik „wegen ihrer rechtlichen und politischen Mitverantwortung für den völkerrechtswidrigen US-Drohnenkrieg“ und an die Bekleidungsfirma H&M in der Kategorie Arbeitswelt für die „jahrelange, hinterhältige und rechtswidrige Verarbeitung von Beschäftigtendaten im H&M-Kundencenter in Nürnberg“.

1 Ergänzungen

  1. Zu EEG-Überwachung:

    „Man könnte meinen, dass hierzulanden die Pädagog:innen mit der korrekten Bedienung des Tageslichtprojektors ausgelastet sind und erstmal nichts zu befürchten ist. “

    Das könnte man meinen, wenn das System – i.Ggs. zu analogen Unterrichtsmitteln oder digitalen home-learning Lösungen – nicht für nicht einschlägig affine auf Ein-Knopf-Bedienbarkeit herunterskaliert werden könnte.

    Das ganze Logging und die Stochastik dazu passiert – soweit ich das verstehe – komplett ohne Zutun der Lehrkraft im Klassenzimmer, sodass sich die Aktion der LehrerInnen auf einfachste visuelle Augenscheinnahme – „Naaaa? Haben auch alle brav ihren Orwell-Stirmreif auf? Und leuchten die auch alle rot?“ – reduzieren dürfte.

    Und genau bei jener Convenience für liegt mEn die Gefahr unreflektierter Akzeptanz.

    Ich wage deshalb die dystopische Prognose, dass LehrerInnen in D die Kids schon lange dergestalt rundüberwachen werden, bevor auch nur flächendeckend Tablets zur Verfügung gestellt sein werden., oder jene LehrerInnen gar so etwas hyperkomplexes¹ wie die Programmierung eines Quicksort selbst erlernen müßten.

    ¹ Wer die Ironie nicht erkennt, der isset selbst schuld.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.