Neue Gängel-Blitzer in Niedersachsen verfassungswidrig

Niedersachsen testet derzeit die Geschwindkeitsüberwachung mit Kennzeichenscannern, welche die Durchnschnittsgeschwindkeit von Autos messen. Die Datenschutzbeauftragte des Landes hält die Technologie nach den Urteilen aus Karlsruhe für verfassungswidrig – und zieht die Notbremse. Vorerst zumindest.

Auto-Cockpit
Das ist ein Mercedes, kein BMW. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Hannes Egler

Die Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen (LfD) fordert das niedersächsische Innenministerium auf, die Anlage zur abschnittsweisen Geschwindigkeitsüberwachung (Section Control) auf der B 6 sofort stillzulegen. Grund dafür sind die gestern veröffentlichten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Nutzung von Kennzeichenlesegeräten.

„Die Grundlage für den Pilotbetrieb ist mit den gestrigen Beschlüssen weggefallen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsansicht zur Frage, wann ein Grundrechtseingriff vorliegt, grundlegend geändert.“ Der Gesetzgeber müsse nun eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für Section Control schaffen. Erst danach dürfe die Anlage wieder scharf geschaltet werden, sagt Christoph Lahmann, Stellvertreter der Landesdatenschutzbeauftragten.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 angenommen, dass kein Grundrechtseingriff vorliegt, wenn Kennzeichen zwar erhoben aber sofort wieder spurenlos gelöscht werden, sofern es zu keiner Auffälligkeit gekommen ist (sog. Nichttreffer). Nun habe das Gericht seine Rechtsansicht ausdrücklich geändert und entschieden, dass die ausnahmslose Erfassung aller Autokennzeichen zu Kontrollzwecken stets eine Datenerhebung und damit einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen darstelle.

Ohne Rechtsgrundlage ist das Verfahren verfassungswidrig

Im Fall von Section Control werden nicht nur das Kennzeichen, sondern zu Beginn des Streckenabschnitts auch weitere personenbezogene Daten wie Fahrtrichtung, Ort und Zeit von der Einfahrtskamera erfasst. Diese Daten werden gespeichert, um mithilfe der Ausfahrtskamera zu ermitteln, ob der Fahrer die Geschwindigkeit überschritten hat oder nicht. Ermittelt das System eine Geschwindigkeitsübertretung, erfasst eine dritte Kamera den Fahrzeugführer, um ein Bußgeld verhängen zu können. Lag kein Verstoß vor, werden die Daten spurenlos gelöscht.

Weil Section Control personenbezogene Daten auch bei Nichttreffern verarbeite – also wenn kein Geschwindigkeitsverstoß vorliege – sei seit gestern klar, dass Verfahren auch im Probebetrieb verfassungswidrig sei, heißt es aus der Behörde. Es brauche für den Betrieb eine Rechtsgrundlage. Das neue Polizei- und Ordnungsbehördengesetz, das derzeit im niedersächsischen Landtag beraten wird, sieht eine ausdrückliche Rechtsgrundlage in § 32 Abs. 6 für die Datenverarbeitung im Rahmen der Abschnittskontrolle zur Geschwindigkeitsüberwachung vor. Sobald das Gesetz vom Landtag verabschiedet werde, sei der Weg für Section Control wieder frei, sagen die behördlichen Datenschützer.

Der Piraten-Politiker und Datenschützer Patrick Breyer hatte unlängst angekündigt, gegen Section Control vor dem Verwaltungsgericht zu klagen.

Überwachungsstrukturen wecken Begehrlichkeiten

Die Geschwindigkeitskontrolle mittels Kennzeichenerfassung birgt in Zukunft weitere Gefahren für Bürgerrechte. Einmal eingeführte Überwachungsstrukturen wecken sehr schnell Begehrlichkeiten. Ein Blick in die Chronik der Überwachungsgesetze zeigt: Ist eine Überwachungsinfrastruktur erst einmal eingeführt, wird sie früher oder später ausgeweitet und für andere Behörden geöffnet. Stefan Brink, Landesdatenschutzbeauftragter von Baden-Württemberg, warnte zuletzt vor solch einer gefährlichen Entwicklung. Er hielt im Hinblick auf die Kontrolle der Dieselfahrverbote mit Kennzeichenscannern eine Ausweitung für so „sicher wie das Amen in der Kirche“. Das sagte der Jurist der Stuttgarter Zeitung. Das hätten etwa die Debatten um die Daten aus der LKW-Maut gezeigt. Brink warnte: „Wir haben anlassbezogen angefangen und enden in einer anlasslosen Totalüberwachung.“

Den Beweis für die These erbrachte zuletzt der Innenminister von NRW: „Ich finde auch die Frage sehr berechtigt, wenn man Kennzeichenermittlung macht, um Dieselfahrverbote zu kontrollieren, warum dann eigentlich nicht, um Kriminelle zu finden“, sagte CDU-Politiker Herbert Reul dem Deutschlandfunk.

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15 Ergänzungen

  1. „Die Geschwindigkeitskontrolle mittels Kennzeichenerfassung birgt in Zukunft für Bürgerrechte.“

    Hier scheint ein Wort zu fehlen :)

  2. Hat das Urteil eventuell auch eine juristische Strahlkraft für die „Vorbereitungsarbeiten“ für den neuen Zensus.
    Zu Testzwecken werden hier auch ALLE (Bürger Deutschlands) in eine Datenbank eingespeist, obwohl dies auch mit Testdaten oder einem geringen Anteil an Echtdaten machbar wäre.

    1. Nein, das sind unterschiedliche Fälle. Die Urteile aus Karlsruhe wirken sich nur auf den Einsatz von Kennzeichenscannern aus.

    1. Das Gängeln im Titel bezieht sich auf die Datenschutzeingriffe, nicht auf die Durchsetzung der Straßenverkehrsordnung.

      1. Ein „Gängel-Blitzer“ ist ein Blitzer der gängelt. Natürlich sind Datschutzeingriffe ärgerlich, nur läßt sich dies aus der Wortkonstruktion m.E. nicht herauslesen. Es würde mich nicht wundern, wenn der ADAC sich diesen Begriff zu eigen machen würde.

      2. Wobei die eigentliche Sachlage ja auch Recht unlustig ist!
        Ein Beispiel, es ist 100 Kmh erlaubt, man kann die Strecke aber auch mit 200 Kmh befahren, man muss eben nur eine entsprechende „Pause“ (Langsamfahrt) hinter der ersten Kamera einlegen und kurz vor der Kamera am Ausgang auf 100 Kmh Drosseln.
        Woher ich das weiß?
        Nun, ich habe kein Ticket bekommen!

        1. Welchen Vorteil hat das Schnellfahren dann noch? Die Strecke wird nicht schneller passiert als bei regelkonformer Fahrweise, nur der Spritverbrauch ist höher.

  3. Mit Wörtern wie Gängel-Blitzer nähert Ihr Euch aber gefährlich dem Sprach“niveau“ der BLÖD-Zeitung. Bis zur „Gaga-Mess-Station“ ist es nicht mehr weit. Habt Ihr eigentlich nicht nötig.

    1. „Gaga-Überwachung“ trifft es in anderen Feldern ja manchmal auch ganz gut. Zurück zum Titel hier, den eine Kollegin erfand und den ich zu verantworten habe: Es ist nicht so leicht aus „Niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte fordert Ende von Pilotversuch von kennzeichen- und abschnittsbasierter Geschwindigkeitsüberwachung“ eine griffige Überschrift zu machen, die nicht über vier Zeilen geht und bei vielen Leuten direkt die Augen zufallen lässt. Und dann hatten wir viel Freude zusammen beim Überschriften brainstormen. Alle haben natürlich gewarnt vor den boulevardesken „Gängel-Blitzern“ – und ich habe sie trotzdem genommen. Ich stehe dazu. Dennoch vielen Dank für die an verschiedenen Stellen geäußerte Kritik, die ich sehr nachvollziehen kann.

      1. Abgeblitzt: Notbremse für Kennzeichenscanner in Niedersachsen
        Bundesverfassungsgericht sagt vorerst nein zu „Section Control“
        Keine Rechtsgrundlage für Kennzeichenscan in Niedersachsen

        :)

  4. „Der“ im Untertitel genannte Datenschutzbeauftragte ist eine Frau (wie es ja auch im ersten Absatz korrekt steht): Barbara Thiel.

    Die Begründung Thiels für die Ablehnung der Section Control ist allerdings dünn. Das Bemängeln einer fehlenden gesetzlichen Grundlage könnte für die Landesregierung Ansporn sein, den eh schon verfassungrechtlich fragwürdigen Entwurf eines neuen Polizeigesetzes noch schneller durch den Landtag zu jagen.

    Die eher laue Kritik der Datenschutzbeauftragten spiegelt sich in ihrer nachlässigen Pressearbeit: der von der Behörde benannte „§ 32 Abs. 6“ ist im geplanten Gesetzentwurf wortgleich mit dem aktuell längst geltenden § 32 Abs. 5 des „Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung“. Die Pressemitteilung der Behörde Thiels teilt uns also mit: wenn dieser Absatz 6, vom Landtag verabschiedet wird, ist die Welt wieder in Ordnung — obwohl dieser Absatz unter einer anderen Nummer längst geltendes Recht ist.

    Wahrscheinlich war tatsächlich der neu geplante Absatz Nummer 8 gemeint, der die eigentliche Section Control beschreibt und diese als rechtsgültig deklarieren soll. Allein, solche Fahrigkeit macht misstrauisch. Wer schon bei Pressemitteilungen so ungenau arbeitet, wie genau liest so jemand Gesetzestexte? Oder liegt der Datenschutzbeauftragten ein neuerer Gesetzesentwurf vor als der aktuell diskutierte vom Mai 2018?

    Pikante Fußnote: der geplante Section-Control-Absatz im niedersächsischen Polizeigesetz wurde fast wortgleich aber als Absatz Nummer 6 von der rot-grünen Vorgängerregierung geplant, woran das freiheitsfoo erinnert hat: https://freiheitsfoo.de/2019/02/07/gruen-gelber-opportunismus-section-control/

  5. ich könnte mir durchaus eine datensparsame Umsetzung der Section Control vorstellen:
    Bei Einfahrt wird jedes erfasste Kennzeichen gehasht und die Daten als dazugehöriger Blob im Memory gehalten. Der Hash erhält eine Gültigkeitsdauer, die der benötigten Zeit bei maximal erlaubter Geschwindigkeit entspricht, danach wird er verworfen. Analog wird am Ende erneut ein Hash gebildet und verglichen, ob dieser (noch) im System vorliegt. Nur dann wird der Blob im Klartext weggeschrieben, die dritte Kamera ausgelöst usw., andernfalls sind die Daten ja schon weg.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.