Digitale Mündigkeit gibt es nicht umsonst: Fünf Forderungen aus der Bildungspraxis

Der so genannte „Digitalpakt“ geistert schon seit einiger Zeit durch die politischen und medialen Debatten. Insgesamt wurden 5 Milliarden Euro für die Ausstattung von Schulen versprochen, die Umsetzung bleibt allerdings unklar. Dabei wäre die Förderung von digitaler Mündigkeit und offener Bildung wichtiger denn je.

Bei der digitalen Bildung Hand anlegen CC-BY-SA 2.0 Kathrin Greiner

Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, dass die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden Euro für Bildung ausgegeben soll. Der Zeitplan ist allerdings schwer umzusetzen: Vor der „Investitionsoffensive“ muss das Grundgesetz geändert werden, um dem Bund die finanzielle Unterstützung von Kommunen überhaupt zu erlauben. Auch haben sich Bund und Länder noch nicht auf die Bedingungen der Vergabe geeinigt. Nach den Erfahrungen mit den BaföG-Geldern scheint der Bundesregierung das Vertrauen in die Länder zu fehlen: Der Bund drängt darauf, neben der Kultusministerkonferenz einen „nationalen Bildungsrat“ einzurichten, um für mehr Qualität und Vergleichbarkeit in der Bildung zu sorgen. Über dessen Zusammensetzung gibt es ebenso Streit wie über die Frage, ob die Länder den Digitalpakt aus Eigenmitteln mitfinanzieren.

Das ermüdende Schwarze-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern steht im krassen Gegensatz zu den Herausforderungen, vor denen unser Bildungssystem steht. Denn wer eine demokratische Gesellschaft will, in die sich alle einbringen können, muss digitale Mündigkeit der Lernenden als Lernziel erreichen. Darunter zu verstehen ist nicht nur eine technische Handlungskompetenz im Sinne einer Nutzung von digitalen Medien. Vielmehr geht es um die deutlich umfassendere Fähigkeit, unsere zunehmend digitalisierte Gesellschaft in ihrer Funktionsweise zu verstehen, zu hinterfragen und mitzugestalten.

Im Rahmen des ersten Forum Open Education des Bündnis freie Bildung haben wir mit Bildungsinitiativen und Lehrenden diskutiert, wie sich digitale Mündigkeit und freier Zugang für alle erreichen lässt. Diese fünf Forderungen halten wir dabei für zentral:

Mehr Geld für die Bildung

Unser Bildungssystem ist chronisch unterfinanziert. Wenn Deutschland so viel für die Bildung ausgeben würde wie die anderen EU-Mitgliedsländer im Durchschnitt, müsste es jährlich 30 Milliarden Euro mehr investieren. Vor diesem Hintergrund ist der Digitalpakt nur ein Kleckerbetrag. An den Schulen zeigt sich die Unterfinanzierung in zu großen Klassen und zu wenig Zeit. Viele Lehrende stehen regelmäßig vor einer Klasse mit 30 oder mehr Schülerinnen und Schülern. Hinzu kommen neue Herausforderungen durch Themen wie eine inklusive Bildung, die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und die Digitalisierung. Praktisch bedeutet das vielfach Überforderung. Damit gibt es keinen Raum, neue Wege zu konzipieren und zu beschreiten – beispielsweise Projektlernen oder eine offeneren Fächerstruktur. Genau das wäre aber die Voraussetzung, um Schülerinnen und Schülern digitale Mündigkeit in der oben skizzierten Form zu vermitteln.

Bessere Ausbildung und Ausbau von Weiterbildungen

Lehrende sind bei der Digitalisierung in zweifacher Hinsicht gefordert: Zum einen als Vorbild für digitale Mündigkeit, zum anderen bei der Gestaltung einer zeitgemäßen Didaktik im Unterricht. Mit der heutigen Lehramtsausbildung werden Lehrende auf keines von beiden adäquat vorbereitet. Eine Vorbildfunktion lässt sich auf dieser Grundlage nicht erfüllen. So kommt es an Schulen immer wieder vor, dass Listen mit Passwörtern offen aushängen oder dass über Daten von Schülerinnen und Schülern unverschlüsselt kommuniziert wird. Auf der anderen Seite wird die Lehrendenrolle bei der Digitalisierung vielfach nicht angenommen. So gibt es kaum eine Reflexion über didaktische Herangehensweisen. Stattdessen folgt an Schulen ein Smartphoneverbot dem nächsten. Verbieten ist einfacher als gestalten, scheint die Devise zu sein. Eine bessere Aus- und Weiterbildung von Lehrenden ist die erste Voraussetzung dafür, dass digitale Kompetenzen an den Schulen praktisch in nachahmenswerter Art und Weise vorgelebt werden. Digitalisierung sollte zuerst als pädagogische, nicht als technische Frage erkannt und aufgegriffen werden.

Technische Unterstützung vor Ort

Dort wo Technik an Schulen Einzug hält, sind Lehrende und Lernende häufig fremdbestimmt. Sie erhalten beispielsweise Tablets mit vorinstallierten Apps oder Smartboards, mit denen erst einmal niemand etwas anfangen kann. Diese Entwicklung ist die logische Folge fehlender Kompetenzen. Eine eigene Gestaltung wird sich nicht zugetraut. Konzerne und Lobbyisten haben in dieser Situation ein leichtes Spiel. Denn man greift dann lieber zu den vermeintlich einfachen, mindestens aber ‘fertig’ gelieferten Produkten. Unser Leitbild lautet dagegen digitale Souveränität. Schulen müssen ihre Technik selbst auswählen, konfigurieren und gestalten können. Diese Aufgabe kann nicht allein den Lehrenden auferlegt werden. Sie benötigen vor Ort technische Expertinnen und Experten, die die pädagogischen Bedürfnisse aufgreifen, nach technischen Lösungen dafür suchen und gemeinsam mit der Schule das Angebot aufbauen und kontinuierlich warten.

Förderprogramme für Open Source

Eng mit der Forderung nach technischer Unterstützung vor Ort verbunden ist die Forderung nach einem deutlichen Ausbau von Förderprogrammen für Open Source Software für den Bildungsbereich. Mit dem Prototype Fund ist hierzu ein guter erster Aufschlag gemacht, der fortgesetzt und ausgeweitet werden sollte. Für Open Source-Software spricht nicht nur, dass sie langfristig kostengünstiger und nachhaltiger ist. Vor allem steht dahinter auch die Frage, wer die Hoheit über die Gestaltung unserer Bildung hat. Wollen wir tatsächlich zulassen, dass nicht mehr Lehrende vorrangig Lernprozesse strukturieren, sondern Konzerne? Aktuell sind wir dazu auf dem direkten Weg. Gegensteuern ist dringend nötig.

Strategie mit Wirkung: Open by default

Freie Bildungsmaterialien (Open Educational Resources, OER) unterstützen die digitale Mündigkeit von Lernenden. Denn mit ihren Möglichkeiten zur Weiterbearbeitung und Nachnutzung regen sie Lehrende und Lernende an zu Zusammenarbeit, Austausch und Mitgestaltung. Mit dem bisherigen Förderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist eine erste Verbreitung an Schulen geglückt. Dabei darf man aber nicht stehen bleiben, sondern muss die angekündigte OER-Strategie wirkungsvoll umsetzen. Gerade die öffentliche Hand sollte ein Vorbild sein. Hier muss der Grundsatz gelten: Was öffentlich finanziert wird, muss auch offen lizenziert sein.

Vergegenwärtigt man sich die Podiumsdiskussion am Abend des Forum Open Education, dann wird mehr als deutlich, dass es bis zu der Umsetzung dieser Forderungen noch ein weiter Weg ist: Bund und Länder blockieren sich gegenseitig im Streit um die knappen Mittel und nutzen das Lernziel der digitalen Mündigkeit lediglich als rhetorische Blase, nicht aber als politischen Auftrag. Es ist ermutigend, dass trotz dieser widrigen Umständen immer mehr Lernende und Lehrende eine grundlegend andere Bildung einfordern: eine Bildung, die zeitgemäß und offen ist; Digitalisierung als Gestaltungsfrage erkennt und die Mündigkeit aller zum Ziel hat. Und nicht nur das: aller widrigen Umstände zum Trotz versuchen immer mehr Menschen im Bildungssystem auch, mindestens kleine Verbesserungen bereits selbst umzusetzen. Mit dem Bündnis freie Bildung gibt es eine zivilgesellschaftliche Initiative, die auch weiterhin – gemeinsam mit diesen immer mehr Aktiven aus der Bildungspraxis – Druck machen wird für gute Bildung und digitale Mündigkeit für alle.

Dies ist ein Gastbeitrag von Nele Hirsch und Markus Neuschäfer vom Bündnis freie Bildung. Nele ist Bildungswissenschaftlerin mit dem Fokus auf digital-unterstütztem Lehren und Lernen. Sie ist seit vielen Jahren für gute Bildung für alle aktiv – aktuell in dem von ihr gegründeten eBildungslabor. Markus leitet das Projekt edulabs bei der Open Knowledge Foundation Deutschland e.V. und setzt sich für freies Wissen und offene Bildung ein.

9 Ergänzungen

  1. Warum nur – warum?

    In dem kompletten Beitrag wird die Bezugswissenschaft – Informatik – nicht ein Mal erwähnt.
    Dabei kann Bildung – Mündigkeit – nur dadurch erreicht werden, dass auf einer soliden fachlichen Basis gearbeitet wird.

    Alle Lehrkräfte benötigen Informatik als Bestandteil der Lehrerbildung und zwar in der 1., der universitären Phase — nicht umsonst haben wir in Deutschland eine wissenschaftliche Lehrerbildung durchgesetzt und die Lehrerbildung von rezeptologischen Vorgehensweisen emanzipiert.
    Darüber hinaus benötigen wir das #PflichtfachInformatik ab der 1. Klasse der Grundschule und das #HauptfachInformatik in allen weiterführenden Schulen – #Informatik ohne Wahlfachcharakter, sondern als Grundlage für #informatischeMündigkeit. Es braucht grundlegende #informatischeAufklärung – offenbar auch für die Gastautoren ;-)

    1. Deine Ansätze sind so, als wenn die Verlage fordern würden, daß ab der ersten Klasse das Drucken gelehrt wird.
      Bildung, Mündigkeit, Aufklärung, soziale Kompetenz… sind tatsächlich äußerst wichtig. Das geht alles super ohne „Informatik“. Die ist nur ein Werkzeug und deckt nur einen kleinen Teil des Lebens ab. Selbst wenn es für dich der Nabel der Welt zu sein scheint.

      Informatik gehört dazu. Genauso wie Werken oder Musik und Sport.

    2. Informatik ist Teil der Mathematik. Digitale Mündigkeit nicht.
      Die Informatik bringt uns seit 40 Jahren Bubble Sort auf der Tafel bei.
      Die Informatik hat versagt.
      Man sollte sie als Schulfach abschaffen und durch Programmieren ersetzen.

  2. L. und K. Ihr habt beide Recht! Wobei auch ich den Wissenschaftsbezug nicht zu hoch aufhängen würde. Gerade weil ich lange in der Wissenschaft tätig war. Natürlich muss digitale Bildung auf wissenschaftlichen Grundlagen passieren. Der Seitenhieb auf die Autoren ist überflüssig, denn die haben leider die Fakten auf Ihrer Seite. Bitte steckt Eure Energie in eine der von den Autoren genannten Initiativen. Oder geht direkt an die nächste Schule in Eurer Nähe. Hier wird dringend Unterstützung gebraucht. Auf allen Ebenen!

  3. Alles zum Umfeld digitaler Bildung aber nichts zum Inhalt, zum Gegenstand des Kompetenzerwerbs, zum Fachinhalt. Hier springt schon die KMK zu kurz, verbleibt bei Mediennutzung (wie nutze ich das?) und kritischem Bewustsein (wie wirkt das?), packt Geräte drauf und fertig. Die eigentliche, die hinter allem liegende technologische Perspektive (wie funktioniert das?), die informatische Grundbildung (zu der man nicht mal Rechner benötigt), die dritte Seite des „Dagstuhl-Dreiecks“ spielt – wenn überhaupt – nur eine Nebenrolle. Dabei sind es diese Grundlagen des 1und0 (wie Schriftsprache für Deutsch und Notensprache für Musik), die einen vom User zum Maker machen, die uns enablen, aus denen Zukunft gemacht wird. Und nur wer hier Mindestverstehen und Mindestbeherrschen erreicht, wird mündig sein in der digitalen Gesellschaft.
    Mit Prof. Diethelm (neben Prof Humbert, der oben schon kommentiert hat, die deutschsprachige Topkompetenz zum Thema) und einem Ethiker haben wir eine dann preisgekrönte interdisziplinäre Arbeit geschrieben, die genau umreisst, was digitale Mündigkeit meint und was das für unser Bildungssystem bedeutet: https://richard-ralfs.de/userspace/NW/richard_ralfs/Digitale_Mu__ndigkeit_-_DIETHELM-BAUER-RALFS_-_Langfassung.pdf

  4. Ich würde sagen, das Bild verrät einem beim Betrachten, wie informiert man auf dem Gebiet ist. Ich habe vielleicht 2 Stunden in meinem Leben einen Lötkolben in der Hand gehabt, aber ich habe gelernt, dass man NICHT AUF DIE PLATINE FASST!!1! Und ein Erdungsarmband sehe ich auch nicht.
    Ich gehe davon aus, dass es kein Stockpic gibt, wo das richtig gemacht wird, soviel zum Stand der technischen/informatischen/Computerbildung.
    Oder ist das auf meiner Seite falsches/altes Wissen?

  5. Bei dem ganzen digitalen Hype werden die Schwierigkeiten, die viele, vor allem Ältere wie ich (63 Jahre) im Umgang mit PC, Handy, Kamera etc. haben, unter den Teppich gekehrt. Auch Jüngere stöhnen hinter vorgehaltener Hand. Viele müssen sich immer wieder von Freunden helfen lassen. Bei mindestens einem Viertel aller Präsentationen, die ich erlebt habe, gab es Probleme. Meine kleine Kamera hat eine Bedienungsanleitung von über 120 (!) Seiten. Ich muss immer wieder nachschauen, wie was geht. Bei manchen Problemen müssen auch meine IT-erfahrenen Kollegen passen. Ich bin froh darüber, dass ich in 2,5 Jahren in Rente gehe. Als Lehrer für Englisch und Gesellschaftslehre mit Geschichte hat bisher mein Unterricht auch ohne digtale Medien hervorragend geklappt. Mich wundert, dass dies nie in der Öffentlichkeit diskutiert wird.

    1. Das digitale ist alles andere, als Hype, sondern Realität. Die Welt verwandelt sich nach und nach in eine riesige Maschine. Mitgestalten ist die einzige Option, auch wenn ich ein schönes Englisch als ein ebenso hohes Gut einschätzen würde.

    2. Oh, das ist ja von 2018, hoppla.
      Ich hoffe, Sie kommen mittlerweile mit Ihrer kleinen Kamera zurecht, vor allem hoffe ich, dass Sie während des Lockdowns einen wie auch immer gearteten Unterricht gewährleisten konnten.
      Naja, jetzt Sind Sie wohl in Rente, ich wünsche Ihnen ein langes Leben. Am meisten hoffe ich aber, dass Sie und alle, die ähnlich digital überfordert unterwegs sind, im September nicht die entsprechend digital überforderten Parteien wählen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.