Reflektionen zur Entstehung eines Politikfeldes – von Julia Krüger (WZB). Rückblick auf die Panels zur Entstehung des Politikfeldes Netzpolitik auf der DVPW-Sektionstagung Policy Analyse & Verwaltungswissenschaft: „Entstehung und Dynamik von Politikfeldern“, 17.-18.03.14 Bremen.
Wir haben uns auf der Tagung gefragt, ob ein Politikfeld Internet entsteht und wenn ja: Warum? Wie? Und: Was genau ist das? Anders gefragt: Gibt es Netzpolitik? Warum ist Netzpolitik = Netzpolitik und nicht beispielsweise Verbraucherschutz-, Wirtschafts- oder Medienpolitik?
Tangiert sind damit Fragen wie: Welchen Vorteil hätte eine Zentralisierung von netzpolitischen Zuständigkeiten und Kompetenzen und braucht es das, damit die Themen vorankommen? Was bedeutet es für die unterschiedlichen Akteure, wenn ein Politikfeld Netzpolitik entsteht?
Ich möchte hier eine kleine Zusammenfassung interessanter Aspekte der Beiträge vorstellen.
Was ist ein Politikfeld?
Meist wird ein Politikfeld als ein Bereich abgegrenzter Regelungen und Programme (policies) begriffen, welche in den Zuständigkeitsbereich von Ministerien und Parlamentsausschüssen fallen. Irgendwie impliziert das, dass die in einem Politikfeld bearbeiteten Probleme wichtig sind, denn sonst hätte man ja kein Ministerium. Folgerichtig erscheint es unverständlich, dass wir noch kein Internetministerium haben, denn langsam sollte es doch angekommen sein, dass das Internet kein #Neuland ist. Oder?
So einfach sei das nicht, meinten Maximilian Hösl und Julia Krüger (beide WZB, Berlin). Gesetze, Ministerien und Ausschüsse seien nur die Spitze des Eisberges, das Ergebnis eines politischen Prozesses. Was liegt darunter? Um das zu analysieren, müsse man sich zunächst vergegenwärtigen, dass politische Probleme nicht einfach da sind, sondern von Menschen als solche wahrgenommen und behandelt werden. Bringt uns das Netz Datenschutzprobleme? Nein – es ermögliche allerdings allen mit entsprechenden Ressourcen (Technologie, Know-How, legale oder illegale Zugriffsrechte, etc.) ausgestatteten Akteuren eine neue Dimension der Speicherung und Auswertung digitaler Daten. Dies könne die Geltung in bestimmten Gesellschaften etablierter Normen, Werte und Rechte wie beispielsweise Privatheit vor neue Herausforderungen stellen; es entstehe die Möglichkeit für Konflikt zwischen Akteuren.
Das heißt: Um als politisches Problem betrachtet zu werden, muss ein Sachverhalt als politisches Problem, als Chance oder Bedrohung für die Verwirklichung eigener Interessen, interpretiert und definiert werden. Und diese Definition muss sich unter den relevanten politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren durchsetzen. Es brauche also zunächst ein zwischen allen relevanten Akteuren geteiltes Verständnis darüber, um was es im Feld geht (what is at stake?), wie die Beziehung zwischen den Akteuren gestaltet sind (wer relevant ist) und welche Spielregeln gelten. Es handle sich um eine Art Arena, in der verschiedene Akteure, Institutionen und Ideen – in Kooperation oder Konflikt – miteinander interagieren. Es gehe dabei um die Positionierung im Feld und die Verwirklichung eigener Interessen. Im Ergebnis würden sogenannte politische Produkte hervorgebracht, Gesetze oder Regulierungsprogramme beispielsweise oder auch einfach konkrete Problemdeutungen.
Man kann sich das Ganze auch im Sinne der Feldtheorien, ähnlich einem Magnetfeld vorstellen, so Abel Reiberg (Universität Duisburg-Essen). Ein Politikfeld bestehe demnach aus bestimmten Elementen: Politischen Akteuren und Institutionen. Diese verhielten sich ähnlich wie Magnete in einem Magnetfeld. Einerseits würden Akteure das Feld aufspannen, indem sie gemeinsame Vorstellungen entwickelten, zu welchem Thema und von wem politische Entscheidungen zu treffen seien. Andererseits wirke das Feld auf die Akteure zurück. Sie passten sich beispielsweise an, um überhaupt als „netzpolitische“ Akteure wahrgenommen zu werden oder dem „netzpolitischen Mainstream“ zu entsprechen. Interessant sei, wie die einzelnen Elemente eine Wirkung entfalten können: Nicht direkt aufeinander, sondern durch die Prägung des Feldes als Ganzem. Mit einer Analyse des politischen Geschehens gelte es dieses Ganze, das Feld zu fokussieren, auch wenn es – ähnlich wie ein Magnetfeld – dem Beobachter nur schwer, in erster Linie durch seine Wirkung, ersichtlich würde.
Ein Politikfeld entsteht!? Einflussfaktoren und Widerstände
Sebastian Haunss (Universität Bremen) und Jeanette Hofmann (WZB/ HIIG/ UdK Berlin) betonten zunächst die Bedeutung der Politisierung bei der Politikfeldentstehung: Es reiche nicht aus, die Konstellation aufeinander bezogener Probleme, Akteure, Institutionen und Maßnahmen als Politikfeld in den Blick zu nehmen, denn sonst würde die Konstellation “Vermittlung von Wissen” (Problem), “Schüler und Lehrer” (Akteure), “Schule” (Institution) und “Unterricht” (Maßnahmen) auch ein Politikfeld darstellen. Schule würde aber erst dann Schulpolitik, wenn es politische Auseinandersetzungen darum gäbe, beispielsweise um Rahmenbedingungen, Ziele oder Finanzierung, es brauche also dazu eine Politisierung.
Politisierung könne unterschiedliche Dimensionen haben. Sie könne zunächst als biographischer Prozess verstanden werden, in dessen Zuge eine Gruppe oder Generation spezifische Erfahrungen macht und darauf basierend eine bestimmte Kultur, Problemdeutungen und Werthaltungen entwickelt. Zu diesen Erfahrungen zählten beispielsweise die many-to-many Kommunikation, die Web 2.0-Interaktivität oder der Konflikt um Softwarepatente. Die quasi parteiübergreifende Ablehnung der NetzpolitikerInnen von Content Regulierung, der Ausdehnung des Urheberrechts oder Überwachung lasse auf die Entwicklung gemeinsamer Werthaltungen schließen.
Politisierung meine aber auch den (Rück-)Transport bestimmter Problemlagen in den öffentlich-politischen Raum. Die Diskussion um Softwarepatente in der EU (90er) beispielsweise wurde in einem Politisierungsprozess aus den Fachausschüssen des Europäischen Parlaments in die Fraktionen und das Plenum zurück verlagert – und dort Gegenstand der allgemeinen politischen Debatte, in der die Einführung von Softwarepatenten letztlich abgelehnt wurde. Damit wäre auch eine Umdeutung des Problems verbunden gewesen: Ein juristisches Spezialthema entwickelte sich zu einer Auseinandersetzung um Rahmenbedingungen von Innovation und die demokratische Zukunft europäischer Wissensökonomien. Dies verdeutliche eine weitere Dimension von Politisierung – die diskursive Herstellung von Kontingenz. Sachverhalte seien dann politisiert, wenn sie neue Denk- oder Handlungshorizonte eröffnen. Als selbstverständlich wahrgenommene Verfahrungsweisen oder Kausalannahmen würden diskutiert – zusammen mit Alternativen, z.B. “Löschen statt Sperren!”
Zu den Grundlagen einer Politikfeldformierung gehörten demnach Diskussionen um gute und gerechte Lösungen sowie die Produktion bindender Entscheidungen. Dem stünden allerdings auch Depolitisierungsstrategien gegenüber: Beim Versuch etablierter Akteure, für sie vorteilhafte Deutungsmuster und institutionelle Zuständigkeiten durchzusetzen, würden neue, politisierte Fragestellung zumeist in bereits existierende Politikfelder ein- und den dort etablierten und rechtlich fixierten Problemlösungen untergeordnet (Subsumption). Die Interpretation des Internets als ein Raum (potentieller) krimineller Aktivitäten beispielsweise ermögliche es, Themen wie Datenschutz und Überwachung institutionell bei Sicherheitsbehörden (Polizei und Geheimdienste) zu verorten, wodurch wiederum deren Handlungsimperative, die Aufklärung und Prävention von Verbrechen, auf das Internet übertragen würden. Gerne werde das Internet auch als ein Bereich technokratischer Regulierung definiert.
Am Beispiel geistiger Schutzrechte zeigten Haunss und Hofmann, wie es etablierten und ressourcenstarken Akteuren aus Administration und Industrie trotz vielfältiger Politisierungserfolge unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Akteure immer noch gelingt, einen wichtigen Bereich der Internet-Ökonomie technokratisch und ohne Beteiligung der Öffentlichkeit zu regulieren ( = Usurpation unter die bestehende rechtspolitische Logik des Urheber- und Patentrechts). Alternativen zur Politikfeldentwicklung lägen daher in der Ausdifferenzierung bestehender Institutionen/ Politikfelder (bei fehlender Politisierung) und der administrativ-bürokratischen Usurpation (Aneignung). Um Letzterem zu begegnen, müsse die Eigenlogik von Fragestellungen erfolgreich beansprucht und durchgesetzt werden.
Wie ist das zu verstehen?
Beispiel Netzneutralität: Ist die Frage der Netzneutralität = Netzpolitik (statt Wirtschafts- oder Infrastrukturpolitik)? Warum – weil die neutrale Übertragung von Datenpaketen Kommunikationsfreiheiten, also die Grundlage demokratischer Partizipationsprozesse betrifft? Ist Netzpolitik also Technologiepolitik, welche bürgerrechtsrelevante Dimensionen beinhaltet? Sollte sie dementsprechend behandelt werden? Das kommt auf die Definition und ihre Durchsetzung an. Hier zeigt sich abermals die Bedeutung, welche der Problemdeutung zukommt; es geht um die Anerkennung der Behauptung einer spezifischen Eigenlogik eines Problems.
Unter einer solchen Perspektive erscheint die umstrittene Aufteilung von netzpolitischen Zuständigkeiten auf verschiedene Ministerien durch die aktuelle Koalitionsregierung mitnichten als Ausdruck der geringen Bedeutung der Themen, sondern vielmehr als Ausdruck der Beharrungskraft und der Wirkung von Depolitisierungsstrategien etablierter Akteure.
Weitere Aspekte dazu brachte Simon Rinas ein (HIIG, Berlin): Er beobachtete eine gouvernementale Institutionalisierung der Netzpolitik, die allerdings nicht zu Zentralisierung führe, sondern die sukzessiv und segregiert verlaufe. An Beispielen wie Netzneutralität, Datenschutz und Urheberrechten beschrieb Rinas die diffus erscheinende und sich verändernde Kompetenzzuordnung der Issues. Unabhängig von den Hintergründen brächten diese allerdings in der Folge Pfadabhängigkeiten und Kompetenzansprüche mit sich. Das heißt, dass die einmal eingeführte Struktur eine gewisse Beständigkeit wahrscheinlich macht. Weiterhin betonte Rinas die Bedeutung von Kompetenzverwandschaften bei der Kompetenzzuordnung und die Ausprägung signifikanter Ressourcen (Steuerungswissen, inhaltliches und technisches Know-how, Anbindung in relevante Akteursnetzwerke) sowie die Nutzung von windows of opportunity und die Agenda-Setting-Kompetenz einzelner, insbesondere nicht-staatlicher Akteure.
Ausblicke auf die Entwicklung der Netzpolitik
Entwickelt sich die Netzpolitik zu einem Politikfeld? Samuel Greef (Universität Kassel) näherte sich der Frage mit einem Phasenmodell zur Entstehung von Politikfeldern, in welchem er Perzeptions-, Formierungs-, Institutionalisierungs- und Etablierungsphase unterscheidet und die Netzpolitik zwischen Institutionalisierung und Etablierung verortet. Starken Einfluss hätten dabei internationale oder europäische Regelungsbemühungen, spezifische Interessen von Akteuren und deren Organisation sowie exogene Schocks. Das der gegenwärtige Überwachungsskandal kein “Tschernobyl” darstellt bzw. als ein solches Event (zur Etablierung des Politikfeldes) politisch genutzt werden konnte, führte Samuel Greef dabei vor allem auf die mangelnde Fokussierung der Piratenpartei sowie die uneinheitlichen Perspektiven der Netzaktivisten zurück.
Unter Zuhilfenahme verschiedener Theorieansätze und Konzepte formulierte Tobias Jakobi (Georg-August-Universität Göttingen) schließlich folgende Thesen zur Netzpolitik in Deutschland: Solange die Netzpolitik kein etabliertes Politikfeld/ Subsystem bildet, würden netzpolitische Fragen in der Form serieller Politik abgearbeitet. Ein in verschiedene Subsysteme/ Politikfelder ausdifferenziertes politisches System erlaube den Akteuren, sehr unterschiedliche Themen konstant und parallel zu bearbeiten. Bei einer seriellen Problembearbeitung könnten unterschiedliche Themen auf einer politischen Autoritätsebene dagegen nur nacheinander bearbeitet werden. Dies gehe mit einem überproportionalen Einfluss externer Ereignisse einher, einer erhöhten Entscheidungsunsicherheit von Akteuren, welche nicht auf etablierte Wissensbestände, bevorzugte Lösungen etc. zurück greifen können sowie einem überproportionalen Einfluss weniger Experten.
Dies begünstige eine Tendenz zu symbolischer Politik sowie widersprüchlichen Entscheidungen, wie am Beispiel des Zugangserschwerungsgesetzes zu sehen. In einem entwickelteren Zustand würden Expertise und Gegenexpertise organisiert (dabei Inkorporierung von Aktivisten und sozialen Bewegungen), einzelne Experten und Ereignisse hätten weniger Gewicht. Möglicherweise strukturiere sich das Feld in advocacy coalitions, in jedem Fall aber sei mittelfristig die Verankerung der Netzpolitik im Parteisystem entscheidend für die Stärke und Richtung des Politikwandels. Offene Fragen ließen die Wirkung des bundesdeutschen Mehrebenensystems zurück sowie die Möglichkeiten der Demokratie übers Netz.
Fazit: „… the future’s unwritten …!“
Es besteht kein Zweifel daran, dass Fragen rund um die Entwicklung und Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien gesellschaftlich und politisch äußerst wichtig geworden sind. Das hat die Politik nicht alles verschlafen. Dafür spricht nicht nur der aktuelle Überwachungsskandal, sondern auch die Kämpfe der Akteure um netzpolitische Fragestellungen, um die Benennung der Thematik (Digitalpolitik?) … und die Verteilung von netzpolitischen Zuständigkeiten auf verschiedene Ministerien. Es wird ein Konflikt sichtbar, der nicht zwangsläufig die Entstehung eines neuen Politikfeldes mit sich bringen muss, in dem alle netzpolitischen Fragen bearbeitet werden. Je nachdem, wie sich dieser Konflikt entwickelt, könnte man es auch mit der Ausdifferenzierung der Sicherheits-, Wirtschafts- und Technologiepolitik zu tun bekommen, in welche netzpolitische Fragestellungen eingeordnet werden.
Inwiefern eine notwendige Koordinierung im letzteren Fall dann doch zu einer Politikfeldentwicklung führen könnte oder ob es am Ende einfach Sinn ergibt, von Netzpolitik zu sprechen statt beispielsweise von wirtschaftspolitisch relevanten Infrastrukturfragen, die eine grundrechtsrelevante Dimension (Netzneutralität) besitzen? Das bleibt abzuwarten, aber die Bedeutung der Problemdefinition der Akteure sollte in der Frage nicht unterschätzt werden. Aufgrund von Pfadabhängigkeiten, Kompetenzansprüchen und der Ausprägung relevanter Ressourcen kann von einer mittelfristigen Stabilität entstehender Strukturen und Akteursnetzwerke ausgegangen werden, welche durch einzelne Experten oder Ereignisse schwieriger zu erschüttern sein wird.
Jedenfalls ist die Frage danach, was Netzpolitik ist, nicht nur für WissenschaftlerInnen interessant. Ein „sozialkonstruktivistischer Blick“ unter die Oberfläche zeigt beispielsweise auf, wie verschiedene Akteure versuchen, Internetpolitik für sich zu besetzen, um ihre Interessen in einem der wichtigsten Politikbereiche der Zukunft durchzusetzen. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass auch WissenschaftlerInnen eine Rolle als Akteur haben, dass es beispielsweise von Bedeutung ist, wen sie als Akteur und was sie als Politikfeld begreifen. Deshalb schließe ich mit dem Hinweis, dass dieser Tagungsrückblick keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Mein Anspruch bestand darin, interessante Aspekte heraus und in einen Zusammenhang zu stellen und es gibt mit Sicherheit viele unberücksichtigte, interessante Aspekte mehr.
1 Ergänzungen
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.