Der Kampf für den Erhalt der Bürgerrechte war bisher vielfach genau das: bürgerlich. Es wurde argumentiert für ein liberales Grundrechtsverständnis, für Autonomie und Freiheit der privaten Kommunikationen und privater Aktionen. Nur selten, etwa aktuell beim Thema Lidl-Mitarbeiterüberwachung oder bei der Rasterfahndung unter HartzIV-Empfängern, kamen sich linke und liberale Gegner der Überwachung jenseits von Aktionen auch inhaltlich näher. Anderswo gibt es bis heute auch scharfe Debatten zwischen beiden Seiten.
Mittlerweile regt sich aber auch bei den klassischen Datenschützern ein verstärktes Nachdenken über Hintergründe und theoretische Einordnung der neuen Überwachung. Die Themen hat man ja inzwischen drauf, und was Vorratsdatenspeicherung, Passagierdaten oder die Online-Durchsuchung sind, weiß inzwischen auch der Bild- oder SZ-Leser. Sowohl im AK Vorrat als auch bei Attac gibt es daher seit kurzem Versuche, die gesellschaftlichen Hintergründe tiefer zu analysieren.
Erfreulicherweise tut sich an der akademischen Theoriefront momentan auch einiges zu diesem Thema. Die aktuelle Ausgabe von „Surveillance and Society“ beschäftigt sich im Schwerpunkt mit dem Thema „Surveillance and Inequality“. Alle Aufsätze sind online verfügbar. In Deutschland hat das neue Heft von „Forum Wissenschaft“ den Schwerpunkt „Kontrolle: Außer Kontrolle? ‚Innere Sicherheit‘: Regulierung gesellschaftlicher Brüche“. Autoren sind unter anderem Nils Zurawski, Bernd Belina, Werner Hülsmann und Volcker Eick, zu bestellen ist es hier.
Online gibt es daraus schon jetzt den lesenswerten Aufsatz von Andreas Fisahn: „Sicherheit und Eigennutz. Entwicklungen von Repression und Überwachung“, der den Wandel von Kapitalismus und Repression im Verhältnis diskutiert. Hier ein paar Auszüge:
Die unterschiedlichen Logiken oder Mechaniken von Staat und Markt führen zu einem Spannungsverhältnis, das in verschiedenen Epochen unterschiedlich aufgelöst wurde. (…) An dieser Stelle soll die Verschiebung im Spannungsverhältnis der Logiken im Übergang vom fordistischen, organisierten Kapitalismus zum neoliberalen Kapitalismus der entfesselten Märkte diskutiert werden. (…)
„Zusammen mit der Überwachung“, schreibt Foucault, „wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente.(…) Als Sinnbild für diese Form der Disziplinierung dient ihm immer wieder Benthams Konzeption eines „humanen“ Strafvollzugs. Er funktioniert über ein Panoptikum: (…) Weil [die Insassen] selbst nicht wissen, ob sie vom Wärterturm tatsächlich beobachtet werden, und annehmen müssen, dass sie es werden, verhalten sie sich „normal“ und konform, ohne dass Gewalt oder Repression gegen sie eingesetzt werden müsste und ohne dass sie tatsächlich beständig überwacht werden. Dabei bleibt die Normalität nicht äußerlich, ist kein Schauspiel, das dem Wärter vorgeführt wird, sondern schleift sich über die ununterbrochene Beobachtung in die Körper, die kleinsten Gesten, den Habitus der Zellenbewohner ein. Sie werden normalisiert zum homo oeconomicus. (…) Das Panoptikum lässt sich unschwer als Modell verstehen, das nicht nur das Gefängnis organisiert; Foucault dehnt es explizit auf Schule, Irrenanstalt usw. aus. Das Bild zielt auf die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft und die Erweiterung der Überwachungskompetenz, die informationelle Aufrüstung bekommt vor diesem Bild eine neue Bedeutung und Dimension.
Das Bild trifft aber offenbar die Gesellschaft des organisierten Kapitalismus oder die „formierte Gesellschaft“ der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, und Foucault hat mit seinen Analysen tatsächlich das Deutschland der Adenauer-Ära und Frankreich unter de Gaulle vor Augen. Der Gesellschaftskörper erscheint als normalisiert, „man“ fügt sich ein, übernimmt seine Rolle eher unauffällig, ist Teil einer großen Armee, die diszipliniert täglich ihren Weg zur Arbeit antritt und die internalisierten deutschen Sekundärtugenden Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß schätzt. (…) Die Normalisierung des Arbeitskörpers entsprach einem fordistischen Akkumulationsregime, der Massenproduktion und der Massenproduktionsstätten, der normierten Arbeitswelt und der gleichförmigen Lebenswelt. Diese Normalität lässt sich vergleichsweise leicht kontrollieren und überwachen, weil Abweichendes auffällt, heraussticht und repressiv „behandelt“ werden kann.
Im flexiblen Kapitalismus, im Kapitalismus neoliberal entfesselter Märkte wird die Lage komplizierter. (…) Der flexible Kapitalismus verschlingt die Produzenten mit Haut und Haaren, beansprucht ihren Körper und ihren Geist vollständig, braucht und verbraucht die Kreativität der Individuen, die deshalb nicht normalisiert, sondern freigesetzt und dadurch genutzt werden kann. Die homogene, normalisierte Masse der fordistischen Produktion wird individualisiert oder besser zum homo oeconomicus atomisiert und in dieser Individualität der neuen Form der Produktion untergeordnet, die die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit beständig durchbricht. (…)
Die Überwachung der Disziplin mittels des Benthamschen Panoptikums kann unter diesen Voraussetzungen nicht funktionieren. Es genügt nicht mehr der entfernte Blick auf den normalisierten, äußerlichen Ablauf der Zelleninsassinnen. Die Zellen werden verlassen, und außerhalb der Zellen gibt es keine Normalität, die äußerliche Abweichung wird zur Regel, und die Disziplin, d.h. die Einordnung in die gesellschaftliche Reproduktion muss unter Bedingungen der Differenz, der Unterschiedlichkeit der äußeren Verhaltensweisen hergestellt oder überwacht werden. (…) Der flexible Mensch funktioniert in scheinbarer Individualität und Autonomie als homo oeconomicus, der gerade in seiner scheinbaren Autonomie und Differenz der ideale Produzent ist. (…) Solange die Differenz sich innerhalb der Spielregeln bewegt, wird sie nicht nur akzeptiert, sondern geradezu gebraucht. Die Normalität ist deshalb eine solche der Differenz und der Toleranz, aber einer Art repressiver Toleranz. (…) Die Differenz wird in Grenzen toleriert, und erst hinter diesen Grenzen beginnt die Repression, die aber nur gelegentlich sichtbar wird. (…) Der Ausbau der Überwachung, die informationelle Hochrüstung ist in diesem Sinne vielleicht zu verstehen als Versuch, vor dem Hintergrund der tolerierten Differenz die Abweichung als Verletzung der Spielregeln zu erkennen – und gleichzeitig zu demonstrieren, dass die verfeinerten Methoden der Überwachung diese erkennbar machen. (…) Die Freiräume werden erkauft durch erhöhte Überwachung.
danke, endlich öffnet sich auch die netz-aktivismus/privacy schiene.
wo jedoch der ak oder attac ernsthaft hinterfragt, bleibt mir schleierhaft. magst du das kurz erläutern?
@ Name: Im AK Vorrat ist schon seit einiger Zeit eine AG „Ursachen der Überwachung“ in der Diskussion, es gibt auch schon einige Interessierte. Dort werden dann (hoffentlich) solche, aber natürlich auch ganz andere Ansätze, Überwachung in der Gesellschaft zu verorten, diskutiert werden.
Im Attac-Netzwerk hat sich gerade eine AG „Datenschutz und Überwachung“ gegründet, die sich speziell auf den Zusammenhang von Überwachung und Kapitalismus konzentrieren will.
Super!! Genau darauf habe ich gewartet!
Jetzt muss nur noch die radikale Linke(zähle mich auch dazu) mit dem sektieren aufhören, dann kriegen wir vielleicht eines Tages wirklich ein breites antikapitalistisches Bündnis zusammen.
Attac plant übrigens im kommenden Jahr einen großen Kapitalismus-Kongress…könnte spannend werden.
Nachtrag: Die Prokla (hieß früher mal „Probleme des Klassenkampfes“, sehr gute linke sozialwissenschaftliche Zeitschrift) macht auch gerade ein Sonderheft unter dem Arbeitstitel „Politik mit der inneren (Un)Sicherheit – die neuen Grenzen des Rechtsstaates“. Es wird als Nr. 3/2008 im Sommer erscheinen.
Da geht noch einiges… :-)
[…] wird der lesenswerte Aufsatz von Andreas Fisahn Sicherheit und Eigennutz. Entwicklungen von Repression und Überwachung bei netzpolitik zitiert. […]