Systemeinstellungen#05 Kriminelles Klima

Plötzlich steht die Polizei im Kinderzimmer, liest das Tagebuch einer Teenagerin, nimmt ihr Handy mit. Warum behandeln die Beamt:innen eine junge Klimaaktivistin wie eine gefährliche Kriminelle? In Episode #5 unseres Doku-Podcasts geht es um den Beginn der Augsburger Klimabewegung – und ihrer Kriminalisierung.

Cover des Podcasts Systemeinstellungen mit Megafon, das in viele Teile zerberstet. Auf giftgrünem Hintergrund.
In den Klimaprotesten gingen plötzlich viele Schüler:innen auf die Straße. Auch Janika war dabei. CC-BY-SA 4.0 netzpolitik.org / Lea Binsfeld


Mit 14 Jahren geht Janika Pondorf auf ihre erste Klima-Demo. Es ist die Zeit, als Fridays For Future und Greta Thunberg berühmt werden, als Schüler:innen auf der ganzen Welt fürs Klima streiken. Mit 15 Jahren wird Janika von der Polizei wach geklingelt. Die Beamt:innen drängen in ihr Kinderzimmer, durchwühlen ihren Kleiderschrank, lesen ihr Tagebuch. Auf der Wache muss sich Janika bis auf die Unterwäsche ausziehen. Alles wegen einer Sprühkreide-Aktion von Greenpeace. Doch bei der war Janika, so sagt sie, nicht mal dabei.

Die Hausdurchsuchung und die Repressionen bleiben nicht ohne Folgen: Janika muss in eine Klinik. Doch sie ist nicht die einzige aus Augsburg, bei der nach der Kreide-Aktion die Polizei vor der Tür steht. Die Geschichte der damaligen Teenagerin ist zugleich die Geschichte der ersten Jahre der Augsburger Klima-Bewegung. Es geht um junge Menschen, die eine globale Katastrophe verhindern wollen, und dabei zunehmend auf staatliche Widerstände stoßen.


Höre den Podcast, wo und wie es Dir gefällt:

Hier findest Du alle Folgen von „Systemeinstellungen“.

Die nächste Episode „Pimmelgate Süd“ erscheint am 14. Juni.


Host und Produktion: Serafin Dinges.
Redaktion: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz, Sebastian Meineck.
Cover-Design: Lea Binsfeld.
Titelmusik: Daniel Laufer.
Weitere Musik von Blue Dot Sessions.


Links und Infos

Was tun bei einer Hausdurchsuchung?


Manuskript zum Nachlesen

Prolog

Janika Pondorf: Hallo. Ich bin Janika. Ich bin 19 Jahre alt. Ich bin seit 2019 klimaaktivistisch aktiv und mittlerweile aber gar nicht mehr in Deutschland.

Serafin Dinges: Wir erreichen Janika Pondorf in Frankreich. Sie arbeitet dort als Aupair, nachdem sie letztes Jahr ihr Abitur gemacht hat. Eigentlich kommt sie aus Augsburg, wo die heutige Geschichte passiert ist. Janika hat ein freundliches, rundes Gesicht und Locken und trägt eine Brille mit großen, runden Gläsern. Kannst du dich ein bisschen selbst beschreiben? Was für eine Art Mensch bist du?

Janika Pondorf: Ja, ich würde sagen, ich bin ein ruhiger, aber sehr bestimmter Mensch. Und im Aktivismus war ich in der Szene eher bürgerlich und eher brav.

Serafin Dinges: Janika ist Klimaaktivistin. Mit 14 geht sie zum ersten Mal auf Demos von Fridays for Future. Und eigentlich fängt alles ganz harmlos an. Aber dann, kaum ein Jahr später, durchsuchen plötzlich Polizistinnen das Haus, in dem Janika mit ihrer Familie wohnt. Sie durchsuchen ihr Handy und ihr Tagebuch. Ich bin Serafin Dinges und ihr hört Systemeinstellungen. Ein Podcast von netzpolitik.org. Heute die erste Folge einer zweiteiligen Geschichte. Teil eins: kriminelles Klima. Ende 2018 sagt die schwedische Schülerin Greta Thunberg zum ersten Mal auf großer Bühne:

Greta Thunberg: We have run out of excuses and we are running of time. Change is coming whether you like it or not. The real power belongs to the people.

Serafin Dinges: Ihre Botschaft reißt junge Menschen auf der ganzen Welt mit. Überall gehen vor allem Schülerinnen auf die Straße, um für mehr Klimaschutz zu demonstrieren. Meistens freitags. Der Beginn der Fridays-for-Future-Demos.

Stimme: Sie werfen der deutschen Politik vor, zu wenig gegen den Klimawandel zu tun. Keine Partei habe ausreichend Maßnahmen in ihrem Programm. Und das sind Leute, die sind im Durchschnitt wahrscheinlich 50, 55 und älter. Und die entscheiden gerade über unsere Zukunft.

Stimme: Fordern Schüler und Studierende eine nachhaltigere Klimaschutzpolitik auch in Köln… Hier sind es Tausende. Viele zum ersten Mal…

Stimme: Inda’s Capital is one of a thousand cities where school children planned protests againt grown-ups in action..

Stimme: Weltweit waren Veranstaltungen an 1500 Orten… The largest Climate Protests since the start of the pandemic is taking place around the world …

Stimme: Deswegen: Jede Woche streiken wir weiter. Kommt vorbei. Ihr seid super… Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut…

Serafin Dinges: Mit dabei ist auch Janika.

Janika Pondorf: Aber es war im ersten Moment schon so, dass ich mich nicht wirklich getraut habe, weil ich dachte: Oh je, da mach ich aber ja was Verbotenes.

Serafin Dinges: Also Schule schwänzen quasi.

Janika Pondorf: Ja. Genau. Das war mir vorher auch nicht eingefallen.

Serafin Dinges: Und hast du vorher schon mal Schule geschwänzt?

Janika Pondorf: Nein, ich habe auch sonst nie die Schule geschwänzt. Also das wäre mir nicht eingefallen und das hat schon wirklich viel Überwindung für mich gekostet.

Serafin Dinges: Es ist Ihre erste Demo im Januar 2019 in Augsburg. Janika ist damals 14 Jahre alt.

Janika Pondorf: Und wir sind dann in der Pause gemeinsam losgelaufen. Wir hatten eine WhatsApp-Gruppe gegründet, quasi von den Leuten aus unserer Schule, die auf die Demo gehen wollen. Da waren mehrere 100 Leute drin und das war super aufregend. Was passiert? Werden wir einen Verweis bekommen? Wenn wir einen Verweis bekommen, wie gehen wir damit um?

Serafin Dinges: 1500 Menschen kommen laut Polizei. Der Rathausplatz von Augsburg ist gut gefüllt. Zum Vergleich: Die erste Demo in Berlin ist eine Woche später und dort kommen 5000 Leute. Dabei leben in Berlin über zehnmal so viele Menschen. Die erste Klimademo mit Schülerinnen in Augsburg war also ordentlich besucht. Und das, obwohl viele Schulen in Schwaben damals mit Konsequenzen gedroht haben. Von da an streiken in Augsburg regelmäßig Schülerinnen. Und Janika, die will nicht nur mitgehen, sondern auch mitgestalten. Sie hilft mit, die Demos zu organisieren, die Klimaforderungen zu entwickeln. Und sie findet Spaß daran, Sprüche zu skandieren.

Janika Pondorf: Vorher in der Schule war ich umso ruhiger, aber da hat man das nicht so wirklich mitbekommen. Da war ich überhaupt nicht auffällig. Und dann da, in dem Moment, wo ich das Megafon in der Hand hatte, habe ich gemerkt: Das ist mein Ding, da geh ich auf und das macht Spaß und hilft auch gegen die Angst.

Serafin Dinges: Ein Video von damals zeigt Janika mit einem Megafon auf einer Demo. Es regnet und sie steht am Rand der Menschenmenge, die an ihr vorbeizieht, und ruft ihnen zu:

Janika Pondorf: Hopp, hopp, hopp, Kohlestopp!

Serafin Dinges: Als sie merkt, dass sie gefilmt wird, lächelt sie ein bisschen schüchtern.

Janika Pondorf: Man hat gemeinsam irgendwie so eine Energie, die man da herausschreit und ruft. Und irgendwie hat sich da ganz viel Emotion zwischen den Demos angesammelt. Ganz viel Angst und ganz viel Empörung. Und auch irgendwie Hilflosigkeit. Und in dem Moment verbündet man sich und ruft das raus, was sich so lange angestaut hat.

Serafin Dinges: Was zum Beispiel? Sagt mal ein paar Lieblingssprüche. Gibt es einen, der immer geht?

Janika Pondorf: Ja, also es gibt so Sprüche, die sind zum Vor- und zum Nachrufen. Und was ich sehr gerne mag sind diese Sprüche: „1234“ und dann rufen alle „1234 „und dann „für das Klima sind wir hier“. Oder: „für euch alle sind wir hier“. Und dann“5678″ und dann „Die Kohlekraft wird platt gemacht“ und dann „neun und zehn“

Stimme: „wir wollen eine Zukunft sehn“

Beim Umweltausschuss

Serafin Dinges: Bis zum Herbst 2019 ist aus Fridays for Future eine internationale Bewegung geworden. Und nach Monaten der Proteste beginnt auch die Politik, die Schülerinnen wahrzunehmen. Im Oktober 2019 lädt der Augsburger Umweltausschuss drei Schülerinnen ein, eine Rede zu halten.

Stimme: Augsburg soll eine Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel einnehmen. Diesen Appell richteten die Mitglieder der Fridays-for-Future-Bewegung an die Stadträte im Umweltausschuss der Stadt.

Serafin Dinges: Eine dieser drei Schülerinnen ist Janika. Sie sitzt also mit 14 Jahren an einer langen Tafel vor den versammelten Politikerinnen der Augsburger Stadtregierung.

Stimme: Die Stadtpolitiker zeigten große Anerkennung für die jungen Klimaaktivisten, forderten aber auch Verständnis, dass Entscheidungen in der Politik etwas länger dauern.

Janika Pondorf: Und die Politikerinnen haben eben argumentiert als wenn wir nichts gesagt hätten. Und das fand ich in diesem Moment super frustrierend.

Serafin Dinges: Für Janika ist dieser Moment ein Bruch. Sie fühlt sich überhaupt nicht ernst genommen, ist von den gekonnten rhetorischen Antworten der Politikerinnen enttäuscht. Heute sagt sie: Sie war naiv. Sie hatte gedacht, sie müsste nur die Aufmerksamkeit der Politik auf dieses wichtige Thema lenken und dann würden Taten schon folgen.

Janika Pondorf: Und danach hat sich schon bei mir so ein bisschen die erste Welle quasi an Hoffnungslosigkeit eingestellt. Die dann so über mich gekommen ist. Und es war schon so, dass ich, dass ich mich dadurch jetzt nicht habe einschüchtern lassen oder so oder runterziehen lassen, sondern dass ich dann eben umso mehr dem entgegenwirken wollte und umso mehr Demonstrationen organisieren und noch größere Demonstrationen und dann noch mehr Leute ansprechen.

Serafin Dinges: Janika will einen Gang höher schalten, damit der Staat sie ernst nimmt. Dabei ahnt sie noch nicht, wie ernst der Staat sie bald noch nehmen wird. Es ist der 20. Mai 2020. Ein paar Wochen nach Beginn der Corona-Pandemie. Janika ist mittlerweile 15. Es ist ein halbes Jahr, nachdem sie sich im Umweltausschuss anhören musste, dass es in der Politik eben länger dauert. In Deutschland schöpfen viele Hoffnung, dass die Pandemie vielleicht doch nur ein paar Wochen dauert. Die Friseursalons öffnen wieder unter strengen Auflagen und die Bundesliga startet, wenn auch vor leeren Rängen.

Die Polizei im Haus

Janika Pondorf: Ich weiß gerade gar nicht mehr, welcher Wochentag es war, aber es war auf jeden Fall unter der Woche.

Serafin Dinges: Es ist ein Mittwoch, ganz früh am Morgen.

Janika Pondorf: Also lag ich noch im Bett und habe geschlafen. Und es hat dann geklingelt. Davon bin ich aufgewacht. Und ich dachte, es kommt vermutlich Post. Dann ist meine Mama aber sehr hektisch in mein Zimmer reingekommen und meinte, dass die Polizei da ist und dass die zu mir wollen.

Serafin Dinges: Was wusste deine Mutter, worum es geht?

Serafin Dinges: Wusstest du, worum es geht?

Janika Pondorf: Niemand von uns wusste, worum es geht. Wir waren einfach nur irgendwie in einer Schockstarre und hatten keine Ahnung, was passiert. Die Beamtinnen standen dann in meinem Zimmer und haben uns nicht gesagt, was Sache ist und haben einfach nur irgendwie gesagt, dass ich mit ihnen mitkommen soll. Ich war noch nicht angezogen, hatte noch nicht Zähne geputzt, war gerade erst vor wenigen Sekunden aufgewacht.

Serafin Dinges: Halb verschlafen und verwirrt geht sie mit der Polizei ins Wohnzimmer.

Janika Pondorf: Und dann hatten sie so einen Stapel Papiere in die Hand gedrückt und haben gesagt, dass sie eben ein Durchsuchungsbescheid haben. Und dass sie jetzt das Haus durchsuchen werden, haben aber in dem Moment auch noch nicht gesagt, worum es geht. Und dann haben wir es eben erfragt. Und dann haben sie geantwortet, dass es eben eine Aktion gab von Greenpeace, die gesprüht haben sollen.

Serafin Dinges: Von der Graffiti-Aktion durch Greenpeace hatte Janika mitbekommen. Die war im November 2018, also sechs Monate vor der Razzia, in der Fußgängerzone von Augsburg. Da hatte Greenpeace zum Black Friday Konsum-kritische Botschaften vor ein paar Geschäfte gesprüht. So was wie; „Brauchst du das wirklich?“

Janika Pondorf: Ich wusste von dieser Aktion Bescheid. Ich war ja in der Klimagerechtigkeitsbewegung vernetzt, Aber ich war bei dieser Aktion nicht dabei. Und ich wusste noch, dass damals besprochen wurde, dass es eine Aktion ist für Leute über 18 und dass es keine Sprühfarbe im klassischen Sinne sein wird, die permanent hält, sondern dass es Sprühkreide ist, die wieder abwaschbar ist.

Serafin Dinges: Vor Janika liegt jetzt also ein Durchsuchungsbeschluss, in dem steht, dass sie verdächtigt wird, bei dieser Aktion mitgemacht zu haben.

Stimme: Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt am 29.11.2019, zwischen 1:28 und 2:16 der Nacht vor dem Back Friday.. und gewollten Zusammenwirken mit mindestens fünf weiteren Personen an… Dabei entstand ein Sachschaden in Höhe von etwa 300 €… Von etwa 250 €… von etwa 412,19 €… Sachschaden in Höhe von etwa 100 €.

Serafin Dinges: Für ein gründliches Lesen fehlt Janika aber die Zeit, denn währenddessen wachen Janikas 3-jähriger Bruder und ihre 13-jährige Schwester von dem ganzen Trubel auf und kommen in das ohnehin schon volle Wohnzimmer.

Janika Pondorf: Also irgendwie. Meine Mutter wollte gleichzeitig irgendwie mit mir gemeinsam klären, was da gerade passiert ist bzw. warum die Beamtinnen da sind. Gleichzeitig wollte sie aber auch bei meinen Geschwistern sein und die irgendwie beruhigen.

Serafin Dinges: Und während Janika und ihre Mutter gleichzeitig auch noch versuchen, den Durchsuchungsbeschluss zu verstehen, holt die Polizei schon einen Grundriss des Hauses hervor.

Janika Pondorf: Um irgendwie festzustellen, ob alle Räume an der richtigen Stelle sind oder ob noch zusätzliche Räume eventuell da sind, die nicht im Grundriss vermerkt sind. Dann haben sie gleichzeitig angefangen, Fotos zu machen. Sprich in dem Moment war nicht arg viel Zeit, um wirklich zu verstehen, was Sache ist.

Serafin Dinges: Die richtige Durchsuchung beginnt dann in Janikas Kinderzimmer.

Nähte und Tagebücher

Janika Pondorf: Also zum Beispiel bei meinem Kleiderschrank haben sie alle Klamotten rausgenommen, die Nähte überprüft und dann noch irgendwas sein könnte.

Serafin Dinges: In so einem Durchsuchungsbeschluss, da steht ganz genau drin, wonach die Polizei suchen soll und darf. Bei Janika sind da zwei Punkte aufgeführt: Mobiltelefone, Smartphones und Schablonen, Farbdosen und andere Werkzeuge für die Anbringung von Graffiti. Weder Smartphones noch Farbdosen lassen sich gut in den Nähten von Kleidung verstecken. Warum also dort suchen?

Janika Pondorf: Ich nehme an, Sie haben es als Vorwand genommen. Also haben die Durchsuchung als Vorwand genommen, um nach weiteren eventuellen Straftaten oder Indizien für Straftaten. Ich nehme an, Sie haben vermutlich irgendwie Drogen gesucht. Da sind Sie bei mir aber auch an der ganz falschen Adresse gewesen.

Serafin Dinges: Wenn das stimmt, dann wäre das Verhalten der Polizei illegal gewesen. Es darf nur gesucht werden, was im Durchsuchungsbeschluss aufgelistet ist. In dem Moment hat Janika aber gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie steht im Türrahmen und laut ihrer Erinnerung stehen sieben Polizistinnen in ihrem Zimmer und stellen es auf den Kopf.

Janika Pondorf: Und ich weiß, dass meine Mama auch im Türrahmen stand und dass sie dann zu mir gesagt hat: Oh, jetzt lesen Sie gerade dein Tagebuch. Und dann habe ich, also bin ich ein Schritt ins Zimmer reingegangen und einmal geschaut, was sie da lesen und hab dann gesehen, dass es eben nicht akutelle Einträge sind oder auch nicht die von vor einem halben Jahr, sondern die aus der fünften Klasse oder so. Ähm. Und ja, das haben sie dann aber trotzdem gelesen. War schwierig in dem Moment. Also ich dachte mir, dass Sie vermutlich danach suchen, irgendwie einen Eintrag zu finden, dem ich sage, dass ich bei dieser Aktion teilgenommen habe. Den Eintrag gibt es nicht, weil ich bei der Aktion nicht teilgenommen habe und auch, weil ich in dem Moment kein Tagebuch geschrieben habe. Aber umso weniger habe ich dann verstanden, dass sie in den alten Einträgen gelesen haben.

Serafin Dinges: Schreibst du das Datum oben drauf? Auf die Seite?

Janika Pondorf: Ja. Da stand das Datum jeweils dabei.

Serafin Dinges: Janika ist 15 Jahre alt und schaut dabei zu, wie eine Polizistin in ihrem Tagebuch liest, weil sie verdächtigt wird, vor einem halben Jahr bei einer Aktion dabei gewesen zu sein, bei der ein Sachschaden von rund 1.000 € entstanden sein soll. Eine Aktion, bei der sie, wie sie beteuert, nicht dabei war. Die Staatsanwaltschaft Augsburg sagt uns auf Anfrage, man könne nicht mehr nachvollziehen, ob das Tagebuch gelesen wurde. Wenn ja, dann hätte man darin aber nur nach Schablonen gesucht. Am Ende nimmt die Polizei Janikas Handy mit.

Janika Pondorf: Da wollten sie auch das Passwort wissen. Das habe ich ihnen dann auch gesagt, obwohl ich es nicht hätte sagen müssen. Aber das haben sie mir nicht gesagt, dass ich das nicht hätte sagen müssen. Zudem war ich so naiv, dass ich dachte, ich habe ja nichts zu verstecken. Habe ich auch nicht gehabt in dem Moment. Aber trotzdem ist es einfach immer eine super intime Sache, wenn alle Leute bei der Polizei einfach mal Nachrichten lesen können. Zudem habe ich Videotagebuch mit meiner besten Freundin geführt und habe also täglich mehrfach Videos hin- und hergeschickt, wo ich meine Gedanken und Gefühle mit ihr geteilt habe. Also auch, dass solche Videos dann einfach von fremden Beamtinnen angeschaut werden können, ist schon irgendwie einfach ein sehr großer Eingriff in die Intimsphäre.

Serafin Dinges: Die Polizei durchsucht fast das gesamte Haus, Janikas Zimmer und alle gemeinsam genutzten Räume, auch den Keller. Irgendwann erklärt die eine Beamtin, dass Janika auch mit aufs Revier muss. Sie soll in einem Polizeiauto mitfahren. Ihre Mutter muss getrennt zur Wache fahren. Aber bevor sich Annika ins Auto setzt, wird sie noch mal durchsucht. Auf der Straße neben dem wartenden Polizeiauto. Es ist mittlerweile 10:00 morgens.

Janika Pondorf: Was ich in dem Moment eigentlich noch mit am unangenehmsten fand, war, dass wirklich während ich draußen- und zwar so ein dichtbewohntes Neubaugebiet, also das haben meine Nachbarn alle gesehen – also währenddessen sind auch noch Nachbarn nach Hause gekommen, also unsere direkten Nachbarn, und haben sich logischerweise gefragt, was da gerade passiert. Und in dem Moment hat eben der Polizeibeamte gesagt, dass er damit rechnet, dass ich ihn angreifen kann und dass er mich deswegen jetzt absucht. Und das war schon wirklich sehr, sehr unangenehm Und ich hatte in dem Moment gerne irgendwie meinen Nachbarn erklärt, was gerade passiert und dass das alles komplett unverhältnismäßig ist.

Wie eine Schwerverbrecherin

Serafin Dinges: Janika ist 15, eine brave Schülerin. Und dann wird sie gerade vor ihrer Haustür von einem Polizisten abgetastet. Auf unsere Nachfrage erklärt die Polizei: „Durchsuchungen können auch zum Zwecke der Eigensicherung der Polizeibeamten durchgeführt werden, beispielsweise im Zuge von Kontrollen vor der Mitnahme in einem Dienstfahrzeug. Dies ist eine übliche Maßnahme und dient der Sicherheit der Einsatzkräfte.“ Auf der Wache angekommen, wird bei Janika eine erkennungsdienstliche Behandlung durchgeführt. Die Polizei nimmt dann alle Merkmale einer Person auf, um sie leichter wiederzuerkennen, zum Beispiel bei Protesten in der Zukunft.

Janika Pondorf: Wie so Verbrecherfotos, wie man sich es eigentlich aus dem Krimi vorstellt oder wenn man so Fahndungsfotos sieht, muss man sich auf so einem Stern aufstellen und dann in alle Richtungen drehen. Und dann machen die Fotos aus verschiedenen Perspektiven.

Serafin Dinges: Dann wird Janika aufgefordert, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen.

Janika Pondorf: Und sie haben meine Haut gescannt nach irgendwelchen Auffälligkeiten wie Leberflecke, Muttermale, Piercings, Tattoos, Narben. Das alles haben sie dann, also alle Auffälligkeiten, in Ihrem Computer erfasst.

Serafin Dinges: Janika erzählt uns, wie hilflos sie sich in dem Moment fühlt. Kaum weiß, was mit ihr passiert. Bis vor ein paar Stunden war sie noch eine ganz normale Schülerin. Und jetzt wird sie plötzlich behandelt wie eine Schwerverbrecherin. Das ist ein riesiger Bruch in ihrer Einstellung zum System. Für sie, als – wie sie sich selbst beschreibt – braves Mädchen ist die Polizei bisher nur Freund und Helfer gewesen. Sie kann sich nicht erklären, was hier gerade passiert. Die Polizei kommt doch nicht ohne Grund.

Janika Pondorf: Also ich habe dann wirklich angefangen, an meiner Realität zu zweifeln und mich gefragt: Aus welchem Grund sind sie jetzt da? Weil das, was sie vorgeben, das war ich nicht dabei. Und was wollen sie dann von mir?

Serafin Dinges: Sie hat das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmt. Aber den Fehler, den sucht sie erst mal bei sich. Sie kann sich zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen, dass es vielleicht die Polizei ist, die da gerade einen Fehler macht, während die gerade das volle Programm abfährt. Hausdurchsuchung. Fahrt aufs Revier. Abtasten. Ausziehen. Fotos. Selbst wenn Janika bei der Aktion mit abwaschbarer Sprühkreide wirklich dabei gewesen wäre: Ist das alles gerechtfertigt? Ich habe mal mit 15 was an die Wand meiner Schule gesprüht. Nichts politisches. Ich dachte damals einfach, ich wäre Graffitikünstler, wollte einfach mal was Verbotenes machen. Meine Bestrafung: ich musste das Graffiti von der Wand schrubben und mich beim Reinigungspersonal entschuldigen. Zu Recht. Sorry noch mal! Mein Tagebuch wollte deshalb aber niemand lesen.

Janika Pondorf: Und ja, ansonsten glaube ich, habe ich erst im Nachhinein wirklich realisiert, was für ein tiefer Eingriff in die Privats- und Intimsphäre das ist, dass dann einfach da Beamtinnen kommen und alles im kleinsten Detail anschauen und man nichts, was noch so privat ist, irgendwie dann geheim halten kann.

Serafin Dinges: In diesen Minuten auf der Wache, an diesem ganzen Tag, da passiert was mit Janika. Etwas zerbricht in ihr. Merken wird sie das erst viel später. Wir sprechen gleich darüber, wie es mit Janika weitergeht. Aber vorher bleiben wir noch mal kurz in der Polizeiwache. Dort sitzt an diesem Tag nämlich nicht nur Janika, sondern da ist noch ein anderer Klimaaktivist. Er heißt Ingo Blechschmidt.

Topos-Theorien

Ingo Blechschmidt: Ich bin Ingo Blechschmidt. Ich bin 34 Jahre alt. Seit der vierten Klasse bin ich mit Ausnahme hier in Augsburg. Ich habe hier Mathe studiert, dann noch meine Doktorarbeit hier geschrieben.

Serafin Dinges: Ingo ist ein hagerer Typ. Brille, Wanderschuhe. Und ich glaube, er wird es mir nicht übel nehmen, wenn ich sage: Er ist durch und durch Mathe-Nerd.

Ingo Blechschmidt: Mein Forschungsgebiet ist die Topos-Theorie. Da geht es um das Studium von mathematischen Alternativuniversen, in denen nicht die üblichen Gesetze der Logik gelten, sondern leicht andere.

Serafin Dinges: Schon sein ganzes Leben lang.

Ingo Blechschmidt: Ich muss auch ganz ehrlich zugeben, ob ich da jetzt irgendwelche Beweise hinbekomme oder nicht, hat sicherlich absolut gar keine Auswirkung auf die breite Gesellschaft.

Serafin Dinges: Er sagt, er war den Großteil seines bisherigen Lebens unpolitisch.

Ingo Blechschmidt: Habe nicht mal Zeitungen gelesen oder Nachrichten geschaut. Ich war so komplett in meinem Matheding drin.

Serafin Dinges: Heute sieht er das anders.

Ingo Blechschmidt: Und wenn aufgrund der zunehmenden Erderhitzung wir hier Probleme mit unseren menschlichen Grundbedürfnissen bekommen, bin ich mir ganz sicher, dass der Job des Topos-Theoretikers einer der ersten sein wird, der wegrationalisiert wird. Und zwar völlig zu Recht.

Serafin Dinges: Als Ingo um die 30 ist, hört er zum Ersten Mal von den Friday-for-Future-Demos.

Greta Thunberg: Change is coming.

Serafin Dinges: Wie Annika ist auch er bei der ersten Demo in Augsburg dabei und sofort mitgerissen. Engagiert sich in der Organisation und meldet auch öfter mal Demos an, weil er einer der wenigen aktiven Volljährigen in der Bewegung ist. So wird er eine der öffentlich sichtbarsten Personen der Fridays-fot-Future-Bewegung in Augsburg. Und auch bei ihm steht am Morgen des 20. Mai 2020 die Polizei vor der Tür. Bei Ingo ist die Razzia um einiges schneller vorbei als bei Janika. Vielleicht, weil er älter ist? Vielleicht, weil er ein Mann ist? Vielleicht hat er einfach Glück. Trotzdem ist es für Ingo ein einschneidender Moment, der seine Sicht auf den Staat und die Polizei nachhaltig verändert.

Ingo Blechschmidt: Also ich war erstens völlig fertig mit den Nerven, weil das war ja der erste Polizeikontakt in meinem Leben. Hier spricht natürlich wieder dieses Privilegierte raus. Wenn man ja männlich ist, weiß, ein akademisches Elternhaus hat und einfach nur sein Mathe Ding durchzieht und da Doktorarbeit schreibt, dann dann wird man nur ein tolles Bild von der Polizei haben. Weil man halt nur das Bild aus Kinderbüchern kennt und nicht im echten Leben anderweitig andere Erfahrungen machen muss.

Serafin Dinges: Die Augsburger Polizei steht an diesem Tag aber nicht nur bei Anika und Ingo vor der Tür.

Kreide bei den Eltern?

Gotlind Blechschmidt: Ja. Hallo? Gotlind Blechschmidt hier.

Serafin Dinges: Bei Ingos Mutter wurde eine Hausdurchsuchung gemacht, weil Ingo noch bei ihr gemeldet ist. Sie ist promovierte Geographin, schreibt als Alpinjournalistin Texte über Berge und Wanderungen.

Gotlind Blechschmidt: Ich bin viel in Bergen unterwegs, da sehe ich seit jeher das Zurückziehen der Gletscher. Und die Sache ist extrem wichtig. Und insofern stehe ich doch im Großen und Ganzen hinter allem.

Serafin Dinges: Polizeikontakt hatte sie in dieser Form aber noch nie. Als am Tag der Durchsuchungen dann plötzlich etliche Polizistinnen vor ihrer Tür stehen, erkennt Gotlind sie zuerst gar nicht.

Gotlind Blechschmidt: Ja, ich hab hier einen Balkon, der zur Straßenseite geht. Und das ist dann so, dass ich, wenn es, wenn ich noch oben bin, im ersten Stock, wo mein Schlafzimmer ist, dass ich dann zu dem Balkon gehe und runter schaue, wer da klingelt. Und so war das auch damals und ich gehe da zum Balkon, schaue runter und da stehen dann so circa acht dunkelblau gekleidete Personen und ich habe die zuerst verwechselt. Weil am Tag zuvor, da hatte ich Handwerker im Haus und die haben gesagt, sie kommen wahrscheinlich morgen wieder und die waren auch blau angezogen. Und da dachte ich zuerst: Mein Gott, was kommen die denn so früh? Also so war das. Und dann hat sich rausgestellt, es ist die Polizei und sie haben einen Hausdurchsuchungsbefehl.

Serafin Dinges: Die Beamtinnen erklären ihr, es geht um die Sprühkreide-Aktion von Greenpeace.

Gotlind Blechschmidt: Also bei dieser Kreideaktion, da wusste ich überhaupt nicht, worum es geht. Die haben mir es aber schon irgendwie erklärt und sie müssten hier nach dieser Kreide suchen.

Serafin Dinges: Und dann ging das dann los.

Gotlind Blechschmidt: Also ich habe, dann haben sie mich gefragt, welche Zimmer denn von meinem Sohn bewohnt werden oder wo er Zutritt hat quasi. Und das waren ja dann nur ein oder zwei Zimmer. Ähm, ja und da wurde ja dann auch nichts gefunden.

Spendenaufruf

Serafin Dinges: Hallo.

Ole: Hi. Jetzt. Ich musste hier kurz meine Ohrstöpsel reinstecken.

Serafin Dinges: Hallo, Ole.

Ole: Hi.

Ole: Wobei erwische dich gerade?

Ole: Äh, tatsächlich gestalte ich mal wieder. Was in meinem Arbeitsalltag weniger vorkommt in letzter Zeit. Aber gerade ist es mal wieder so weit.

Serafin Dinges: Was ist denn eigentlich deine Rolle? Ich habe das Gefühl, dass bei fast allen Sachen bei Netzpolitik irgendwo deine Finger im Spiel.

Ole: Ja, genau. Also eigentlich angefangen habe ich mal als Grafiker, als Gestalter, weil es hieß, man braucht einen Grafiker. Aber als ich hier ankam, habe ich festgestellt, dass es andere Baustellen noch gibt oder viel größere Baustellen gibt. Und ich hab mir dann hier Aufgaben gesucht, wo ich der Meinung war, die sind zu doll liegengeblieben, nämlich zum Beispiel das Fundraising, was im Prinzip fast gar nicht stattgefunden hatte. Damals, als ich kam, und habe mich dann primär darauf konzentriert und es hat sich dann mittlerweile so verselbstständigt und verstetigt. Jetzt bin ich eigentlich der Fundraiser.

Serafin Dinges: Perfekte Überleitung, weil jetzt weil ich ruft ich natürlich an, um dich zu fragen, warum Hörerinnen denn an netzpolitik.org spenden sollten.

Ole: Weil wir einfach gute Arbeit machen. Machen wir einfach. Die ganze Zeit wühlen wir durch Gesetze, gucken uns Gesetzesanträge an, schreiben Pressemitteilungen und gehen dem Staat und den Konzernen auf die Nerven, um aus diesem Meer an schlechten Nachrichten, die auf uns einpreschen, irgendwas Gutes raus zu kriegen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen und nicht zu verzagen. Das ist eigentlich der Grund.

Serafin Dinges: Warum ist dieser unabhängige Journalismus gerade so wichtig?

Ole: Also wir hatten jetzt gerade die Thüringen, weil wir erleben einen gesellschaftlichen Rechtsruck und die Angriffe von autoritären Regimen auf Pressefreiheit nehmen einfach zu. Deutschland ist von der Pressefreiheit und im Pressefreiheit-Ranking nach unten gerutscht. Wir sehen Russland, Ungarn überall, nehmen die Angriffe auf Presse zu und umso wichtiger ist es, dass man ein Leuchtturmprojekt hat, das einfach unabhängig von Staat und Konzernen oder irgendwas recherchieren und arbeiten kann. Das ist, glaube ich, enorm wichtig in den aktuellen Zeiten. Das geht nur durch Leserfinanzierung bei uns.

Serafin Dinges: Wenn ihr diesen unabhängigen, werbefreien, einzigartigen – hab ich was vergessen? – Journalismus unterstützen wollt, dann findet ihr alle Infos unter netzpolitik.org/spenden. Vielen Dank, Ole.

Ole: Gerne. Bis bald.

Gefahr im Verzug

Serafin Dinges: Weil Ingo damals nicht bei seiner Mutter war, musste kurzfristig noch die Wohnung von seiner Freundin durchsucht werden. Auf diesem Durchsuchungsprotokoll steht deshalb Gefahr im Verzug. Das heißt, es wurde angenommen es geht eine dringende Gefahr von Ingo aus. Und für die sonst bei Durchsuchungen übliche Kontrolle durch eine Ermittlungsrichter bleibt keine Zeit. Welche Gefahr? Auf unsere Nachfrage hin heißt es: Es bestand die Gefahr eines drohenden Beweismittelverlusts. Beweise für eine Aktion, die ein halbes Jahr zuvor passiert ist. Eine Aktion, zu der sich Greenpeace Augsburg noch am selben Black Friday in einem Pressestatement bekannt hatte. Janika und Ingo waren dort nie Mitglieder.

Alexander Mai: Bei der Begründung der Polizei hieß es, dass Janika und Ingo durchsucht wurden, weil das waren die zwei, die man auf den Kameraaufnahmen identifizieren konnte.

Serafin Dinges: Das ist Alexander Mai. Ein weiteres Mitglied der Fridays-for-Future-Gruppe in Augsburg, den wir zusammen mit Ingo getroffen haben. Alexander findet es lächerlich, dass die beiden beschuldigt wurden.

Alexander Mai: Ingo hat eine sehr einzigartige Statur, sehr, sehr groß, sehr dünn. Von der Haltung her auch erkennbar. Es ist kein Diss, aber man sieht schon, dass du es bist. Von weitem. Und auch sonst Brille, auch an den Haaren erkennbar. Sowas.

Serafin Dinges: Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Ingo und Janika den Vorwurf lächerlich finden. Und zwar finden sie die konsumkritischen Botschaften dieser Sprühkreide-Aktion gar nicht mal so gut. Die beiden sind nämlich – Achtung! – Konsumkritik-kritisch.

Janika Pondorf: Konsumkritik-Kritik heißt für mich, dass wir ablehnen, alle einzelnen Personen dafür verantwortlich zu machen, wie sie sich verhalten. Also wir glauben nicht daran, dass die große Veränderung dadurch kommt, dass wir uns alle an die eigene Nase fassen und unser eigenes Verhalten hinterfragen. Weil wir erstens nicht glauben, dass es funktionieren wird, dass wir so viele Leute erreichen werden. Zum Zweiten, weil wir es nicht für sozial gerecht halten. Weil einfach verschiedene Leute verschiedene Möglichkeiten haben und oft einfach die klimafreundlicheren Möglichkeiten teurer sind.

Serafin Dinges: Janika und Ingo glauben also nicht, dass die Sprühbotschaften der Greenpeace-Aktion die Richtigen treffen. Sie wollen nicht das Kaufverhalten einzelner Menschen kritisieren, sondern sie fordern größere, systematische Veränderungen. Dass die Staatsanwaltschaft gegen Janika und Ingo ermittelt, hinterlässt also eine Menge Fragezeichen. Während des ganzen Prozesses durfte niemand auf der Seite der Beschuldigten jemals das belastende Videomaterial sehen. Greenpeace hatte Janika und Ingo solidarisch eine Anwältin gestellt, aber auch die bekam auf Nachfragen beim Gericht keinen Einblick. Uns sagt die Staatsanwaltschaft, dass das bei Videomaterial manchmal kompliziert sei, aber dass die Beschuldigten jederzeit bei der Staatsanwaltschaft vorbeikommen hätten können, um sich die belastenden Videos anzuschauen. Das sei wohl nicht passiert. Ingo jedenfalls erzählt uns, sie hätten die Videos nie gesehen. Ingo bezeichnet diesen Vorfall als den Beginn der Kriminalisierung der Klimabewegung in Augsburg.

Ingo Blechschmidt: Weil wir halt bis dato überhaupt nicht reflektiert waren bezüglich der Rolle der Polizei oder auch allgemeiner der Rolle des Staates in der Klimakrise. Wir dachten mehr oder weniger, es passt schon alles. In Deutschland läuft alles in Ordnung. Wir müssen jetzt irgendwie die Politiker darauf hinweisen, dass es die Klimakrise gibt. Sobald sie aber das dann verstanden haben, werden auch die sich ganz toll darum kümmern.

Der Beginn einer langen Entwicklung

Serafin Dinges: Er, Janika und andere in der Bewegung sehen die Hausdurchsuchung als einen klaren Einschüchterungsversuch. Sie verstehen nicht, warum sie überhaupt verdächtigt wurden. Und selbst wenn die Vorwürfe zugetroffen hätten: So ein Riesenaufgebot wegen ein bisschen Sprühkreide. Sie vermuten dahinter mehr. Und in Augsburg wurde damit eine Entwicklung losgetreten, die jetzt schon über vier Jahre andauert.

Ingo Blechschmidt: Und die Hausdurchsuchung hat uns da dann halt wirklich wachgerüttelt und verschiedene Reflexionsprozess in Gang gesetzt und so auch den Nährboden bereitet für das Klimacamp und dann für alle Aktionen, die daraus hervorgehen.

Serafin Dinges: Das Klimacamp, von dem Ingo hier spricht. Das ist der nächste Schritt in der Eskalation zwischen Stadt und Aktivistinnen.

Ingo Blechschmidt: Wäre die Hausdurchsuchung vorher nicht gewesen, weiß ich nicht, ob wir so ein Klimacamp gegründet hätten. Also der die Hausdurchsuchung war schon der Beginn von ner langen Entwicklung.

Serafin Dinges: Das Klimacamp ist eine dauerhafte Versammlung vor dem Rathaus, wo Mitglieder von Fridays-for-Future Augsburg nun schon seit Jahren demonstrieren. Darüber mehr in der nächsten Folge. Vorher aber zurück zu Janika.

Janika Pondorf: Dann dachte ich, ich habe damit abgeschlossen. Aber unterschwellig war es noch nicht weg.

Serafin Dinges: Auch Janika ist bei der Gründung des Klimacamps dabei. Die ersten Monate ist sie mitgerissen von der neuen Energie.

Nichts geht mehr

Janika Pondorf: Und dann ging’s irgendwie eine ganze Zeit lang, dass ich einfach weitergemacht habe, als wäre nichts. Und dann hat es mich eingeholt. Und dann ging auf einmal gar nichts mehr.

Serafin Dinges: Ungefähr ein Jahr nach der Hausdurchsuchung bekommt Janika plötzlich Flashbacks, wenn sie auf der Straße unterwegs ist und Polizeibeamtinnen sieht in Uniform. Dann beginnt sie zu dissoziieren.

Janika Pondorf: Dissoziiert heißt, dass ich mich quasi von der wirklichen Welt so emotional abgespalten habe, dass ich dann in der Situation erstarrt bin. Und das ist dann auch gefährlich, wenn man so draußen unterwegs ist, weil man draußen ja immer wieder Polizeibeamtinnen begegnet und wenn man das nicht kontrolliert beenden kann. Eben diese Flashbacks und Dissoziationen, da kann man eigentlich nicht alleine rausgehen.

Serafin Dinges: Wie sieht so eine Szene aus, wenn du jetzt mit Freundinnen unterwegs bist? Was sehen die und was geht gleichzeitig bei dir vor?

Janika Pondorf: Also ich habe eine ganze Zeit lang vermieden, in solche Situationen zu kommen. Das heißt, ich bin gar nicht erst rausgegangen. Aber ab dem Moment, wo ich wieder rausgegangen bin, auch mit Freundinnen, habe ich denen dann meinen Ammoniak gegeben. So ne kleine Ampulle, die, wenn man sie durchbricht, sehr, sehr stark riecht. Und die konnten sie mir dann unter die Nase halten, um mich aus einer Dissoziation wieder rauszuholen. Sprich ich bin dann mit Freunden draußen gewesen, habe Polizei gesehen, bin in dem Moment erstarrt. Meine Freundinnen haben das gemerkt und haben dann schnell reagiert, weil ich ihnen vorher das Ammoniak gegeben habe, die Ampulle zerbrochen, mir unter die Nase gehalten und dann bin ich langsam wieder in die Realität zurückgekehrt.

Serafin Dinges: So geht es einige Monate für Annika. Dann, im November 2021, eineinhalb Jahre nach der Hausdurchsuchung, kommt die Einstellung des Verfahrens.

Ingo Blechschmidt: Das Verfahren gegen mich wurde dann auch anderthalb Jahre später sang und klanglos eingestellt. Beweise wurden nie vorgelegt, Anklage wurde nie erhoben.

Serafin Dinges: Ingo und Janika bekommen einen maximal sachlichen Brief zugeschickt.

Stimme: Das Ermittlungsverfahren wird gemäß Paragraf 170, Absatz zwei Strafprozessordnung eingestellt.

Serafin Dinges: Na, dann ist ja alles geklärt. Janika geht zu dieser Zeit wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörung ein halbes Jahr lang in stationäre Behandlung. Sie ist zu dem Zeitpunkt 16 Jahre alt und entscheidet sich wegen der Behandlung, eine Jahrgangsstufe in der Schule zu wiederholen.

Janika Pondorf: Das war so dadurch, dass ich so lange stationär Therapie war und ich hätte dann, wenn ich wieder rausgekommen bin, hätte ich direkt mein Abitur gehabt. Das hat dann nicht funktioniert. Das heißt, ich bin dann freiwillig zurückgetreten und habe dann ja später Abitur gemacht.

Serafin Dinges: Heute mit 19 kann Janika gut darüber sprechen. Sie hat keine Flashbacks mehr. Dank Jahren an Therapie.

Janika Pondorf: Ja, mittlerweile kann ich es einordnen. Mittlerweile kann ich darüber sprechen, ohne dass ich währenddessen Flashbacks bekomme oder dissoziiere. Das war früher so nicht möglich. Und ich kann auch wieder alleine auf die Straße gehen. Ich habe nicht mal mehr immer Ammoniak dabei. Von daher: Also es geht mir sehr viel besser und ich kann da relativ distanziert drüber reden. Ich merk aber schon auch, dass es mir trotzdem noch nahe geht, drüber zu reden. Es ist nicht, dass es mich komplett emotional kalt lässt, aber ich kann damit umgehen.

Erst der Anfang

Serafin Dinges: In Augsburg, während Janika in Therapie ist, geht das Klimacamp weiter. Ihre Mitstreiterinnen halten die Stellung vor dem Rathaus. Jeden Tag, jede Nacht. Vier Jahre lang. Und der Konflikt zwischen Staatsschutz und Aktivistinnen, der fängt gerade erst an. Nächste Woche bei Systemeinstellungen:

Alexander Mai: Wir vertrauen der Stadt halt einfach überhaupt gar nicht, mit der Klimakrise klarzukommen. Und deswegen sind wir auch da.

Stimme: Alexander Mai glaubt, die Hausdurchsuchung hatte den Zweck, an Daten der Klimaaktivisten zu kommen. Die Polizei widerspricht.

Alexander Mai: Aber die Stadt hat uns einfach wieder verarscht, muss man ganz offen sagen, wie sie es schon oft getan hat.

Serafin Dinges: Systemeinstellungen ist eine Produktion von netzpolitik.org, dem Medium für digitale Freiheitsrechte. Host und Producer bin ich, Serafin Dinges. Redaktion: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz und Sebastian Meineck. Titelmusik von Daniel Laufer. Zusätzliche Musik von Bluedot Sessions und mir. Coverdesign: lea Binsfeld. Besonderen Dank an Lara Seemann und Lena Schäfer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, dann freuen wir uns sehr über eine gute Bewertung und wenn ihr ihn an Freundinnen weiterempfiehlt.

Serafin Dinges: Systemeinstellung ist ein Podcast von netzpolitik.org, dem Medium für digitale Freiheitsrechte. Netzpolitik.org macht mit dieser Arbeit keinen Gewinn und ist spendenfinanziert. Schon ein paar Euro im Monat helfen beim Kampf gegen Überwachung, Netzsperren und digitale Gewalt. Für Transparenz, Datenschutz und digitale Rechte. Wenn du diese Arbeit unterstützen willst, spende jetzt unter netzpolitik.org/spenden.

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4 Ergänzungen

  1. Absolut schockierend. Es scheint, als hätten die Ermittler/Staatsanwaltschaft zielgerichtet jeden möglichen realitätsfernen Gedankengang genutzt, um diese Durchsuchungen irgendwie zu rechtfertigen, völlig hemmungslos. Es scheint, als dürften die Augsburger Ermittler/Staatsanwaltschaft mit ihren Befugnissen Politik machen, wie sie möchten. Sind die Verantwortlichen in der Staatsanwaltschaft/Ermittlungsbehörde jemals irgendwie dafür zur Rechenschaft gezogen worden oder wurden sie gar dafür belohnt? Das muss doch irgendjemandem in der Judikative bitter aufstoßen!?

    Dass es politische Konsequenzen gibt, hat man wohl bewusst dadurch verhindert, dass die Hausdurchsuchungen *nach* der Kommunalwahl in Augsburg 2020 (mit starken Gewinnen für die Grünen) durchgeführt wurden. Politische Einflussnahme/Gesinnung scheint überall durch.

    Danke für den Podcast.

  2. Sowohl in dieser als auch der letzten Folge über den Fall Holm wird einem klar, wie der Handlungsspielraum der Ermittlungsbehörden seit dem Deutschen Herbst kontinuierlich ausgeweitet wurde. Es fehlt grundsätzlich an Kontrollmöglichkeiten, um freidrehende Staatsanwälte und politisch motivierte Strafverfolgungsbehörden zu rechtlich einwandfreiem Handeln zu bewegen bzw. bei Verstößen zur Rechenschaft zu ziehen.

    Wenn für eine Hausdurchsuchung bereits ein MItlaufen bei genehmigten Demonstrationen oder Veröffentlichen wissenschaftlicher Artikel ausreichend ist, kann der Artikel 13 im Grundgesetz eigentlich gleich ganz gestrichen werden, oder?

    1. > Wenn für eine Hausdurchsuchung bereits ein MItlaufen bei genehmigten Demonstrationen oder Veröffentlichen wissenschaftlicher Artikel ausreichend ist,

      WENN. Aber nur wenn das nicht nur eine Idee, sondern ein nachgewiesener Fakt ist.

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