Türkei: Tweet für den Oberkommandanten

In der Nacht des Putschversuchs entdeckt der notorische Zensierer und Internet-Feind Erdogan plötzlich seine Liebe zu den sozialen Medien. In der Krisensituation sind sie ein wichtiger Kanal für den Machterhalt.

Pro-Erdogan-Demonstration am 24. Juli. Foto: CC-BY 2.0 miketnorton

Ein Gastbeitrag von Dennis Mehmet. Er arbeitete unter anderem für den Freitag, den Spiegel, und GEO.

In den frühen Morgenstunden des 16. Juli kreiste eine Gulfstream IV über der Küste des Marmarameers, begleitet von zwei F16 Kampfflugzeugen. An Bord der Regierungsmaschine befand sich Recep Tayyip Erdogan. Der Putschversuch von Teilen der türkischen Armee war in vollem Gange. Nachdem der Staatspräsident dem Angriff der Putschisten auf sein Hotel im südtürkischen Marmaris knapp entkommen war, lauerte er in der Luft auf den richtigen Zeitpunkt zur Rückkehr nach Istanbul. Währenddessen plante er seinen Gegenschlag. Sein wohl wichtigstes Werkzeug war dabei das Internet.

Bereits aus seinem Hotel am Mittelmeer hatte sich Erdogan über eine Internetverbindung an die Bevölkerung gewandt. Fernab eines Fernsehstudios, rief der Staatschef mittels der Videotelefon-App FaceTime selbst bei den Sendern an. Auf NTV und CNNTürk hielten die Moderatorinnen ihr Handy mit Erdogans Videoanruf in die Kamera. Was zunächst als Zeichen der Schwäche gedeutet wurde – man meinte auf dem kleinen Handybildschirm einen verlorenen, beinahe verängstigten Präsidenten zu sehen – entpuppte sich bald als kommunikativer Vorteil von unschätzbarem Wert. Erdogan schaffte es noch vor den Putschisten ins Fernsehen. Es bot ihm eine erste Gelegenheit, die Bevölkerung auf die Straße zu rufen, wo sie sich dem Militär entgegenstellen sollten.

Kurz vor dem Abflug in Marmaris kam der Aufruf auf Twitter. Um 00:38 Ortszeit erfolgte der erste Tweet von Erdogans offiziellem Account, in dem er seine Anhänger aufforderte, zum Flughafen in Istanbul zu kommen, der sich unter Kontrolle der Putschisten befand. Wenig später tat es ihm die türkische Polizei unter der Verwendung populärer Anti-Putsch Hashtags gleich.

Die Sozialen Medien als „Retter in der Not“

Zeitgleich wunderten sich türkische Beobachter/innen, dass Twitter überhaupt so gut funktionierte. Die sofortige Blockade der sozialen Netzwerke gilt mittlerweile als Standardreaktion der Regierung auf jede Art von Unruhe. Tatsächlich wurde auch in der Putschnacht gegen 22.50 Uhr der Zugang zu Twitter, Facebook und YouTube von der türkischen Internetbehörde TIB behindert. Das Unternehmen Twitter bestätigte, es gebe Grund zur Annahme, dass der Dienst „absichtlich verlangsamt“ wurde. Doch rund anderthalb Stunden später funktionierte Twitter plötzlich wieder reibungslos. Wie der türkische Journalist Efe Kerem Sözeri berichtet, erhielten die türkischen Internet Service Provider um 1.35 Uhr, kurz nach den Tweets der Polizei, eine „dringende Mitteilung“ der türkischen Internetbehörde: die verordneten Sperren gegen die sozialen Netzwerke seien umgehend zurückzunehmen.

Der Internet-Feind Erdogan hatte in der Putsch-Nacht die Sozialen Medien als Retter in der Not erkannt. Während er in der Luft ausharrte und beweglich blieb, konnte er über Twitter die nötige Unterstützung mobilisieren. Zehntausende Menschen folgten seinem Ruf. In den Nachrichten liefen bald Bilder von Menschenmengen, die auf Istanbuls Straßen Panzer mit Holzstöcken verjagten. Freiwillige Helfer stürmten gemeinsam mit Polizisten Nachrichtenredaktionen, die vom Militär besetzt worden waren.

Die Putschisten gehen mit äußerster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vor. An mehreren Orten in der Türkei schießen sie mit Maschinengewehren in Menschenmengen. Nach staatlichen Angaben werden in der Nacht 173 Zivilisten getötet. Die Menschen, die Erdogans Aufruf gefolgt waren, stellen sich dem antidemokratischen Putsch mutig entgegen.

Doch schon wenige Stunden später kommt es zu brutalen Lynchaktionen. Auf der Istanbuler Bosporusbrücke wurden sechs Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, von einem aufgebrachten Mob ermordet. Ein Soldat wird lebendig von der Brücke geworfen. Einem weiteren wird die Kehle durchgeschnitten. Ein Soldat wird enthauptet. Auf Twitter kursieren teilweise Videos von den Taten. Man sieht dort auch, wie auf einen Leichnam uriniert wird. Wie Soldaten, gefesselt und in Unterwäsche auf dem Boden liegend, mit Gürteln ausgepeitscht werden.

SMS vom Präsidenten

Von der Regierung aber, erfolgt kein Versuch der Lynchstimmung Herr zu werden. Stattdessen heizt Erdogan die Stimmung weiter an. Immer wieder fordert er die Bevölkerung auf, die Straßen nicht zu verlassen. Am Nachmittag des 16. Juli erhalten sämtliche Besitzer einer türkischen Mobilfunkkarte eine SMS vom Präsidenten. „Verehrte Söhne der türkischen Nation“, heißt es darin, „ich rufe euch auf, gegen diese kleine Gruppe, die glaubt, die türkische Nation einschüchtern zu können, auf die Straße zu gehen. Schütze den Staat und das Volk! RTE“

Der von Beginn an klägliche Putschversuch ist da längst zurückgeschlagen. Eine Gefahr droht nicht mehr. Dennoch folgen Tausende dem erneuten Ruf des Präsidenten, der nun nur noch „Oberkommandant“ genannt wird, das „Volk zu schützen“. Auf den Straßen der großen Städte herrscht Pogromstimmung. Männer marschieren mit Türkei-Flaggen durch die Straßen, überall ist ihr Gebrüll zu hören: „Allah-u Akbar! Allah-u Akbar! Todesstrafe für die Verräter!“

Die Gründe für das Scheitern des Putsches sind mannigfaltig. Dennoch zeichnet sich deutlich ab, dass das Mobiltelefon in der Nacht des 15. Juli ein Gamechanger war. Selbst wenn die Putschisten die Fernsehstationen hätten halten können – gegen die Macht dezentraler digitaler Kommunikation hätten sie verloren.

In den letzten Jahren hatte sich – vor dem Hintergrund einer von Zensur und Korruption geprägten Medienlandschaft – in der Türkei ein einzigartiges Netzwerk von digitalem Ziviljournalismus gebildet. Twitter und WhatsApp-Gruppen sind mit die wichtigsten publizistischen Plattformen für Erdogan-Kritiker und Oppositionelle. Folgerichtig, aber umso bitterer, dass jetzt auch Erdogan eine späte Liebe zur digitalen Kommunikation gefunden zu haben scheint, und mit ihnen die Verrohung des gesellschaftlichen Klimas auf die Spitze treibt.

Die Ausweitung der AKP-Herrschaftsstrategie

Die Behinderung und anschließende Öffnung der Sozialen Medien durch die staatliche Internetbehörde, sowie der Missbrauch des privaten Rundfunknetzes für politische Botschaften, ist die logische Ausweitung der AKP-Herrschaftsstrategie auf das private Mobiltelefon. Seit langem nutzt die Partei ihr weitreichendes Netzwerk in Medienanstalten, der Justiz, Baubehörden, Verkehrsbetrieben und anderen privaten und staatlichen Institutionen für ihre politische Agenda.

Einer der wichtigsten Machtfaktoren der AKP ist ihre Kontrolle über die Infrastruktur, und damit die Kontrolle über Zugang, Sicht- und Hörbarkeit politischer Subjekte im öffentlichen Raum. In Istanbul lässt die Regierung etwa staatliche Großbauprojekte in den Wohngebieten politischer Gegner realisieren. Die Anwohnerschaft wird zerschlagen und an den Stadtrand vertrieben. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2014 verschwand die Werbung der Oppositionsparteien unter der Übermacht an AKP-Plakaten, mit denen die Städte von oben bis unten zugekleistert waren. Im Fernsehen hörte man kaum einen anderen Kandidaten reden als Erdogan.

Nun also bekommt auch jeder Handybesitzer SMS vom „Oberkommandanten“. Damit das „Volk“ seinem Aufruf uneingeschränkt Folge leisten kann, sind am Wochenende nach dem Putschversuch weitreichende Vorkehrungen getroffen worden. Während jede noch so kleine Demonstration gegen die politischen Ziele der Regierung mittlerweile mit sofortigen, unerbittlich brutalen Polizeimaßnahmen rechnen muss (Wasserwerfer und gepanzerte Fahrzeuge sind seit den Gezi-Protesten von 2013 an den zentralen Punkten von Istanbul und anderen großen Städten in ständiger Bereitschaft), sind die Straßen in Ankara in diesen Tagen großzügig für die Demonstranten gesperrt. Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist kostenlos. Der rote Halbmond ist da und verteilt Wasser. Die Stadtverwaltung von Ankara spendiert Zopf mit Nüssen und Rosinen.

Erdogans Konterfei leuchtet heroisch von sämtlichen LCD-Werbetafeln in der ganzen Stadt. „Unser Volk ist der Sieger“ steht darunter. Die Botschaft ist klar: Das Volk, das ist kein pluralistisches Bündnis mutiger Bürgerinnen und Bürger, die sich einem antidemokratischen Angriff des Militärs entgegenstellt haben. Das Volk sind die Untertanen des Oberkommandanten. Wer nicht hinter ihm steht, ist Putsch-Sympathisant, oder, wie es seit Tagen nur noch heißt: „Verräter“.

Waren die Feindbilder, die die AKP an die Wand malte, bisher wenigstens noch klar benannt, erst als „Vesayet“ (Bevormundung), dem Ancien Regime der Kemalisten, dann als „Gülenci“, den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen, kann ein „Verräter“ alles sein. Alles, was dem Oberkommandanten nicht passt. Nie war die Hegemonie der AKP-Ideologie erdrückender.

Hunderttausende Erdogan-Anhänger auf den Straßen

Überall in der Türkei sind auch am zweiten Abend nach dem Putsch Hunderttausende Erdogan-Anhänger auf den zentralen Plätzen der türkischen Städte zusammengekommen. Auf dem Konak-Platz in Izmir, dem Taksim-Platz in Istanbul, dem Kizilay-Platz in Ankara. Dort, wo vor ziemlich genau drei Jahren die AKP-Gegner/innen bei den Gezi-Protesten mit Tränengas beschossen wurden, ist heute alles aufgebaut für die große Erdogan-Show.

Auf dem Kizilay-Platz in Ankara ist die Stimmung von Beginn an von beispielloser Aggressivität geprägt. Im Meer der rot-weißen Halbmondflaggen weht auch des Öfteren die türkisblaue der eurasischen Pantürkisten und die grüne des Osmanischen Reiches. Angeheizt wird der Mob durch eine osmanische Folklore-Kapelle, die über zwei riesige Lautsprecher alte osmanische Kriegslieder zum besten gibt. Eines handelt von der Eroberung Istanbuls durch Fatih Sultan Mehmet im Jahr 1453. „Fatih, war so alt wie du“, heißt es darin, „als er Istanbul einnahm.“ Die Antwort aus dem Publikum: „Allah-u Akbar — die Türken kommen!“

Was sich hier versammelt, ist alles andere als eine „konservative Mittelschicht“, die angeblich das Rückgrat der AKP bildet. Es ist eine enthemmte Masse, vereint im Hass. Zehntausende brüllen die immer gleichen Sprechchöre. „Allah-u Akbar“-Rufe mischen sich mit aggressiven Forderungen nach Todesstrafen für die „Verräter“.

Nach der Kundgebung rasen die Menschen noch stundenlang in ihren Autos durch die Straßen. Während Hunderttausende so ihren „Sieg der Demokratie“ zelebrieren, sind hunderttausende Andere zuhause geblieben. All jene die in der Nacht des 15. Juli erdrückt wurden, wie jemand auf Facebook schreibt, zwischen dem Geheul der putschistischen Kampfjets und dem Gebrüll des Mobs.

Dieser Artikel steht unter der Creative Commons Lizenz CC-BY-NC-ND und wurde zuerst auf boell.de veröffentlicht.

6 Ergänzungen

  1. Insgesamt (fast) gelungener Artikel, jedoch mit einigen wichtigen Fehlinformationen.

    – Das einzige was vom „Bosporus-Lynch Mob“ übrig geblieben ist, sind die Schläge mit dem Gürtel.
    Niemandem ist die Kehle durchgeschnitten worden. Niemand ist enthauptet, niemand ist von der Brücke runtergeworfen worden.
    (Das mit dem urinieren, kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber dazu habe ich keine Belege oder Gegenbeweise, so dass ich das nicht verneine)

    – Dass das Volk nach so einer Nacht, nach der Todesstrafe lechzt, ist meiner Meinung nach absolut verständlich und nachvollziehbar.
    Oder wie würden sie reagieren, wenn in so einer Nacht ihre liebsten von Panzern zerquetscht, von F16 Kampfflugzeugen bombardiert oder von Kampfhubschraubern erschossen wurden?
    Welche Vergeltung, welches Recht würden sie verlangen, wenn ihr Vater, ihr Sohn oder ihre Lebensgefährtin unter den Opfern wäre?

    – Es sind nicht Hunderttausende, sondern in der gesamten Türkei, insgesamt Millionen, die hinter dem Staat und seinem legitimen, gewählten Präsidenten Erdogan, oder anders ausgedrückt „Oberkommandanten“, stehen. Ein „Mob“ ist es auf jedenfall nicht. Vielleicht sieht dies einer so, der das Misslingen des Putsches bedauert?

    Mfg

    1. Vielen Dank, dass sie ihre Einstellung so deutlich formulieren. Das macht es leichter sich von ihnen zu distanzieren.

      Deutsch-Türken mit gefestigter AKP oder Gülen Zugehörigkeit werden zunehmend zu einer Belastung hier in Deutschland, weil sie hier nicht minder aktiv sind wie in der Türkei selbst.

      Leider ist den meisten deutschen Türkei-Urlaubern nicht klar, dass sie mit ihren Devisen genau diese Gruppierungen ernähren.

      1. Man muss kein Erdogan-Fan sein, um das Misslingen des Putschs zu begrüßen. Deshalb sind von Anfang auch viele Vertreter der Opposition auf die Straße gegangen und deren Parteiführer haben sich klar hinter die Regierung gestellt. Sie wissen lieber eine eingeschränkte Demokratie unter Erdogan als gar keine, statt dessen womöglich noch mehr Chaos und Unsicherheit in der Türkei, die u.a. der IS hätte ausnützen können.

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