Nachruf Gerhart BaumDatenschützer aus Überzeugung

Gerhart Baum kämpfte wie kaum ein anderer gegen Staatstrojaner und Vorratsdatenspeicherung. Er warnte seit vielen Jahren vor den Gefahren digitaler Überwachung: Der ehemalige liberale Innenminister und Verteidiger der Bürgerrechte ist gestern gestorben.

Mann mit Brille und Mikrofon in der Hand
Gerhart Baum im Jahr 2019 beim 15. Geburtstag von netzpolitik.org auf der „Das ist Netzpolitik!“-Konferenz in der Berliner Volksbühne. CC-BY-SA 4.0 Jason Krüger

Erst diese Woche sah ich Gerhart Baum auf der Leinwand in einem Kinofilm zu dem Thema, das er in Deutschland so prägte wie es ihn prägte: heimliche Überwachung mit technischen Mitteln. Es war der Dokumentarfilm Watching You über den Überwachungskonzern Palantir, der in Berlin gezeigt und diskutiert wurde.

Baum erklärte darin die Anfänge der elektronischen Rasterfahndung in Deutschland und die Rolle des damaligen BKA-Präsidenten Horst Herold. Schon weit über achtzig Jahre war der ehemalige Spitzenpolitiker und Jurist bei diesem Gespräch im Palantir-Film, aber er berichtete mühelos über lange zurückliegende Details aus den Siebzigern. Er war ein Zeitzeuge des jahrzehntelangen Anwachsens der digitalen Überwachungswünsche – aber mitnichten ein passiver Zuschauer.

Gestern ist der ehemalige FDP-Innenminister, Sozialliberale, Rechtsanwalt und langjährige Kämpfer gegen überbordende Überwachung im Alter von 92 Jahren gestorben.

Der „erste Pirat der FDP“

Wenn jemand stirbt, denkt man unwillkürlich an gemeinsame Begebenheiten zurück und an Ereignisse, die in Erinnerung bleiben werden. Frank Schirrmacher nannte ihn in Anlehnung an die Piratenpartei den „ersten Piraten der FDP“, weil er sich intensiv mit digitalen Fragen auseinandersetzte. Baum war erst aktiver Politiker und dann jahrzehntelang das Gesicht der Liberalen alter Schule. Eingebrannt hat sich bei mir vor allem sein entschlossener Kampf gegen neue Formen technisierter Überwachung – oft gemeinsam mit Burkhard Hirsch – und als juristischer Vertreter von Beschwerdeführern in Karlsruhe.

Er war ein Datenschützer aus Überzeugung. Als ich ihn das erste Mal traf, trug er die damals obligatorische schwarze Robe und schickte sich in Karlsruhe an, die erste gesetzliche Regelung zum Einsatz eines staatlichen Hacking-Werkzeugs juristisch anzugreifen.

Er hatte Erfolg, das erste Staatstrojaner-Gesetz war verfassungswidrig. Aber das war noch nicht der eigentliche Paukenschlag des Urteils.

Nicht viele Juristen in Deutschland können von sich sagen, dass sie ein Grundrecht mit aus der Taufe gehoben haben: Das Bundesverfassungsgericht hatte nach diesem ersten Beschwerdeverfahren gegen Staatstrojaner zur Überraschung vieler im Urteil 2008 das neue Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme verkündet. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht und damalige Berichterstatter Wolfgang Hoffmann-Riem ist der Kopf hinter dem Grundrecht. Baum aber war derjenige, der danach versuchte, dem Grundrecht Leben einzuhauchen und es der Öffentlichkeit nahezulegen.

Fast siebzehn Jahre sind seit dem Staatstrojaner-Urteil mit dem neuen Grundrecht vergangen, aber zufrieden mit den Auswirkungen war Baum danach nie. Bei jeder Gelegenheit pochte er darauf, dass es mehr zu beachten sei. Unermüdlich.

Gefahren des Staatstrojaners

Dass Ermittler mit Hilfe eines Staatstrojaners heimlich ein informationstechnisches System hacken und vollständig ausspionieren dürfen, hielt er für falsch. Nicht nur deswegen, weil sie damit in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eindringen und sich ein umfassendes Bild über die Persönlichkeit des Betroffenen und auch weiterer Dritter machen können, sondern weil es auf mehreren Ebenen gefährlich ist.

Die Tatsache, dass dem staatlichen Hacken durch das Urteil letztlich nicht Einhalt geboten wurde, empörte ihn. Als die Große Koalition aus Union und SPD die Einsatzbefugnisse dieses höchst intensiven Grundrechtseingriffs nochmal weiter dehnte, verärgerte ihn auch die Beratungsresistenz der Verantwortlichen: „Der Staatstrojaner ist das schlimmste Beispiel für ein Gesetzgebungsverfahren, das sich über jeglichen sachverständlichen Einwand hinweggesetzt hat – und geradezu zynisch“, sagte Baum damals im netzpolitik.org-Podcast.

Über die langfristigen Folgen des staatlichen Hackens für die IT-Sicherheit hatten wir eindringliche Gespräche. Einmal schlug er mir – nur halb im Scherz – vor, seinen eigenen Herzschrittmacher als Testobjekt des Hackens auszuwählen, um diese Gefahren für Leib und Leben zu verdeutlichen. Schließlich sei das programmierbare Gerät unzweifelhaft ein informationstechnisches System. Mit Verweis auf die Hackerethik verwarfen wir die Idee.

„Ich befürchte, wenn wir hier die Tür öffnen, bekommen wir eine ungeheure Dynamik“, sagte Baum im Spiegel-Interview schon 2007 über Staatstrojaner. Er sollte leider Recht behalten: Mittlerweile hat sich eine ganze Branche gebildet, die staatlichen Behörden solche Staatstrojaner anbietet und von einem Missbrauchsskandal in den nächsten schlittert.

Überwachungsdiskussionen im Bordbistro

Politisch wichtiger als das neue Computer-Grundrecht dürfte aber der Erfolg gegen die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten gewesen sein, an dem er in Karlsruhe wiederum als Vertreter von Beschwerdeführern mitwirkte. Er half, diesen Eingriff in die Privatsphäre von Millionen Menschen zu verhindern. Er prägte aber auch die damals mehrjährige öffentliche Debatte um diese erste gesetzliche Regelung für eine anlasslose Massenüberwachung. Ihn besorgte die Zunahme von immer weitgreifenderen technischen Überwachungsplänen, die sich Bahn brach.

Wenn ein Urteil gesprochen war und ein Gesetz gekippt, saßen wir manchmal zusammen auf der Rückreise noch im ICE-Bistro. Wir beugten uns über den Stapel Papier und diskutierten über Passagen darin. Seine Analyse war dabei nie nur juristisch, sondern immer auch politisch.

Es existierte um die Bürgerrechtler Baum und Hirsch herum ein ganzer Kreis von entschlossenen, meist politisch liberalen Verteidigern der informationellen Selbstbestimmung. Sie setzten publizistisch, vor allem aber juristisch den in der Folge des 11. Septembers um sich greifenden Überwachungsplänen vielschichtige Argumente und strategische Gerichtsverfahren entgegen. Auch das BKA-Gesetz mit seinen weitgehenden Überwachungsbefugnissen brachte der Kreis um Baum in Karlsruhe zu Fall.

Baum war Hauptprotagonist und das bekannteste Gesicht dieser Runde, ein ehemaliger Innenminister, der sich jahrzehntelang gegen überbordende Sicherheitsgesetze stemmte. Er wurde bis ins hohe Alter nie müde, auf die Gefahren technisierter Überwachung hinzuweisen, die Verhältnismäßigkeit anzumahnen und den Datenschutz als Grundwert unseres digitalen Zusammenlebens hochzuhalten. Und er wusste seine Überzeugungen beim Bundesverfassungsgericht auch durchzusetzen.

Er wird allen fehlen, die sich für die informationelle Selbstbestimmung einsetzen. Aber auch der ehemaligen liberalen Bürgerrechtspartei FDP fehlt nun ein Standbein.

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8 Ergänzungen

  1. Danke für den Nachruf, den man besser nicht hätte abschließen können: „Aber auch der ehemaligen liberalen Bürgerrechtspartei FDP fehlt nun ein Standbein.“

  2. „Er wird allen fehlen, die sich für die informationelle Selbstbestimmung einsetzen.“

    Absolut, und er hat als Innenminister demonstriert, wie man die Werte der Verfassung schützt. Alle seine Nachfolger haben daran gemessen versagt.

    „Aber auch der ehemaligen liberalen Bürgerrechtspartei FDP fehlt nun ein Standbein.“

    Nicht mit der heutigen FDP gebrochen zu haben sehe ich als seinen Schwachpunkt, da hat privilegierte Bürgerlichkeit über Konsequenz gesiegt.

  3. > Aber auch der ehemaligen liberalen Bürgerrechtspartei FDP fehlt nun ein Standbein.

    Nein, die FDP der neoliberalen „jungen Wilden“ wollte schon lange nichts mehr mit dem honorigen Freiburger Kreis der (alten) FDP zu tun haben.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Freiburger_Kreis_(Forum)

    Diese respektablen Persönlichkeiten teilten Werte, die es in der heutigen FDP nicht mehr gibt.
    Gerhard Baum bleibt es nun erspart, als „Standbein“ für eine potemkinsche freundlich-liberale Kulisse herhalten zu müssen, hinter der die Kettensägen versteckt werden.

  4. Tja, das waren noch Politiker denen Bürgerrechte am Herzen lagen. Diese Generation, die durch den schrecklichen 2.WK, die autoritäre Menschenfeindliche Herrschaft der Braunen aufgrüttelt war, hatten sich bewusst für ein freiheitliches Land mit Menschen und Bürgerrechten eingesetzt hatten.
    Heute regiert nur noch Egoismus und (Hab) Gier.
    Die Menschheit vergisst leider zu schnell. Die FDP ist nicht mehr liberal. Sondern lebt den Neoliberalismus. Wo Konzerne zuviel Macht, Geld haben und die Politik in Griff.

  5. Eines meiner großen politischen Vorbilder ist gegangen. Vor Gerhart Baum muss jeder seinen Hut ziehen, dem Demokratie, Menschlichkeit und echte Freiheit etwas bedeuten. Leider werden es derer immer weniger, und ein so leuchtendes Beispiel, einen so unermüdlichen Kämpfer für die genannten Werte findet man nicht nur in der FDP nicht mehr, sondern auch und erst recht nicht in der gesamten Politik. Diese Tatsache lässt seinen Tod umso schmerzhafter erscheinen.

    Die kommende Zeit wie auch die politische Landschaft wird ohne ihn noch düsterer, als sie es ohnehin schon ist.

    Möge Gerhart Baum nun in Frieden ruhen – Deutschland hat ihm sehr viel zu verdanken!

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